Das christliche Menschenbild: 4. Der Verfall des christlichen Menschenbilds

Quelle: Distrikt Deutschland

Das christliche Menschenbild war das ganze Mittelalter hindurch überall in Europa grundsätzlich anerkannt. Das begann sich erst im 15. Jh. mit der Renaissance zu ändern. Während man damals anfing, die Natur des Menschen zu verherrlichen, versucht der Mensch heute, sogar seine Natur zu verleugnen und willkürlich umzugestalten.

Der Naturalismus

Die Renaissance (der Name bedeutet Wiedergeburt) bemühte sich um die Wiedergewinnung der Reichtümer der antiken heidnischen Kulturen, besonders der griechisch-römischen Kultur und Kunst. Das führte zu einer übertriebenen Verherrlichung des natürlichen Menschen, der Natur und der natürlichen Kräfte. Die Gefallenheit und Schwäche der menschlichen Natur durch die Erbsünde, die Notwendigkeit der Gnade und überhaupt die Berufung des Menschen zur übernatürlichen Ordnung wurden zwar nicht unbedingt geleugnet, traten aber in den Hintergrund. Es gab grundsätzlich zwei Richtungen in der Renaissance: Einige Vertreter neigten wirklich zum Neuheidentum, wohingegen andere fest auf dem Boden des Christentums standen. Die Renaissance hatte darum auch einige gute Folgen: Im Mittelalter hatte im Abendland kaum jemand Griechisch oder Hebräisch gekonnt, die Ursprachen der Heiligen Schrift. Nun studierte man diese alten Sprachen wieder, was für die Exegese und Patristik einen Aufschwung bedeutete.

Aber die Renaissance machte sich in ihren neuheidnischen Vertretern Illusionen. Den rein natürlich edlen Menschen, den sie verherrlichte, gibt es nicht. Der Mensch ist gefallen und bedarf der Erlösung durch Christus, um sich aus seinem Elend zu erheben. Selbst für die vollkommene Erfüllung der natürlichen Sittlichkeit bedarf es, wie wir gesehen haben, der heilenden Gnade (gratia sanans). Nichtchristliche Denker und Dichter können zwar oft schöne Worte von edlem Menschentum, einem Leben nach der Vernunft usw. machen, aber ohne die Gnade hat der Mensch gar nicht die Kraft, dies konsequent in die Tat umzusetzen.

Der Protestantismus zerstörte dann die Harmonie von Natur und Gnade. Der alte Protestantismus betonte sehr einseitig die totale Verderbtheit der menschlichen Natur aufgrund des Sündenfalls. Der Mensch sei aus sich zu nichts Gutem mehr fähig, alle seine Werke seien Sünde. Davon gebe es keine wirkliche Erlösung, denn der Mensch bleibe immer Sünder, lehrte Luther, er werde nicht wahrhaft gerechtfertigt, sondern Gott decke seine Sünden nur mit dem Mantel der Gerechtigkeit Christi zu. Dies bewirke allein ein Akt des Fiduzialglaubens, d. h. des Vertrauens, dass Gott mir in Christus meine Sünden nicht mehr anrechne. Die Taufe ist darum im Protestantismus im Grunde überflüssig, es gibt nicht mehr die wunderbare Verbindung von Natur und Übernatur wie in der katholischen Lehre, wo die Natur durch die Übernatur erhoben und veredelt wird, die natürlichen Elemente (z. B. bei den Sakramenten) Träger der Gnade sind usw. Dies hat sogar Goethe gesehen, der schrieb: „Der Protestant hat zu wenig Sakramente, ja er hat nur eins, bei dem er sich tätig erweist, das Abendmahl; denn die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen … Die Sakramente sind das Höchste der Religion, das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen Gunst und Gnade.“[1] Er beschreibt dann, wie beim Katholiken das ganze Leben und alle wichtigen Lebensstationen in die Sakramente und die priesterliche Vermittlung der Gnade eingebettet sind, was dem Protestanten fehlt.

Der protestantische Glaube hatte nicht mehr die Kraft, das Leben des Menschen zu durchdringen. Zumindest praktisch sanken viele Menschen dadurch auf den natürlichen Bereich ab. Luther selbst beklagte schon, dass die meisten Protestanten ganz im Genuss des Diesseits aufgingen und nur nach irdischen Gütern trachteten. Als Gewissensberuhigung hatten sie ja seine Lehre, dass der Glaube allein genüge.

