400. Todestag Franz von Sales: Auch Männer haben eine Seele – Teil 2
Pater Markus Pius Pfluger
Paris, im Januar 1587. François, ein 19-jähriger Student, betritt die Kirche St. Etienne des Grès. Sie steht gegenüber dem von den Jesuiten geführten Collège de Clermont, wo er inzwischen Philosophie studiert.
Am Altar der Schwarzen Madonna kniet er nieder, gequält an Seele und Leib. Seit sechs Wochen drückt ihn eine unsägliche Last nieder. François ist überzeugt, von Gott zur ewigen Verdammnis bestimmt zu sein. Diese Angst und Qual ist dabei, ihn zu ruinieren. Er kann nicht mehr essen, nicht mehr schlafen, ist ganz mager geworden und gelb wie Wachs. Woher kommt eine derart seltsame Vorstellung? In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit theologischen Fragen und war dabei auf die Frage der Prädestination gestoßen: Wie verhält sich das göttliche Wissen und Wollen zum freien Willen des Menschen? Calvin, der Herrscher über Genf, behauptet eine göttliche Vorherbestimmung des Menschen entweder für den Himmel oder die Hölle. Die katholischen Theologen greifen die Frage auf, und auch hier stößt der junge Franz von Sales auf Ansichten, die ihn beunruhigen. Ist also alles schon entschieden? Kann er wirklich damit rechnen, zur „kleinen Schar der Auserwählten“ zu zählen?
„Wenigstens hier werde ich Dich lieben“
Schon als junger Student hat seine Liebe zu Gott einen außergewöhnlichen Grad an Reinheit und Treue erreicht – und diese Liebe sieht sich nun um ihre Erfüllung gebracht. Doch sie wird nur geprüft, wie Gold im Feuer, und wächst in dieser dunklen Nacht zu heldenhafter Größe. Wenn er Gott schon nicht im Jenseits lieben kann, dann wenigstens hier auf Erden! Hier ein Ausschnitt aus dem ergreifenden Gebet des 19-jährigen Franz von Sales: „Herr, Du hältst alles in Deiner Hand, und alle Deine Wege sind gerecht und wahr, was Du auch immer über mich beschlossen hast. Du bist immer der gerechte, all-erbarmende Vater. O Herr, immer werde ich Dich lieben, wenigstens in diesem Leben, wenn es mir schon nicht vergönnt sein sollte, Dich im ewigen zu lieben. Wenigstens hier, mein Gott, werde ich Dich lieben.“
Er bemerkt eine kleine Tafel an der Mauer mit dem Memorare des hl. Bernhard von Clairvaux. Auf den Knien und unter Tränen betet er: „Gedenke, o gütigste Jungfrau Maria, es ist noch nie gehört worden, dass jemand, der zu dir seine Zuflucht nahm, nicht erhört wurde.“ Er verspricht der Gottesmutter, täglich den Rosenkranz zu beten, erhebt sich vom Gebet – und ist augenblicklich geheilt. Die seelische Krise ist überwunden. Auch wenn ihn die Frage nach der Prädestination noch länger beschäftigen wird, ist seine Liebe zu Gott fortan getragen von der Hoffnung auf das ewige Heil und von der Überzeugung: „Gott wird dich nicht aufgeben, wenn du dich nicht selbst aufgibst.“
Alle sind zur Heiligkeit berufen
Von Liebe zu Gott brennend hat Franz von Sales als Priester und ab 1602 als Bischof vor allem eines im Auge: andere Menschen für die Liebe zu Gott, für die christliche Vollkommenheit zu begeistern. Gott habe diesem Heiligen die besondere Sendung zugedacht, das weit verbreitete Vorurteil zu beseitigen, „die Heiligkeit sei entweder gar nicht oder jedenfalls nur derart schwer zu verwirklichen, dass sie für den Großteil der Gläubigen keineswegs in Frage komme“. Dies schrieb Papst Pius XI. vor 100 Jahren in seinem Rundschreiben zum 300. Todestag des hl. Franz (Rerum omnium vom 26. Januar 1923). Diese Sendung erfüllt der Heilige auch noch 400 Jahre nach seinem Tod, besonders durch sein meistgelesenes Werk, die Philothea.
