Das christliche Menschenbild: 2. Die Vergöttlichung des Menschen
Im 1. Teil haben wir gesehen, dass die menschliche Natur aus Leib und Seele besteht. Vernunft, freier Wille und Unsterblichkeit der Seele sind für den Menschen daher etwas Natürliches. Gott hat den Menschen aber nicht für den reinen Naturzustand bestimmt, sondern für ein Leben in der übernatürlichen Gotteskindschaft. Dafür braucht er die heiligmachende Gnade, die ihm einen Anteil an der göttlichen Natur gewährt.
Adam und Eva waren im Paradies Kinder Gottes. Wenn sie die Prüfung bestanden hätten, würden alle Menschen in der Gnade geboren werden. Wegen des Sündenfalls wird jetzt aber immer nur ein der Gnade beraubtes Kind geboren, dem die Gnade nachträglich geschenkt werden muss. Das geschieht normalerweise durch die Taufe.
Die Anteilnahme an der göttlichen Natur
Die Offenbarung lehrt ausdrücklich, dass Gott uns zu einer Anteilnahme an seiner eigenen göttlichen Natur berufen hat: „Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, denen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut, nicht aus dem Wollen des Fleisches und nicht aus dem Wollen des Mannes, sondern aus Gott geboren sind“ (Joh 1, 12 f).
Bei einer Geburt wird eine Natur weitergegeben. Eine menschliche Mutter gebiert einen Menschen, eine Stute ein Pferd usw. In diesem eigentlichen Sinn können wir nicht aus Gott geboren werden, denn sonst würden wir Gott werden, was unmöglich ist. Aber wenigstens muss uns eine Anteilnahme an der Natur geschenkt werden, und genau das sagt der 2. Petrusbrief: „Durch sie [die göttliche Macht] sind uns die wertvollen und überaus großen Verheißungen geschenkt worden, damit ihr durch diese der göttlichen Natur teilhaftig werdet“ (1, 4).
Auch der hl. Paulus lehrt: „Wenn einer in Christus ist, ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2 Kor 5, 17).
Die Kirchenväter tragen diese Lehre ebenfalls vor. So sagt Athanasius: „Der da Gott war, wurde später Mensch, damit er uns vergöttliche.“[1] Und Augustinus spricht das berühmte Wort: „Gott ist Mensch geworden, damit der Mensch Gott werde!“[2] Er betont aber auch den Unterschied zwischen der natürlichen Sohnschaft Christi und unserer Adoptivkindschaft: „Wir sind Söhne Gottes geworden und Götter geworden, aber das kommt von der Gnade des Adoptierenden, nicht von der Natur des Zeugenden.“[3]
Um dieses Geheimnis zu erläutern, bringen die Väter die Bilder vom Eisen, das im Feuer glühend wird, also feurige Eigenschaften annimmt; vom Wassertropfen, der sich mit dem Wein vermischt, sodass man ihn nicht mehr vom Wein unterscheiden kann. Dieses Bild gebraucht auch die Liturgie jeden Tag im Gebet bei der Vermischung von Wein und Wasser:
„Gott, du hast den Menschen in seiner Würde wunderbar erschaffen und noch wunderbarer erneuert: lass uns durch das Geheimnis dieses Wassers und Weines teilnehmen an der Gottheit dessen, der sich herabgelassen hat, unsere Menschennatur anzunehmen, Jesus Christus, dein Sohn, unser Herr, …“
Ein weiteres schönes Bild ist das eines Kristalls, der von der Sonne angestrahlt wird und dadurch selber zur Sonne zu werden scheint.