In seiner Auslegung des 5. Buchs Mose schrieb Luther, seine Evangelischen seien jetzt siebenmal ärger, als sie zuvor unter dem Papsttum gewesen waren. Er warf den Deutschen Undank gegen ihn, ihren größten Wohltäter, und das Evangelium vor. Das von ihm reformierte Sachsen nannte er das verworfenste Land. Die in Wittenberg herrschende Zügellosigkeit empörte ihn so sehr, dass er im Sommer 1545 seiner Käthe schrieb: „Nur weg aus diesem Sodoma! Ich will umherschweifen und eher das Bettelbrot essen, ehe ich meine armen, alten, letzten Tage mit dem unordigen Wesen zu Wittenberg martern und verunruhigen will mit Verlust meiner sauren, teuren Arbeit.“

Renaissance und Protestantismus hatten die übernatürliche Ordnung und die Hinordnung des Menschen auf Gott nicht geleugnet, sondern nur in den Hintergrund treten lassen. Die Leugnung der übernatürlichen Ordnung erfolgte dann aber durch die Philosophen der Aufklärung. Gott wurde zwar (meistens) nicht geleugnet, wohl aber sein Einfluss auf die Welt (Deismus). Die Theologen der Aufklärung sahen in Christus nur einen vollkommenen Menschen und Lehrer der Humanität; der Gottesdienst sollte der Belehrung und Erziehung der Menschen zu sittlich guten Bürgern dienen. In Lessings Ringparabel (Nathan der Weise) wird der Leser bzw. Zuschauer belehrt, dass niemand wisse, welche Religion die wahre sei. Die Anhänger der Religion sollten durch ihr gutes und humanitäres Verhalten beweisen, dass ihre Religion die rechte sei. Es ist die Zeit des Rationalismus, der nur die natürliche Vernunft, aber nicht die Offenbarung anerkennen will.

Immanuel Kant (1724-1804) leugnete dann auch die Möglichkeit der menschlichen Vernunft, die Existenz Gottes zu erkennen. Die Philosophie bleibt seit Kant in ihrem Denken gefangen und meint, nicht mehr zur Wirklichkeit vorstoßen zu können. Die Religion wird damit etwas Irrationales.

Der Abschied von der Natur

Bis ins 20. Jahrhundert wurde wenigstens die Ordnung der Natur meist mehr oder weniger akzeptiert: Der Mensch wird als Mann oder Frau geboren, die Sexualität ist grundsätzlich auf die Erzeugung von Nachkommenschaft hingeordnet, der Mensch ist Mensch von Anfang an, die Abtreibung darum verwerflich.

Erst in unseren Tagen hat die Überzeugung bei den Massen Anhang gefunden, dass der Mensch sich noch nicht einmal von den Bestimmungen der Natur festlegen lassen sollte. Das steht oft in einem merkwürdigen Widerspruch zur Haltung der übrigen Natur gegenüber: In diese soll möglichst wenig eingegriffen werden, Tiere müssen artgerecht gehalten werden usw.

Papst Benedikt XVI. sagte darum in seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag:

Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muss und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat.

Dagegen behauptet die Gender-Ideologie, Mann und Frau seien – abgesehen von den Geschlechtsorganen – völlig gleich und darum im gesellschaftlichen Leben auswechselbar. Typische Männer- oder Frauenberufe dürfe es nicht geben. Nur durch die Erziehung von klein auf werde man in die Geschlechterrollen gedrängt. Bekannt ist das Wort der Simone de Beauvoir: „Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird dazu gemacht.“ Man möchte also nicht akzeptieren, dass dem Menschen durch die Natur und damit letztlich von Gott etwas vorgegeben ist. Jeder soll dagegen willkürlich aus seinem Leben machen können, was er will. Natürlich ist das illusorisch, denn wir sind nicht nur durch unser Geschlecht geprägt, sondern auch durch unsere Begabungen oder Nicht-Begabungen, durch die Erziehung und vieles andere.

