Zelebrierte man in der Urkirche zum Volk?

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Pater Matthias Gaudron

Eine der auffälligsten Reformen des 2. Vatikanischen Konzils war die Einführung des sogenannten Volksaltars. Man behauptete, damit eine antike Praxis wieder neu aufgenommen zu haben. Die neueste Forschung hat jedoch gezeigt, dass es einen Volksaltar in der alten Kirche nie gegeben hat. Wenn der Zelebrant in manchen Kirchen tatsächlich in der Richtung des Volks stand, so ging es dabei um die Zelebration nach Osten und nicht „zum Volk hin“.

Das Gebet nach Osten

Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass der Osten, die Himmelsrichtung der aufgehenden Sonne, in der Antike die bevorzugte Gebetsrichtung war. Dafür gibt es schon Beispiele bei den heidnischen Griechen und Römern. Der Osthimmel galt als die Götterheimat und als Glückssymbol.[1]

Die Juden beteten zwar meist in der Richtung nach Jerusalem, aber es gab auch bei ihnen eine Tradition der Wendung nach Osten, und man hat aus der Zeit zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert Synagogen gefunden, deren Türen geostet waren.

Für die Christen spielte es möglicherweise eine Rolle, dass Christus vom Ölberg aus in den Himmel aufgefahren war und man von dort auch seine Wiederkunft erwartete. Wenn man sich von Jerusalem aus zum Ölberg wandte, betete man nach Osten. Bezugspunkte für das Gebet nach Osten waren aber auch folgende Schriftstellen: die „Sonne der Gerechtigkeit“ (Mal 3, 20), das „aufstrahlende Licht aus der Höhe“ (Lk 1, 78), der Engel, der „mit dem Zeichen des lebendigen Gottes vom Aufgang der Sonne“ aufsteigt (Apk 7, 2), und der „Blitz, der vom Osten aufflammt“ (Mt 24, 27).

Der protestantische Kirchenhistoriker Martin Wallraff bringt es auf den Punkt:

„Christen beten nach Osten. Dieser Grundsatz war der gesamten Alten Kirche eine Selbstverständlichkeit. Die Zeugnisse dafür sind räumlich und zeitlich breit gestreut. Nirgends findet sich ein Indiz für Christentum ohne diesen Brauch oder mit dem Brauch einer anderen Gebetsrichtung.“[2]

Dagegen behauptete der Priester und Liturgiewissenschaftler Otto Nußbaum (1923-1999), die Zelebration nach Osten sei nicht ursprünglich gewesen, sondern habe sich erst im 4./5. Jahrhundert durchgesetzt. In seiner Bonner Habilitationsschrift (1965) behauptete er, die Zelebration zum Volk sei in der Alten Kirche die Regel gewesen. Darauf stützten sich die Befürworter des Volksaltars.

Dagegen spricht aber, dass die Apsis fast aller alten Kirchen, vor allem im gesamten Osten, geostet war. Manchmal kann man die Zelebrationsrichtung sogar an Platten erkennen, die den Standort des Priesters kennzeichneten, oder auch daran, dass der Altar so weit in die Apsis gerückt war, dass man unmöglich dahinter stehen konnte. Nußbaum ignorierte sowohl solche Fakten als auch literarische Zeugnisse.

Zur Predigt saß der Bischof allerdings dem Volk zugewandt (damals saß der Bischof bei der Predigt und das Volk stand!), aber für den Opfergottesdienst trat er nicht von hinten an den Altar, sondern von vorne, selbst wenn das nicht der direkte Weg war. Selbst im ersten Teil der Messe wendete sich der Bischof, wenn er an seinem Sitz betete, nach Osten.

Es gab nun allerdings auch eingangsgeostete Kirchen. Ein Grund dafür bestand neben Notwendigkeiten, die sich aus dem Gelände ergaben, vielleicht darin, dass man sich zum Gebet den geöffneten großen Türen zuwenden wollte. In der Antike betete man nämlich meist unter freiem Himmel. Im Jerusalemer Tempel durften nur die Priester in den eigentlichen Tempelraum, das Heiligste, eintreten. Das Volk stand im Vorhof. Ähnlich war es bei den heidnischen Tempeln.