Im Gegensatz zur natürlichen Adoption, die allein in der Einsetzung in die Rechte eines natürlichen Kindes besteht, also in einem Rechtsverhältnis, geschieht bei der göttlichen Adoption etwas. Darum schreibt der hl. Johannes: „Wir werden Kinder Gottes genannt und sind es!“ (1 Joh 3, 1)
Auch wenn man manchmal von der Übernatur spricht, so ist es keine zweite Natur, die auf unsere eigentliche Natur aufgesetzt wird, sondern es handelt sich eher um eine Veredelung unserer Natur. Unsere Seele wird durch die heiligmachende Gnade in einen neuen Stand erhoben (gratia elevans) und unsere Seelenkräfte (Verstand und Wille) erhalten neue Kräfte. Der Verstand wird durch die Tugend des Glaubens befähigt, den geoffenbarten Wahrheiten fest zuzustimmen, und der Wille wird durch die Hoffnung befähigt, nach der Anschauung Gottes im Himmel zu streben, und durch die Liebe, Gott über alles zu lieben, und zwar in einer ähnlichen Weise, wie Gott sich selbst liebt. Im ewigen Leben wird der Verstand dann befähigt, Gott zu schauen, „wie er ist“ (1 Joh 3,2).
Die heiligmachende Gnade macht uns Gott so ähnlich, wie das für ein Geschöpf überhaupt möglich ist. Darum soll die hl. Katharina v. Genua nach der Schau einer Seele im Stand der heiligmachenden Gnade ausgerufen haben: Wenn ich nicht gewusst hätte, dass dies nur eine Seele war, so hätte ich geglaubt, es sei Gott!
Unsere Gotteskindschaft ist gewissermaßen eine Anteilnahme an der Sohnschaft der zweiten göttlichen Person: „Die er vorher erkannt hat, die hat er auch vorherbestimmt, dem Bild seines Sohnes gleichförmig zu werden, damit er der Erstgeborene unter vielen Brüdern sei“ (Röm 8, 29). Darum schämt Christus sich nicht, uns Brüder zu nennen (vgl. Hebr 2, 11). Wie der Vater dem Sohn die göttliche Natur mitteilt, so teilt er den Adoptivkindern einen Anteil an der göttlichen Natur mit.
So sehen wir auch, dass eine Seele in der Gnade wertvoller ist als die gesamte bloß natürliche Schöpfung. Wie ein Vater seine Kinder mehr liebt als alle seine Besitztümer (seine Häuser, Fahrzeuge, Felder, Kühe, Schweine usw.) zusammen, so liebt Gott einen Menschen in der Gnade mehr als die gesamte bloß natürliche Schöpfung.
Die besondere Einwohnung Gottes durch die Gnade
Gott macht unsere Natur nicht nur der seinen ähnlich, sondern kommt auch selbst zu uns. Christus sagt: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14, 23). Auch der hl. Paulus betont diese Gegenwart Gottes im Christen: „Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3, 16) „Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes“ (2 Kor 6, 16). Der hl. Ignatius von Antiochien († 107) nennt die Christen darum Theophoroi, das heißt Gottesträger.
Nun ist Gott allerdings sowieso schon allgegenwärtig und allen Geschöpfen als der Schöpfer und Erhalter ihres Seins gegenwärtig. Wie kann es da noch eine besondere Gegenwart Gottes im geheiligten Menschen geben, die dem Menschen in der Todsünde nicht zukommt? Diese neue Gegenwart kann nur in einer neuen Beziehung bestehen, die Gott mit der Seele eingeht. So schreibt Thomas v. Aquin, die Gnade bewirke, dass Gott als Erkannter im Erkennenden und als Geliebter im Liebenden gegenwärtig werde.[4] Es ist also eine Beziehung der Freundschaft, des gegenseitigen Kennens und Liebens, die durch die Gnade ermöglicht wird. Darum wird ein wirklich innerliches Leben mit Gott erst durch die heiligmachende Gnade möglich. Der Sünder kann zwar auch zu Gott beten und ihn um seine Barmherzigkeit anflehen, aber solange er den Gnadenstand nicht wiedererlangt hat, kann er in keiner Beziehung der Freundschaft und des vertrauten Umgangs mit Gott leben.