„Es ist ein Irrtum“, betont er hier, „ja sogar eine Irrlehre, die Frömmigkeit aus der Kaserne, aus den Werkstätten, von den Fürstenhöfen, aus dem Haushalt verheirateter Leute verbannen zu wollen.“ Bei der Schöpfung habe Gott den Pflanzen befohlen, „Frucht zu tragen, jede nach ihrer Art“ (Gen 1,11). „So gibt er auch den Gläubigen den Auftrag, Früchte der Frömmigkeit zu tragen; jeder nach seiner Art und seinem Beruf. Die Frömmigkeit muss anders geübt werden vom Edelmann, anders vom Handwerker, Knecht oder Fürsten, anders von der Witwe, dem Mädchen, der Verheirateten“ (Philothea I,3).
„Frömmigkeit“ bedeutet vollkommene Gottesliebe
An dieser Stelle ist eine Klärung der Begriffe fällig. „Introduction à la vie dévote – Anleitung zum frommen Leben“ lautet der Titel dieses Werks, das im Deutschen meistens als Philothea bekannt ist. Frömmigkeit – das klingt in manchen Ohren nach frömmlerisch, heuchlerisch oder wenigstens schrullig, bigott. Ein bedenkliches Missverständnis! Was der fromme Autor darunter versteht und wohin er die Leser führen möchte, stellt er im allerersten Kapitel klar. „Die Frömmigkeit ist eine höhere Stufe der Liebe. Die wahre Frömmigkeit ist nichts anderes als wahre Gottesliebe. Freilich nicht irgendeine Liebe zu Gott.“ Wenn die Gottesliebe „jene Stufe der Vollkommenheit erreicht, dass wir das Gute nicht nur tun, sondern es sorgfältig, häufig und rasch tun, dann heißt sie Frömmigkeit“. Nein, das ist nicht bigott und schon gar nicht heuchlerisch. Es ist vielmehr die vollkommene Liebe zu Gott, zu der Franz von Sales in der Philothea anleitet. Jene Vollkommenheit, zu der Jesus in der Bergpredigt aufruft: „Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist!“ (Mt 5,48), eine Vollkommenheit, zu der jeder ausnahmslos gerufen ist. Auch die Männer!
Auch für Männer
Man habe ihm berichtet, schreibt Franz von Sales im Vorwort zum Theotimus (Abhandlung über die Gottesliebe), manche Männer wollten die „Anleitung zum frommen Leben“ nicht lesen, weil er sich darin an eine „Philothea“ richte. Ach, diese Männer! „Ich wundere mich darüber, dass es Männer gibt, die so männlich tun und dabei so unmännlich sind.“ „Philothea“ bedeute doch einfach „Gott liebende Seele“. „Eine Seele aber hat wohl der Mann so gut wie die Frau“, wie er augenzwinkernd anfügt. Und deshalb ist die Philothea für Männer wie für Frauen lesenswert.
1609 erscheint sie zum ersten Mal, wird rasch zum Bestseller und noch zu Lebzeiten des Autors 40 mal aufgelegt und in alle europäischen Sprachen übersetzt. Trotz manchen zeitbedingten Äußerungen des Autors ist sie, inhaltlich und methodisch, bis heute in ihrer Art unübertroffen. Pius XI. wünschte sich in seinem bereits erwähnten Rundschreiben, die Philothea möge „auch heute noch viele Leser finden. Dann wäre das Aufblühen der christlichen Frömmigkeit gesichert.“ Franz von Sales bringt auch dem heutigen Leser nahe, wie schön es sein kann, im Alltag Gott zu gehören. Und wie man es dahin bringt, in der Welt „Gott zu lieben in allem und über alles“, indem man das Gewöhnliche auf außergewöhnliche Weise vollbringt.
„O Gott, du hast zum Heil der Seelen den heiligen Franz von Sales allen alles werden lassen.
Verleihe gnädig, dass wir, durchströmt von der Gewalt Deiner Liebe,
unter der Leitung seiner Unterweisungen
die ewigen Freuden erlangen. Amen.“
(aus dem Tagesgebet vom Fest des Heiligen, am 29. Januar)