Das christliche Menschenbild

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Pater Matthias Gaudron

1. Die menschliche Natur

Um über das christliche Menschenbild zu sprechen, muss man zunächst eine richtige Auffassung von der menschlichen Natur haben, denn gemäß einem scholastischen Prinzip zerstört die Gnade die Natur nicht, sondern vervollkommnet sie. Die menschliche Natur besteht aus Leib und Seele, wobei die Seele als geistiges Prinzip die Führung übernehmen muss. Um die rechte Ordnung im Menschen herzustellen, braucht es die Übung der Tugenden, nämlich der Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung.

 

Das wurde bereits von den besten heidnischen Philosophen grundsätzlich richtig erkannt. Mit Hilfe und im Licht der Offenbarung Gottes haben die christlichen Philosophen und Theologen allerdings die Fehler, die sich bei den heidnischen Philosophen fanden, bereinigt. Zudem sagt uns die Offenbarung, dass der Mensch zu etwas wesentlich Höherem berufen ist, als ihm von seiner Natur her zukommt: Gott hat ihn zu einer Anteilnahme an seiner eigenen Natur berufen; er soll in einem wahren Sinn ein Kind Gottes werden und einmal an der ewigen Glückseligkeit Gottes selbst teilnehmen.

Die Existenz der menschlichen Seele

Wie kann man nun aber die geistige Seele des Menschen erkennen? Da sie geistig ist, können wir sie weder sehen noch mit irgendwelchen Messapparaturen nachweisen, denn diese können ja immer nur etwas Sinnfälliges und Materielles feststellen. Wir können ihre Existenz aber trotzdem aus der Tatsache der geistigen Fähigkeiten des Menschen erschließen. Der Mensch kann sich nämlich zu rein geistigen und abstrakten Dingen erheben, die nichts mit Materiellem und Sinnlichem zu tun haben. Schon die Fähigkeit, einfache Mathematikaufgaben zu lösen, zeigt die Existenz eines geistigen Prinzips in uns, denn hier geht es um Größen, die ganz immateriell sind. Zwar können wir uns diese Aufgabe veranschaulichen, indem wir z. B. Äpfel oder Birnen zusammenzählen, aber schon ein Schulkind gelangt normalerweise dahin, sich in den verschiedenen Rechenaufgaben mit ganz abstrakten Zahlen zu beschäftigen.

Der Mensch betrachtet die Dinge um sich herum auch nicht nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie für sein sinnliches Wohlbefinden nützlich oder schädlich sind. Er kann z. B. eine Pflanze nicht nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie essbar oder giftig ist, betrachten, sondern sich auch an ihrer Schönheit erfreuen. Man hat aber noch nie eine Kuh oder ein Pferd gesehen, die die Schönheit der Blumen auf ihrer Wiese betrachten, oder einen Hund, der die Schönheit einer Landschaft genossen hätte. Der Mensch nimmt die Wirklichkeit auch nicht nur einfach hin, sondern fragt immer nach dem Grund aller Dinge. Schon kleine Kinder nerven ihre Eltern oft mit der beständigen Frage, warum etwas so ist. Die Erkenntnis, dass eine Sache die Ursache einer anderen ist, ist aber eine geistige Erkenntnis, denn unsere Sinne nehmen nur das zeitliche Nacheinander zweier Ereignisse wahr.

Die höheren Tiere haben zweifellos schon eine gewisse Kombinationsgabe, eine „praktische Intelligenz“ (Scheler). Diese steht aber ganz im Dienst des Materiellen. Die Intelligenz wird nur dafür eingesetzt, Nahrung zu finden und sich fortzupflanzen. Auch bei den höchsten Tieren stellt man kein Inter- esse am Wissen als solchem fest.

Die Frage nach dem Grund aller Dinge führt den Menschen dann ja auch zur Gottesfrage und zur Frage nach dem Sinn seines Lebens. Das Tier stellt sich dagegen diese Fragen nie. Es ist ganz zufrieden, wenn es nur genug zu fressen hat und auch seine übrigen leiblichen Bedürfnisse erfüllt sind. Der Mensch dagegen ist nicht zufrieden, wenn er nur gesund ist und seine sinnlichen Bedürfnisse befriedigt sind. Er sucht mehr: einen Sinn seines Lebens, Liebe, Erkenntnis, eine nützliche Aufgabe usw.