Mindestens in Nordafrika wendete sich in einer solchen Kirche nach der Predigt das ganze Volk nach Osten. Augustinus beschließt nämlich seine Predigten oft mit der Formulierung: „Conversi ad Dominum – hingewendet zum Herrn“ oder ähnlichen Worten. Er verband damit die Mahnung, mit der äußeren Umkehr auch die innere zu verbinden: „Du kehrst mit deinem Leib um von der einen Himmelsrichtung in die andere. Kehre nun mit dem Herzen um von der einen Liebe zur anderen.“[3]

Das Volk stand dann offenbar hinter oder neben dem Altar, der in den nordafrikanischen Kirchen nicht in der Apsis, sondern im Mittelschiff der Kirche stand. Die gesamte Gemeinde war dann mit dem Priester nach Osten gewandt.

In Rom scheint der Bischof oder Priester in einer eingangsgeosteten Kirche dagegen tatsächlich zum Volk hin zelebriert zu haben, denn es gibt hier keine Anzeichen für eine Wendung des Volkes. Es ging dabei aber eben nicht um eine Zelebration „zum Volk hin“, sondern nach Osten. Offenbar war man der Meinung, es genüge, wenn der Zelebrant sich nach Osten wende. Sowieso erhob man im Altertum die Augen beim Gebet zum Himmel.

In verschiedenen Kirchen Roms kann man feststellen, dass die Zelebrationsrichtung mehrmals gewechselt wurde. In der Lateran-Basilika z.B. zelebrierte man ursprünglich nach Osten, was in diesem Fall eine Stellung des Zelebranten in Richtung zum Volk mit sich brachte. Im 6./7. Jh. scheint man die Zelebrationsrichtung umgedreht zu haben, vielleicht um zum Erlöserbild hin zu zelebrieren, dem man einen wunderbaren Ursprung zuschrieb. Im Barock drehte man die Richtung von neuem um, weil man der Meinung war, der Papst habe das Privileg, zum Volk hin zu zelebrieren. Mit dem heutigen Volksaltar hatte das jedoch nichts zu tun, da es wegen des großen Abstands, der Kerzenleuchter und des Kreuzes nicht zu einem wirklichen Gegenüber von Zelebrant und Volk kam. Das war auch nicht beabsichtigt.

Stefan Heid meint, während der Zeit des Avignoneser Exils sei das Wissen um den Sinn der Ostzelebration verlorengegangen. Man habe bei der Rückkehr nichts mehr davon gewusst und deswegen ein Papst-Privileg konstruiert. Auch das Aufkommen vieler Seitenaltäre in den Kirchen habe eine Rolle dabei gespielt, dass die Zelebration nach Osten außer Gebrauch kam.[4]

Es gilt also: „Die oft wiederholte Behauptung, dass der altchristliche Altar regelmäßig die Wendung zum Volke voraussetzte, erweist sich als Legende“, wie der Liturgiewissenschaftler Andreas Jungmann schon 1967 konstatierte.[5] Und 2004 schrieb Martin Wallraff:

„Die Vorstellung von der um den Altar versammelten, auf den Altar ausgerichteten Gemeinde ist ein modernes Theologumenon. … auf patristische Wurzeln kann sie sich schwerlich berufen. Ein gleiches gilt für die in der katholischen Kirche seit den Tagen des zweiten Vatikanischen Konzils so intensiv und mitunter emotional diskutierte celebratio versus populum. Eine solche Vorstellung gibt es dem Begriff und der Sache nach in der Alten Kirche nicht, selbst wenn vielleicht in einzelnen Fällen faktisch so eine ähnliche Anordnung vorkam.“[6]

Leider hat man aber sogar antike Kirchen in einer Weise restauriert, dass sie heute den Eindruck erwecken, der Volksaltar sei etwas Antikes. So versetzte man in der Kirche Santa Maria delle Grazie in Grado bei Aquileja den Altar in den Vordergrund des Altarraums, obwohl archäologisch feststeht, dass er ursprünglich unmittelbar vor der Apsis bei den Klerikersitzen stand. In der neu aufgebauten Brotvermehrungskirche in Tabgha am See Genezareth verlegte man sogar das berühmte Bodenmosaik, damit es nun vor dem Volksaltar liegt, während es ursprünglich hinter dem Altar lag und der Priester zweifellos mit dem Rücken zum Volk zelebrierte.

