Wahrer Gott und wahrer Mensch – Die Lehre der Kirche über Jesus Christus
Konzil von Trient
1. Die Notwendigkeit des Erlösers für die gefallene Menschheit
Von Pater Matthias Gaudron
Durch die Sünde verloren die ersten Menschen den paradiesischen Zustand, in dem sie geschaffen worden waren, das heißt die heiligmachende Gnade, durch die sie Kinder Gottes gewesen waren, sowie die Gaben, die ihnen um dieser Kindschaft willen geschenkt worden waren: die Leidenslosigkeit, die Unsterblichkeit, die vollkommene und mühelose Beherrschung ihrer Leidenschaften sowie die mühelose Beherrschung der gesamten niederen Natur.
Hätte Adam als Haupt des Menschengeschlechts die Prüfung bestanden, wären alle seine Nachkommen im Stand der Gnade geboren worden, hätten keinen Kampf mit ihren Leidenschaften gehabt und nicht leiden müssen. Ihr Verstand hätte sich wahrscheinlich viel leichter zu Gott und den ewigen Wahrheiten erheben können, als dies uns möglich ist. Sie wären dann einmal – sofern sie nicht durch ihre eigene Bosheit gesündigt hätten – ohne zu sterben mit Leib und Seele in den Himmel versetzt worden. Durch die Sünde ging dies alles jedoch verloren, so dass nun jeder Mensch in einem der Gnade beraubten Zustand zur Welt kommt, gegen seine ungeordneten Leidenschaften kämpfen, leiden und sterben muss.
Die Notwendigkeit einer Erlösung
Aus eigenen Kräften konnte die Menschheit sich aus diesem Ruin nicht wieder erheben, wie es das Konzil von Trient ausdrücklich definiert hat (DH 1513; 1551). Die schwere Sünde ist nämlich „ein Tod der Seele“ (DH 1512), und ein Toter kann nicht aus eigener Kraft wiederauferstehen. Die einmal verlorene Gnade kann der Mensch nur zurückerhalten, wenn sie ihm von Gott neu geschenkt wird. Gott war nun aber keinesfalls verpflichtet, die Menschen von Neuem in den Stand der Gotteskindschaft aufzunehmen. Die Gotteskindschaft ist nämlich ein übernatürlicher Stand, auf den der Mensch keinerlei Anspruch hat. Das bedeutet aber nicht, dass im Falle einer Nicht-Erlösung alle Menschen in die Hölle gekommen wären. Da die Erbsünde für die Nachkommen Adams keine persönliche Sünde ist, hätte es für diese noch die Möglichkeit gegeben, eine natürliche Seligkeit zu erlangen. Die menschliche Seele ist nämlich natürlicherweise unsterblich, und die natürliche Seligkeit würde für den Menschen in einer Erkenntnis Gottes bestehen, die seinen natürlichen Kräften angepasst ist, nicht in der Anschauung des dreifaltigen Gottes von Angesicht zu Angesicht.
Es gab jedoch Gründe, die eine Erlösung des Menschengeschlechts angemessen machten. So sprach zunächst von Seiten Gottes nichts dagegen, durch die Erlösung seine Barmherzigkeit zu offenbaren. Darum schreibt der hl. Paulus: „Gott, der reich an Erbarmen ist, hat uns wegen seiner großen Liebe, mit der er uns geliebt hat, obwohl wir durch unsere Sünden tot waren, mit Christus lebendig gemacht“ (Eph 2,4–5).
Von Seiten der Menschen war die Erlösung angemessen, weil Adam und Eva die Bosheit der Sünde nicht völlig durchschaut und auch nicht alle Konsequenzen vorausgesehen hatten. Zudem waren sie vom Teufel verführt worden. Adam und Eva haben dann ja auch wieder zu Gott zurückgefunden, wie die Hl. Schrift im Buch der Weisheit andeutet: „Sie (die Weisheit) war es, die den erstgebildeten Vater der Welt, als er allein erschaffen war, beschirmte; sie führte ihn heraus aus seiner Sünde und gab ihm Kraft, über alles zu herrschen“ (10,12).