Je nach dem Grad der Gnade und unseres Eifers wird dieses Kennen und Lieben Gottes stärker oder schwächer sein. Aber indem Gott uns die Gnade geschenkt hat, hat er uns auch eingeladen, ihn immer besser kennen- und liebenzulernen. Das geschieht vor allem durch das Gebet. Durch die Betrachtung der Geheimnisse Gottes, des Lebens Christi und des gesamten Heilswerks lernen wir Gott immer besser kennen und damit auch immer mehr lieben. Es ist zwar nur eine dunkle, geheimnisvolle Erkenntnis, die der lebendige Glaube in diesem Leben gewährt, aber der hl. Thomas nennt sie doch eine „gleichsam erfahrungsmäßige Erkenntnis“.[5] Es ist ein wirkliches Kennenlernen Gottes, und wenn es sich auch nicht im hellen Licht der glückseligen Schau der Seligen des Himmels vollzieht, so ist es doch eine Vorbereitung darauf.
Wer allerdings nur wenig und gleichgültig betet, wer sein Herz an die Güter dieser Welt hängt und ihnen genauso nachjagt wie die Menschen ohne Glauben, der wird immer nur an der Oberfläche bleiben. Die Gnade kann dann ihre Wirksamkeit nicht entfalten, weil der Mensch ihr Hindernisse entgegensetzt.
Die großen Mystiker und Heiligen der Kirche haben diesen Weg, der zur immer größeren Vereinigung mit Gott führt, in wunderbaren Worten beschrieben. So dichtet der hl. Johannes vom Kreuz:
Vom Geschaffenen sich befreien,
des Erschaffers nur gedenken,
wach ins Innere sich versenken,
Liebe dem Geliebten weih‘n.
Die hl. Theresia von Avila legt Gott die Worte in den Mund:
Und wüsstest du einmal nicht mehr
wie du hinfinden kannst zu mir –
taste nicht blindlings hin und her:
bin ich in Wahrheit dein Begehr,
Seele, dann such mich in dir.
Bist du doch, Seele, Ruhgemach
und Heim für mich – du meine Rast!
Die Karmelitin Elisabeth von der Dreifaltigkeit (1880-1906), die ganz von dieser Wahrheit durchdrungen war und ihr geistliches Leben ganz auf diese Wahrheit aufgebaut hatte, schrieb am Vorabend ihres Todes: „Daran zu glauben, dass ein Wesen, das sich die Liebe nennt, in uns in jedem Augenblick des Tages und der Nacht wohnt und dass es von uns verlangt, in Gesellschaft mit ihm zu leben, das ist es, was aus meinem Leben einen vorweggenommenen Himmel gemacht hat.“[6]
Die Lehre von der Allgegenwart Gottes zeigt auch die Wichtigkeit der Stoßgebete und des häufigen Erhebens des Herzens zu Gott. Wenn es auch erst auf einer hohen Stufe des Gnadenlebens möglich ist, beständig in der bewussten Gegenwart Gottes zu sein, so kann man doch wenigstens immer wieder während des Tages an Gottes Gegenwart denken, zu ihm sprechen, ihn lieben und sich mit ihm vereinigen.
Anmerkungen
[1] Orat. contra Arianos 39.
[2] Sermo 128.
[3] Auslegung des Ps 49, Nr. 2.
[4] S Th I q.43, a.3.
[5] I Sent. dist. 14 q.2 a.2 ad 3um: „quasi experimentalis“. Das „quasi – gleichsam“ weist darauf hin, dass dieser übernatürliche Affekt nicht mit letzter Sicherheit von einem natürlichen Gefühl zu unterscheiden ist. Darum können sich manche Personen Einbildungen hingeben und ihre Phantasien mit übernatürlichen Erfahrungen verwechseln.
[6] Vgl. Michel Philipon O.P., Die geistliche Lehre Schwester Elisabeths, Wien 1948, S. XI.