Wer kann und wer muss beten?

Quelle: Distrikt Österreich

Fastentuch in der Pfarrkirche von Gallizien, Kärnten

Die Frage wäre sehr schnell entschieden, wenn wir sagten, dass alle Menschen beten können und dass alle es tun müssen. Um aber die Geister besser zufriedenzustellen, wollen wir den Gegenstand ausführlicher behandeln.

Lasst uns nun sehen, ob alle Menschen beten können. Ich sage Ja und sage, dass sich niemand davon entschuldigen kann, nicht einmal die Häretiker…  Es ist wahr, dass große Sünder viele Schwierigkeiten haben, zu beten. Sie gleichen den jungen Vögeln. Sobald diese Federn bekommen, können sie selbst mit Hilfe ihrer Flügel fliegen; sobald sie sich aber auf den Leim setzen, den man bereitet hat, um sie zu fangen, muss man sehen, wie dieser klebrige Saft ihnen die Flügel verklebt, so dass sie dann nicht mehr fliegen können. So ergeht es auch den Sündern, die sich auf das Laster einlassen und sich auf seinem schlüpfrigen Boden niederlassen; sie lassen sich so sehr von der Sünde fesseln, dass sie sich nicht mehr durch das Gebet zum Himmel erheben können. Soweit sie jedoch für die Gnade empfänglich sind, können sie dennoch beten. Nur der Teufel kann es nicht, denn nur er allein ist unfähig, zu lieben.

Nun bleibt noch zu erklären, welche Voraussetzungen man haben muss, um gut zu beten. Ich weiß wohl, daß die Väter, die diese Frage behandeln, deren eine große Zahl anführen; die einen zählen fünfzehn auf, die anderen acht. Da diese Zahl so groß ist, will ich nur drei nennen. Die erste ist, daß man klein sein muss durch die Demut; die zweite, groß in der Hoffnung, und die dritte, dass man dem gekreuzigten Jesus Christus aufgepfropft sein muß.

Sprechen wir zunächst von der ersten Bedingung; sie ist nichts anderes als jene geistliche Demut, von der Unser Herr sagt: Selig die Bettler im Geiste, denn ihrer ist das Himmelreich. Obwohl einige Theologen dieses Wort auslegen mit selig die Armen im Geiste, widersprechen sich die beiden Auslegungen nicht; denn alle Armen sind Bettler, wenn sie nicht stolz sind, und alle Bettler sind arm, wenn sie nicht geizig sind. Um also gut zu beten, müssen wir zugeben, daß wir arm sind, und müssen uns sehr demütigen. Wenn wir wollen, daß unser Gebet bis zum Himmel dringt, müssen wir uns erniedrigen durch die Erkenntnis unserer Nichtigkeit…  Die Demut ist in ihren Anfängen eine Wüste, obwohl sie am Ende sehr fruchtbar ist, und die demütige Seele glaubt, eine Wüste zu sein, wo weder Vögel noch wilde Tiere leben und wo es keinen fruchttragenden Baum gibt.

Gehen wir nun zur Hoffnung weiter, der zweiten Voraussetzung, die notwendig ist, um gut zu beten. Die Hoffnung ist süß, insofern sie uns verspricht, dass wir uns eines Tages dessen erfreuen dürfen, was wir ersehnen; sie ist aber bitter, weil wir noch nicht im beglückenden Besitz dessen sind, was wir lieben. Der Weihrauch ist ein noch treffenderes Sinnbild der Hoffnung; denn wenn er auf die Glut gelegt wird, sendet er seinen Rauch stets nach oben. Ebenso muss die Hoffnung auf die Liebe gelegt werden; andernfalls wäre sie nicht mehr Hoffnung, sondern Vermessenheit. Die Hoffnung steigt wie ein Pfeil bis zur Pforte des Himmels empor, aber sie kann nicht eindringen, weil sie eine Tugend ist, die ganz der Erde angehört. Wenn wir wollen, daß unser Gebet den Himmel durchdringt, müssen wir den Pfeil schärfen mit dem Schleifstein der Liebe.

Kommen wir zur dritten Bedingung. Wir sagten, daß die letzte Voraussetzung darin besteht, dem gekreuzigten Jesus Christus aufgepfropft zu sein. Wo aber ist der Baum gepflanzt? In welchem Garten werden wir ihn finden? Ohne Zweifel ist er auf dem Kalvarienberg gepflanzt und man muss sich in seinem Schatten aufhalten. Was aber sind seine Blätter? Nichts anderes als die Hoffnung auf unser Heil durch den Tod des Erlösers. Und die Blüten? Das sind die Gebete, die Er für uns an Seinen Vater richtete. Die Früchte sind die Verdienste Seines Todes und Seiner Passion.

Bleiben wir also zu Füßen des Kreuzes; gehen wir nicht fort, bis wir ganz vom Blut getränkt sind, das von Ihm herabfließt…

 

Auszug aus einer Predigt des hl. Franz von Sales zum 4. Fastensonntag, Annecy, 29. März 1615

 

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