Wie befreien wir uns aus der geistigen Blindheit?
Das Evangelium versetzt uns in die Zeit kurz vor dem Pascha und vor dem Leiden Christi. In Israel zogen die Pilger zum Osterfest nach Jerusalem. Mit ihnen wanderte Jesus. Auf dem Weg nahm Er die Apostel auf die Seite und sprach das ernste Wort: „Seht, wir ziehen nun hinauf nach Jerusalem und dort wird alles in Erfüllung gehen, was die Propheten über den Menschsohn geschrieben haben: Er wird den Heiden überliefert, verspottet, gegeißelt und angespien werden. Und wenn sie Ihn gegeißelt haben, werde sie Ihn töten; aber am dritten Tag wird Er wieder auferstehen.“
Sein Leiden steht ihm in seiner Größe, in seinem ganzen Umfang, mit allen Details deutlich vor Augen. Nichts wird Ihn überraschen, nichts Ihn unvorhergesehen treffen. Er hat Einsicht in den Plan, den der Vater für Ihn festgesetzt hat.
Taube Ohren, blindes Herz
Schon seit einem halben Jahr versucht Er die Apostel in diesen Plan einzuweihen und sie auf Sein Leiden vorzubereiten. Aber ihre Ohren sind taub und ihr Herz ist blind; ein leidender und sterbender Messias ist ihnen – und ist uns – ein Skandal und etwas Unvorstellbares. Vielleicht auch deshalb, weil sie und wir insgeheim wissen, dass der Weg Christi der ihrige und unsrige sein wird.
Der Evangelist Lukas beschreibt deutlich das Unverständnis der Jünger, wenn er dreimal wiederholt: „Doch die Jünger verstanden nichts davon; Die Rede war für sie dunkel und Sie begriffen nicht, was er ihnen sagen wollte.“
Wunderheilung des Bartimäus
Der zweite Teil des Evangeliums mit der Wunderheilung des Bartimäus folgt unmittelbar. Auf dem Weg nach Jerusalem sammelten sich immer mehr Menschen. Jesus kommt zur vorletzten Station, der Stadt Jericho. Hier wollte Er wahrscheinlich den Sabbat verbringen. Sobald der Blinde am Tor den Auflauf des Volkes hört, fragt er, was denn los sei? Die Umstehenden erklären ihm, es sei Jesus von Nazareth, der große Wundertäter, der vorbeiziehe. Laut und von ferne ruft er den Herrn, um geheilt zu werden: „Jesus, Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Weil die Jünger nicht aufgehalten werden wollen, fordern sie ihn auf, zu schweigen. Aber er schreit mit noch mehr Nachdruck: „Sohn Davids, erbarme dich meiner.“ Jesus, der an keinem Bittenden vorübergeht, bleibt stehen. Der Evangelist Markus ist in seiner Schilderung genauer als Matthäus: „Da blieb Jesus stehen und sprach: Ruft ihn her! Da riefen sie den Blinden und sagten zu ihm: Sei getrost, steh auf, Er ruft dich. Er aber warf den Mantel ab, sprang auf und eilte zu Jesus.“ Jesus kennt seinen Wunsch, aber es ist Seine Gewohnheit, die Menschen auf das Wunder seelisch vorzubereiten. Er möchte den Glauben stärken und das Verlangen fördern. Deshalb fragt Er: „Was willst du, dass ich dir tue?“ Voll Ehrfurcht und Vertrauen antwortet der Kranke: „Mein Herr, ich möchte sehend werden!“ Jesus lobt den Glauben des Blinden, der sich gegen die ganze Volksmenge und gegen die Apostel durchgesetzt hat. Mit den Worten „sei sehend, dein Glaube hat dich gesund gemacht“, heilt Er den Blinden.
Bedeutung von Blindheit
Papst Gregor der Große, der wahrscheinlich der Urheber der Liturgie der Vorfastenzeit ist, erklärte vor ca. 1400 Jahren dieses Evangelium im Petersdom: „Der Blinde bedeutet das Menschengeschlecht. Es wurde im Stammvater Adam aus den Freuden des Paradieses vertreiben; seither kennt es die Klarheit des himmlischen Lichtes nicht mehr. Es muss die Finsternis seiner Verbannung erdulden. Durch die Gegenwart seines Erlösers empfängt es das Licht wieder. Da schaut es die Freuden des inneren Lichts schon dem Verlangen nach und schreitet durch gute Werke mächtig aus auf dem Weg des Lebens.“ Papst Gregor zeigt auf, dass es die Sünde ist, die den Menschen zum Bettler macht. Er sitzt auf dem Weg, von der Heimat der Gnade vertrieben. Blind ist er geworden, weil er das Licht der Gnade verloren hat.
Das Evangelium zeichnet hier das Bild des Menschen: bettelarm an übernatürlichen Gütern, blind und heimatlos. Der Erlöser kommt zum Menschen. Alle erfahren Seine Gegenwart. Aber nur wer die schmutzigen Kleider der Sünde abwirft, aufspringt und zu Ihm hineilt, kann gerettet werden. Genau das hat Christus durch Seinen Tod und Seine Auferstehung gebracht: die Erleuchtung von der geistigen Blindheit, die Begnadigung.
Sakrament der Erleuchtung
Wir werden die Bedeutung dieses Wunders besser verstehen, wenn wir uns daran erinnern, dass die alte Kirche das Sakrament der Taufe „Erleuchtung“ (Illuminatio) genannt hat. Diese Szene ist also ein einprägsames Bild der Taufgnade, des Osterlichts. Und das Verhalten des Bettlers ist ein herrliches Bild für die Freude und Begeisterung, mit der die ersten Christen die Taufe empfingen. Der heilige Paulus drückt diese Freude im Epheserbrief wunderschön aus: „Wache auf, der du schläfst, und stehe auf aus den Toten, und der Christus wird dir leuchten.“
Noch etwas anderes zeigt dieses Evangelium. Christus sagt. „Wir gehen hinauf nach Jerusalem.“ Er betritt den Weg des Leidens und des Todes. Aber Er geht diesen Weg nicht allein. Der Mensch kommt mit Ihm mit. Christus kennt und versteht den Wert des Leidens und des Todes. Der Mensch oftmals nicht. Bartimäus, das sind wir. Nur unser Gebet und ein gutes Leben werden das Unverständnis und die Blindheit unserer Herzen langsam heilen. Die Kirche fordert uns auf, einsichtiger zu sein als die Apostel. Sie haben zu diesem Zeitpunkt den Sinn des Leidens nicht begriffen. Wir wollen, wie der heilige Paulus, bekennen: „Mit Christus bin ich an das Kreuz geheftet, darum lebe nicht mehr ich, sondern Christus in mir.“