Der Mensch soll seine Natur sogar ungestraft vergewaltigen dürfen, indem er z. B. versucht, aus einer Frau einen Mann zu machen und umgekehrt. Das klappt natürlich nicht. Es bleiben Männer bzw. Frauen, die verstümmelt wurden und ständig Hormone einnehmen müssen, um die eigenen Geschlechtsmerkmale zu unterdrücken und die des anderen Geschlechts auszubilden. Besonders schlimm ist, wenn schon Jugendliche umoperiert werden.

Wenn man heute propagiert, eine Familie können genauso gut von zwei Männern oder zwei Frauen gegründet werden, so ist das durch keinerlei Studien gedeckt. Die meisten Homosexuellen wünschen gar keine feste Verbindung, sondern haben einen hohen Partnerwechsel. Eine Studie fand kein homosexuelles Paar, das sich länger als fünf Jahre treu geblieben war. Die Homosexuellen definieren „Treue“ deshalb oft anders, nämlich als soziale und nicht als sexuelle Treue.

Der Transhumanismus

Heute will man nun noch einen Schritt weitergehen und mit Hilfe der modernen Technik einen neuen Menschen schaffen. Der nächste Evolutionssprung soll künstlich herbeigeführt werden. Man meint, so den Menschen verbessern zu können.

Das menschliche Gehirn wird dabei oft wie ein Computer betrachtet. Man träumt sogar davon, den Geist eines Menschen einmal auf einen Computer übertragen zu können, indem man sein Hirn scannt. Dadurch würde man dann unsterblich werden. Man müsste auch nichts mehr lernen, sondern könnte dem Gehirn Informationen einfach einspeisen wie bei einem Computer. Aber das ist ganz unsinnig. Das Gehirn arbeitet ganz anders als ein Computer. Es ist kein Rechner, sondern verarbeitet neu erlernte Sachverhalte durch neu gebildete Synapsen. Außerdem leugnet man den Geist, mit dem unser Gehirn verbunden ist.

Die sogenannte künstliche Intelligenz hat zwar erstaunliche Fortschritte gemacht, aber man darf sich nicht täuschen: Diese Computer haben weder ein Bewusstsein noch so etwas wie Geist. Die neuesten Schachcomputer können zwar einen Weltmeister besiegen, aber sie wissen nicht, dass sie Schach spielen. Sie wenden blind die Regeln an, die man ihnen eingegeben hat, und da sie Tausende von Möglichkeiten in Sekundenschnelle durchrechnen können, sind sie hier dem Menschen überlegen. Aber sie haben kein Bewusstsein, keine Einsicht und auch keine Kreativität.

Der Mensch kann etwas einsehen, z. B. dass 2x2=4 ist. Er sieht es ein und muss es nicht hundertmal ausprobieren, um es zu akzeptieren. Er kann bei Problemen nicht nur vorgegebenen Lösungsmöglichkeiten nachgehen, sondern auch ganz neue Lösungsmöglichkeiten finden. Das kann der Computer nicht, denn dazu braucht es Geist.

Moderne Roboter simulieren so etwas wie Bewusstsein, Empfinden und Geist. Aber das ist nur eine Simulation, wenn sie vielleicht auch immer täuschender gelingen wird. Natürlich kann man einen Roboter programmieren, dass er „Aua“ sagt, wenn man ihn schlägt, oder dass er lächelt und sagt: „Ich mag dich“, aber er hat weder Empfinden noch Bewusstsein.[2]

Die modernen Technologien haben ihre Stärken und können eine große Hilfe sein. Sie haben aber auch Gefahren. Die Menschen vereinsamen dadurch und verlieren soziale Fähigkeiten. Es ist eben etwas anderes, ob ich einem realen Menschen gegenübersitze und mich mit ihm unterhalte oder ob ich mich nur durch Kurznachrichten über das Smartphone mit ihm austausche oder vielleicht sogar nur mit einem Computer kommuniziere. Die reale Welt ist viel reicher als die virtuelle Welt, die uns die modernen Medien vorspielen.

 

Anmerkungen

[1] Dichtung und Wahrheit, 2. Teil, 7. Buch.

[2] Gute Überlegungen hierzu finden sich bei Thomas Fuchs: Verteidigung des Menschen, 4. Aufl., Berlin: Suhrkamp 2022.