Der Mahlcharakter

Hinter der Idee des Volksaltars steht natürlich die Behauptung, die Messe sei anfangs ein Mahl gewesen und der Opfergedanke sei erst später dazugekommen. Otto Nußbaum schrieb z. B.: „In der Frühzeit stand der Mahlritus im Vordergrund.“[7] Man hat sogar Katakomben-Zeichnungen falsch interpretiert, um ein Argument für den Mahlcharakter der Messe zu haben, indem man Totenmähler zu Eucharistiefeiern erklärte.

In Wirklichkeit ist der Opfergedanke von Anfang an dagewesen. Schon in der um 100 n. Chr. geschrieben Didache liest man: „Am Tage des Herrn versammelt euch, brechet das Brot und saget Dank, nachdem ihr zuvor eure Sünden bekannt habt, damit euer Opfer rein sei.“ Die Schrift wendet dann ausdrücklich die Prophetie aus Malachias 1, 11 auf die Messe an: „Denn so lautet der Ausspruch des Herrn: ‚An jedem Ort und zu jeder Zeit soll man mir darbringen ein reines Opfer, weil ich ein großer König bin, spricht der Herr, und mein Name wunderbar ist bei den Völkern.‘“ Auch viele Kirchenväter weisen in der Folge darauf hin, dass die Messe das von Malachias vorausgesagte „reine Opfer“ sei, das auf der ganzen Welt dargebracht werde.

Die Aufstellungen moderner Liturgiker erweisen sich damit auch in wissenschaftlicher Hinsicht als dilettantisch und ideologiegeprägt.

Im Übrigen hat auch Benedikt XVI. schon als Kardinal Ratzinger die neuen Forschungsergebnisse bedeutender Liturgiewissenschaftler für richtig gehalten und zudem auf die negativen Konsequenzen des Volksaltars hingewiesen. Er schrieb: „In Wahrheit ist damit [mit dem Volksaltar] eine Klerikalisierung eingetreten, wie sie vorher nie existiert hatte. Nun wird der Priester – der Vorsteher, wie man ihn jetzt lieber nennt – zum eigentlichen Bezugspunkt des Ganzen. Alles kommt auf ihn an. Ihn muss man sehen, an seiner Aktion teilnehmen, ihm antworten; seine Kreativität trägt das Ganze. … Immer weniger steht Gott im Blickfeld, immer wichtiger wird alles, was die Menschen tun, die sich hier treffen und schon gar nicht sich einem ‚vorgegebenen Schema’ unterwerfen wollen.“[8]

Leider stehen die Zeichen in Rom seit Papst Franziskus wieder schlecht für die überlieferte Liturgie. Obwohl sich immer deutlicher zeigt, dass die Liturgiereform die Messe den Menschen nicht nähergebracht hat und sie selbst in dieser Hinsicht ein Misserfolg war, will man offenbar bis zum Untergang an dieser „Errungenschaft“ des Konzils festhalten.

 

Anmerkungen

[1] Vgl. Uwe Michael Lang: Conversi ad Dominum. Zu Geschichte und Theologie der christlichen Gebetsrichtung, Freiburg: Johannes Verlag Einsiedeln, 3. Aufl. 2005, S. 33 ff.

[2] Christus versus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike, Münster 2001, S. 60; zitiert nach: Lang, S. 39.

[3] Serm. Dolbeau 19,12; zitiert nach: Lang, S. 53.

[4] Stefan Heid: Altar und Kirche. Prinzipien christlicher Liturgie, Regensburg: Schnell & Steiner 2019, S. 351.

[5] Der neue Altar, zitiert nach: Heid, S. 435.

[6] Gerichtetes Gebet. Wie und warum richten Juden und Christen in der Spätantike ihre Sakralbauten aus?, zitiert nach: Heid, S. 435.

[7] Der Standpunkt des Liturgen am christlichen Altar vor dem Jahre 1000, Bonn 1965; zitiert nach: Heid, S. 451, Anm. 178.

[8] Joseph Ratzinger: Vom Geist der Liturgie, S. 69 f. Gesammelte Schriften, Bd. 11, Freiburg im Breisgau 22008, S. 81.