Wir müssen mehr denken!

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Prälat Robert Mäder (1875 – 1945)

Fastenzeit ist Examenzeit. Und Ostern mit der Osterbeicht und der Osterkommunion das abschließende Reife-Zeugnis dazu. Ob wir reif sind für den Himmel oder die Hölle. Examenzeit ist immer eine ernste Zeit. Es geht um die Zukunft. Und hier geht's dazu um die ewige Zukunft. Fastenzeit darf darum nicht irgendeine spurlos an uns vorübergehende Zeit des Kirchenjahres sein. Sie muss zum ureigenen persönlichen Erlebnis werden. Zuerst einmal die Zeit, wo wir wieder katholisch denken lernen. Der Mensch ist Mensch, weil er denkt. Dadurch unterscheidet der Mensch sich von der ganzen materiellen Schöpfung. Das Materielle denkt nicht. Die Pflanze denkt nicht. Das Tier denkt nicht. Der Mensch denkt. Dadurch unterscheiden sich die Menschen von den Menschen: Es gibt Heiden, weil es Menschen gibt, die materialistisch denken. Es gibt Christen, weil es Menschen gibt, die wie Christus denken. Es gibt Katholiken, weil es Menschen gibt, die wie die katholische Kirche denken. Was die Menschen spezifiziert und differenziert, das sind in erster Linie ihre Gedanken. Der Mensch ist, was er denkt.

Wir müssen eine weitere Unterscheidung machen. Es gibt Menschen, die einen Gedanken anfangen, aber nicht durchdenken bis zu den letzten Konsequenzen. Die Logik fehlt ihnen. Die Folgerichtigkeit. Sie beten das katholische Glaubensbekenntnis. Aber der Glaube lebt bei ihnen nur im Unterbewusstsein. So im Halbschlaf. Im Oberbewusstsein ist es, als ob sie Heiden wären. Ihre Alltagsgedanken beschäftigen sich nicht oder äußert selten mit Gott, Christus, Kirche, Ewigkeit, sondern nur mit Essen, Trinken, Schaffen, Spielen, Schlafen. Diese Menschen haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht. Kurz, es sind Katholiken, die nicht katholisch denken können.

Diese Katholiken bilden heute die Mehrzahl. Die religiöse Unwissenheit, hat Kardinal Mermillod schon geschrieben, ist eine der schrecklichsten modernen Tatsachen. „Die Idee des Übernatürlichen, wer hat sie noch? Sie existiert fast nicht mehr.“ Der Alltag wird von den materialistischen, von den liberalen und sozialistischen Ideen beherrscht, aber nicht von der katholischen. Nehmen wir irgend eine Stunde heraus aus dem Alltag. Wie

viel Übernatürliches findet sich darin? Wieviel vom Gedanken an die Gegenwart Gottes? Wieviel Ewigkeitsorientierung? Mermillod hat recht gehabt: Praktisch existiert das Übernatürliche fast nicht mehr. Das ist eine der Ursachen, warum der Katholizismus so wenig Durchschlagskraft hat. Die katholischen Ideen sind eben nicht mehr in der Luft. „Die Wahrheit mindert sich unter den Menschenkindern.“ (Psalm 11,2).

Was müssen wir also machen? Die Leute wieder erziehen zum katholischen Denken, zum katholischen Nachdenken. Wie aber geschieht das? Durch das katholische Vor-Denken. Durch die Predigt der großen ewigen Wahrheiten: Gott, Christus, Kirche, Ewigkeit. Durch das immerwährende Zurückkommen auf das Grundlegende und Einzignotwendige: Dass wir auf Erden sind, um Gott zu erkennen, ihn zu lieben, ihm zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen. Dass man entweder gerettet oder verdammt wird und dass es kein Drittes gibt. Dass die Todsünde das größte Unglück ist. Dass der Glaube zur Seligkeit durchaus nötig ist. Dass wir ohne die Gnade nichts Verdienstliches zu tun vermögen. Dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt. Das will besonders die Fastenzeit: die großen ewigen Wahrheiten dem Volke wieder vor-denken.

Das Vor-denken aber genügt nicht. Zum Vor-denken des Predigers und des Schriftstellers muss das Nach-denken des Hörers und des Lesers kommen. Das vergessen aber viele. Vielleicht die meisten. Die Predigt ist mit dem Amen nicht aus. So wenig wie die Mahlzeit fertig ist mit der Zubereitung des Tisches. Man muss auch essen! Man muss die Wahrheit verarbeiten. Man muss sie verdauen und umwandeln ins eigene Fleisch und Blut. Man muss sie zum geistigen Eigentum werden lassen. Darum vergleicht Christus die Wahrheit mit dem Brot. „Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von jedem Wort, das aus dem Munde Gottes kommt.“ (Matthäus 4,4).

Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Betrachtung, d.h. der nachdenklichen Vertiefung in die göttliche Wahrheit. Es genügt nicht, die Wahrheit einmal gehört zu haben. Wer sie nur einmal hört, der vergisst sie wieder. Nur eine durchgedachte Wahrheit ist eine besessene Wahrheit. Nur eine besessene Wahrheit ist eine lebendige und eindrucksvolle Wahrheit. Die Mutter des hl. Johannes Bosco nahm einmal einen armen durchnässten Handwerksburschen in ihr Haus auf. Nachdem sie ihn bewirtet, verrichtete sie mit ihm das Nachtgebet und gab ihm dann ein paar gute Gedanken mit zur Erwägung vor dem Einschlafen. In Zukunft beschloss man in den Häusern Don Boscos nie mehr einen Tag, ohne dass der Vater des Hauses den Seinen einen guten Gedanken mitgab. Das ist das Minimum von Betrachtung: Kein Einschlafen ohne einen guten Gedanken.

Und wer mehr als das Minimum zu tun gesonnen ist, der wird sich sagen: Kein Morgen, kein Tag ohne eine Viertelstunde, ohne zehn Minuten, wenigstens fünf Minuten ernsten betenden Nachdenkens Aber eine religiöse Wahrheit. Dazu ist besonders der Sonntag da. Der Sonntag ist kein Tag der Zerstreuung, sondern der Sammlung. Ein Tag, wo man denkt. Nach-denkt und durch-denkt und zu Ende denkt.

Der erste Fastenvorsatz wird also der sein: Wir müssen mehr denken. Weniger Zerstreuung und mehr Sammlung! Kein Tag ohne ein Minimum von Betrachtung! Kein Abend ohne Beschäftigung mit einem guten Gedanken vor dem Einschlafen! Und was die Lektüre betrifft: Bücher lesen von Schriftstellern, die denken! Und was die Gesellschaft angeht: Mit Menschen verkehren, die denken! Die Gedankenlosigkeit hat die moderne Gesellschaft an den Rand des Abgrundes gebracht. Wie Beda Weber einmal sagt: Halbes Denken führt zum Teufel. Ganzes Denken aber führt zu Gott.