Der Mensch beschäftigt sich auch ständig mit ideellen Werten, wie z. B. Gerechtigkeit, Tapferkeit oder Freundschaft. Ein Löwe fragt sich nicht, ob er die Antilope töten darf, und der Hase macht sich keine Gedanken darüber, ob es nicht tapferer wäre, dem Hund zu widerstehen. Die Tiere folgen einfach ihren Instinkten. Der Mensch hat zwar auch Instinkte, aber er ist durch sie nicht vollkommen festgelegt. Es stellt sich für ihn immer die Frage, ob und inwieweit er ihnen folgen oder widerstehen soll. Gut und Böse gibt es nur für ein geistiges Wesen. Wenn man dem Hund eine Wurst hinhält, dann fragt er sich nicht, ob er jetzt nicht lieber ein Opfer bringen sollte. Der Mensch aber kann aus höheren, geistigen Motiven auf die Befriedigung eines sinnlichen Triebes verzichten. Darum ist die christliche Askese eben nicht unnatürlich, sondern entspricht ganz der menschlichen Natur. Selbst ein Mensch, der von Moral nichts wissen will, ist doch ständig mit moralischen Fragen konfrontiert und sucht immer eine Rechtfertigung für sein Handeln.

Wenn der Mensch nur Materie wäre, gäbe es dagegen keine Willensfreiheit und folglich keine Liebe, kein Verdienst und keine Schuld. Wir wären nur von unserem Gehirn und unseren Hormonen gesteuert, wie konsequente Materialisten wirklich behaupten.

Das sind einige Überlegungen, an denen wir sehen können, dass der Mensch ein geistiges Wesen ist. Allerdings benötigt die Seele in diesem Leben, in dem sie mit dem Leib zu einer Einheit verbunden ist, für ihre Tätigkeit das Gehirn. Die Seele ist nicht nur einfach im Leib, als hätte sie mit ihm nicht viel zu tun, sondern Geist und Materie sind im Menschen zu einer ganz erstaunlichen und wunderbaren Einheit verbunden. Nach Platon lebt die Seele dagegen im Leib ist wie in einem Gefängnis. Er meinte, die Seele habe schon vor ihrer Einkerkerung in den Leib existiert und es sei darum für sie eine Erlösung, von diesem Leib wieder befreit zu werden. Aber das stimmt nicht. Wir sind keine reinen Geister wie die Engel.

Leib und Seele sind im Menschen zu einer Natur vereinigt. Darum sind auch alle unsere geistigen Tätigkeiten mit Aktivitäten im Gehirn verbunden. Der berühmte Hirnforscher J. Eccles kam in seinem Buch Das Ich und sein Gehirn zu dem Ergebnis, das Ich – wir würden sagen „die Seele“ – bediene sich des Gehirns wie ein Pianist auf dem Klavier spielt. Darum können Störungen im Leib allerdings auch die Seele in ihrem Wirken behindern. Bei den sogenannten seelischen Krankheiten findet man meist eine Störung bei den Botenstoffen des Gehirns. Auch die unterschiedlichen Begabungen der Menschen haben ihren Grund nicht in der Seele, sondern im Leib und besonders im Gehirn.

Da die Seele geistig ist, ist sie natürlicherweise unsterblich. Nur materielle Dinge können zerstört und in ihre Teile aufgelöst werden. Ein Geist kann nicht zerfallen oder durch einen Unfall oder eine Waffe zerstört werden. Das hat Aristoteles nicht richtig erkannt. Für ihn gibt es mindestens keine individuelle Unsterblichkeit. Es gibt zwar schon etwas Geistiges, das nach dem Tod des Menschen ins All zurückkehrt, aber das ist nicht unser individuelles Ich.

Wir sehen hier, dass das Christentum nicht einfach von den griechischen Philosophen abgeschrieben hat. Es hat das übernommen, was mit der Lehre der Offenbarung übereinstimmte und womit man diese Lehre erläutern konnte, aber vieles auch zurückgewiesen.

