Erzbischof Marcel Lefebvre: Eine Schule des innerlichen Lebens
Einkehrtag in Ecône am 1. Februar 1984
Die Seminaristen bemühen sich während des gesamten Spiritualitätsjahres [1. Ausbildungsjahr], ein geistliches Leben zu führen, Gott zu finden. Gott ist Geist. Darum sagt unser Herr zur Samariterin: „Gott ist Geist und er will im Geist und in der Wahrheit angebetet werden“ (vgl. Joh 4,24). Die Welt, die bleiben wird, ist die geistige Welt. Die materielle Welt kommt von der geistigen Welt. Sie wurde durch den Geist geschaffen und nicht umgekehrt.
Einmal, wenn die Erde zerstört ist und die Sterne vom Himmel gefallen sein werden, am Ende der Zeit, wird diese Welt vergehen. Es wird dafür eine neue Erde geben, die vergeistigt sein wird, wie unser auferweckter Leib „ein geistiger Leib“ sein wird gemäß dem hl. Paulus (1 Kor 15, 44). Denn der Leib ist der Kraft des Geistes unterworfen. Der Leib wird kein Hindernis mehr für die geistigen Tätigkeiten sein. Jetzt ist unser Geist in einer gewissen Weise „gefangen“. Wenn wir unsere Seele von Ort zu Ort bewegen wollen, müssen wir unseren Leib bewegen. Von Natur aus ist der Geist dagegen fein und schnell. Es genügt, dass er an einem Ort zu sein wünscht, damit er sich dort befindet. Solange er aber hier unten ist, ist er „gefangen“. Die Seele ist vom Körper abhängig. – Dasselbe ist es im Bereich der Erkenntnis. Wie der hl. Thomas sagt, „beginnt alle Erkenntnis bei den Sinnen.“ [Summa theologica I q.84, a.6] Deswegen ist unsere Erkenntnis nur bruchstückhaft und beschränkt. Unser Intellekt schreitet durch Nachdenken voran: Unser Verstand zieht Schlußfolgerungen aus dem, was wir gesehen haben und indem wir die Überlegungen verknüpfen, gelangen wir schließlich zum Wissen, aber es ist sehr kompliziert. Darum profitieren wir von dem Nachdenken aller vergangenen Generationen.
Bei den Engeln ist es nicht so. Die Engel haben natürlicherweise ein Wissen, das unendlich viel größer ist als unseres. Die Welt der Geister wird im Moment des Todes sicherlich unsere Bewunderung hervorrufen. Vor Gott werden wir verstummen, nicht aus Furcht oder Schrecken, sondern angesichts des unglaublichen Ranges, den er innehat. Gott ist ein unendlich vollkommener Geist, der überall ist. Man versucht vergeblich, dies zu begreifen, wir stehen hier aber vor einem Geheimnis, das unser Vorstellungsvermögen vollkommen übersteigt. Wie der hl. Paulus sagt, „sind wir in Gott, leben wir in Gott und bewegen wir uns in Gott“ (vgl. Apg 17, 28). Es ist wahr, Gott ist hier. Wir wären nicht hier, wenn Gott uns nicht im Dasein erhalten würde. Aber wir sehen ihn nicht, und das macht es uns sehr schwer, von seiner Wirklichkeit eine genaue Kenntnis zu haben.
Wir leben darum in einer gewissen Blindheit, in einer beständigen Illusion. Wenn wir in der Realität leben würden, wenn wir Gott sehen würden, könnten wir – menschlich gesprochen – nicht leben. Nehmen Sie z.B. diejenigen, die etwas vom Himmel gesehen haben wie die kleine Bernadette. Sie waren in Ekstase, sie rührten sich nicht. Man sengte ihnen die Finger, aber sie merkten es nicht, so fasziniert waren sie vom Himmel, obwohl sie nur ein
ganz kleines Licht sahen, einen kleinen Strahl des Himmels. Oder betrachten Sie die Apostel auf Tabor! Sie fielen zu Boden, tief erschrocken wegen des Glanzes unseres Herrn (vgl. Mt 17,6). Dabei hatte Gott ihnen nur ein ganz kleines Licht seines Glanzes gezeigt.
Aber wenn wir Gott auch nicht sehen können, so müssen wir doch an ihn glauben, denn schließlich macht es den Inhalt unseres ganzen gegenwärtigen und zukünftigen Lebens aus, mit Gott zu leben! Das ist keine Erfindung, das heißt nicht, irgendeinen Mystizismus zu betreiben oder Phantasien nachzulaufen, das ist die Realität. Es ist traurig, daran zu denken, dass wir immer in einer Art Täuschung leben, in dieser Blindheit, von der die Oration bei der Erteilung der Tonsur spricht.
„Lasset uns beten ... zu unserem Herrn Jesus Christus für diese seine Diener, ... dass er ihnen verleihe den Heiligen Geist, der das Gewand der Gottesfurcht an ihnen auf ewig bewahre und ihre Herzen vor den Fesseln der Welt und vor der irdischen Begierlichkeit behüte; damit, so wie sie im Äußeren umgestaltet werden, so seine Rechte ihnen Wachstum in der Tugend gewähre, und ihre Augen von aller geistlichen und menschlichen Blindheit heile und öffne, und das Licht der ewigen Gnade ihnen verleihe.“ (Römisches Pontifikale, erste Oration bei der Erteilung der Tonsur)
Aber in dem Maß, in dem wir unser innerliches Leben entfalten – dieses geistliche Leben, das Leben mit Gott, das Leben der Taufe – in dem Maß, wie wir uns bemühen, unserer Seele den Platz zu geben, der ihr in unserem Dasein zu kommt, öffnet sich uns eine neue Welt. Es ist die Welt, die sich den Seminaristen im Laufe des Spiritualitätsjahrs auftut, wenn sie oft um die Erleuchtungen des Heiligen Geistes bitten, um wahrhaft geistlich zu leben.