Weil der Mensch unsterblich ist, ist der Tod nicht als das absolute Ende zu fürchten. Der Mensch kann sein irdisches Leben opfern, ohne fürchten zu müssen, das Wesentliche zu verlieren.

Kennt die Bibel keine Seele?

Immer wieder wird behauptet, die Bibel kenne keine menschliche Seele, das sei eine griechische Erfindung, die durch Paulus und spätere Christen übernommen worden sei. In Wirklichkeit heißt es schon in der Genesis, im ersten Buch der Bibel, dass Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis schuf. Nun ist aber der Mensch nicht in Bezug auf seinen Leib nach dem Bild Gottes erschaffen, denn Gott ist reiner Geist. Ein Bild Gottes ist der Mensch nur in Bezug auf seine geistige Seele, durch die er eine mit Verstand und freiem Willen begabte Person ist, ähnlich wie Gott. Bildhaft wird dies im Schöpfungsbericht dargestellt, wenn geschildert wird, wie Gott dem aus Erde gebildeten Leib des Menschen den Lebensodem einhaucht.

Die Existenz der Seele ist auch an vielen Stellen der Hl. Schrift ausdrücklich gelehrt. So sagt Christus: „Fürchtet euch nicht vor denen, die wohl den Leib, nicht aber die Seele töten können. Fürchtet vielmehr den, der Seele und Leib in der Hölle verderben kann“ (Mt 10, 28). Er warnt auch: „Was nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber seine Seele verliert? Was kann ein Mensch geben, um seine Seele zurückzukaufen?“ (Mt 16, 26) Im Gleichnis vom armen Lazarus wird anschaulich beschrieben, wie Lazarus in den Schoß Abrahams kommt, der reiche Prasser dagegen in die Hölle. Das entsprach der Vorstellungswelt des damaligen Judentums und ist übrigens auch ein Beweis für das persönliche Gericht gleich nach dem Tod. Entsprechend sah der hl. Johannes in seinen Visionen, von denen die Apokalypse berichtet, die Seelen der Märtyrer im Himmel: „Als es das fünfte Siegel öffnete, sah ich unter dem Altar die Seelen derer, die hingeschlachtet waren um des Wortes Gottes und des Zeugnisses willen, das sie hatten“ (Apk 6, 9).

Der Vorrang der Seele

Schon Aristoteles lehrt in seiner Nikomachischen Ethik, dass die Glückseligkeit des Menschen nur in einer eigentümlich menschlichen Tätigkeit bestehen kann, nicht in etwas, was auch Pflanzen und Tiere haben: Das bloß sinnliche Leben, das auch ein Ochse besitzt, kann nicht das eigentliche Ziel des Menschen sein. Übrig bleibt also nur ein nach dem vernunftbegabten Seelenteil tätiges Leben. Das menschliche Glück besteht darum in einer der Tugend gemäßen Tätigkeit der Seele. Nur ein gutes und vernunftgemäßes Leben ist glücklich zu nennen.

Thomas v. Aquin sagt dann in seinem Kommentar zu Aristoteles ziemlich drastisch: Diejenigen, die in leiblichen Genüssen ihr Ziel suchten, scheinen tierisch (bestiales) zu sein, da sie ein Leben wählen, das Mensch und Vieh gemeinsam besitzen. Das Ziel des Menschen muss darum in seiner geistigen Tätigkeit bestehen, und zwar letztlich in der Erkenntnis und Liebe des höchsten Gutes, welches Gott allein ist.

Da jedoch der Leib auch zu unserer Natur gehört, haben selbstverständlich auch seine Ansprüche ihre Berechtigung. Der Mensch ist kein Engel und bedarf äußerer Güter. Das heißt aber nicht, dass er viel davon benötigt. Aristoteles führt den athenischen Staatsmann und Gesetzgeber Solon (ca. 640-540 v. Chr.) an, der meinte, „glückselig seien diejenigen, die, mit äußeren Gütern mäßig bedacht, die nach seiner Ansicht schönsten Taten verrichtet und mäßig gelebt hätten“ (NE X,9). Auch die Kirche hat zwar die arme Lebensweise gelobt, aber nie die Bettelarmut verlangt. Die Armut ist einer der evangelischen Räte, aber selbst Christus und die Apostel haben nicht in Bettelarmut gelebt.