Schließlich wäre es auch nicht angemessen gewesen, wenn das ganze Menschengeschlecht sein von Gott gegebenes Ziel verfehlt hätte, besonders da der Mensch gewissermaßen eine Zusammenfassung der gesamten Schöpfung ist. Er hat mit allen Geschöpfen etwas gemeinsam: mit der unbelebten Welt die Materie, mit den Pflanzen das Leben, mit den Tieren die Sinne und mit den Engeln das geistige Leben. Der Teufel hätte sonst den Triumph gehabt, nicht nur einzelne Geschöpfe, sondern das ganze Reich der Menschen auf ewig Gott entrissen und den Plan Gottes mit den Menschen grundsätzlich vereitelt zu haben. Zur Vollendung des Gerichts und der Strafe über die bösen Engel gehörte darum auch der Sieg über diese verschworenen Feinde Gottes und die Vereitelung ihrer Pläne.
Die Notwendigkeit der Menschwerdung
Um die Menschen zu erlösen, hätte Gott nun allerdings nicht notwendigerweise Mensch werden müssen. Er hätte sich mit der Reue der Menschen und einigen Bußwerken zufriedengeben können. Nur unter der Voraussetzung, dass Gott für die Sünde eine vollkommene Genugtuung fordern wollte, war die Menschwerdung notwendig. „Die gegen Gott begangene Sünde hat eine gewisse Unendlichkeit, und zwar wegen der Unendlichkeit der göttlichen Majestät“, schreibt Thomas v. Aquin. „Eine Beleidigung ist nämlich umso schwerer, desto größer derjenige ist, gegen den man sich verfehlt.“[1] So ist es z. B. schlimmer, den eigenen Vater zu beleidigen als einen gleichgestellten Kameraden. Eine Sünde ist zwar immer nur eine endliche Tat, aber sie wendet sich doch gegen den unendlichen Gott. Der Sünder kann die unendliche Ehre, die Gott gebührt, ganz ablehnen, aber selbst der Heilige kann sie nicht vollkommen geben. Der Todsünder schließt den unendlichen Gott von seinem Herzen aus, selbst der Heilige kann ihn aber nur auf eine endliche Weise lieben und ehren, nicht so, wie es ihm gebührt. Darum konnte nur der Gottmensch eine vollkommene Genugtuung für die Sünde erbringen, denn seine Handlungen haben einen unendlichen Wert.
Im Übrigen gilt ganz allgemein, dass es leichter ist, etwas zu zerstören als aufzubauen. Ein Kind kann eine Fensterscheibe zerschlagen, aber es kann keine neue Scheibe herstellen und einsetzen. Oder: „Jeder Trottel kann einen Käfer tottreten, aber alle Professoren der Welt können keinen herstellen.“[2]
Indem Gott die Menschwerdung der zweiten göttlichen Person als Mittel für die Erlösung wählte, hat er zugleich seine höchste Gerechtigkeit und Barmherzigkeit geoffenbart. Gott zeigt uns seine Gerechtigkeit, indem er eine vollkommene Buße für die Sünde verlangte, aber zugleich seine unendliche Barmherzigkeit, indem er uns den Erlöser schenkte, der zu einer solchen Buße fähig war, ja indem er selbst unser Erlöser wurde.
Zusätzlich war die Menschwerdung Gottes die beste Weise, um uns Menschen im Guten zu befördern und uns wirksamer vom Bösen abzuhalten. Durch sie werden alle Tugenden in uns gestärkt, allen voran die göttlichen Tugenden.
Die Menschwerdung dient nämlich zuerst der Stärkung unseres Glaubens. Gott hat sich uns nicht nur durch die Propheten geoffenbart, sondern der Sohn Gottes selbst hat zu uns gesprochen. So heißt es am Beginn des Hebräerbriefs: „Vielmals und auf vielerlei Weise hat Gott vor Zeiten durch die Propheten zu den Vätern gesprochen; am Ende dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den Sohn.“ Im Evangelium spricht Gott selbst zu uns und belehrt uns über die göttlichen Dinge, über unser letztes Ziel sowie den Weg, den wir gehen müssen, um zu diesem Ziel zu gelangen.
Zweitens gibt die Menschwerdung Gottes uns ein unerschütterliches Motiv der Hoffnung. Wenn Gott sogar Mensch wurde und für uns gelitten hat, wenn er sich so viel Mühe um uns gegeben hat, dann dürfen wir nicht zweifeln, dass in unserem Leben letztlich alles gut werden wird. Wenn wir nur wollen, führt uns Christus in die ewige Glückseligkeit, von deren Herrlichkeit wir uns keine Vorstellung machen können.
Drittens werden wir durch die Menschwerdung Gottes zur Liebe aufgerufen, denn welchen größeren Beweis seiner Liebe hätte Gott uns geben können? Gott ist einer von uns geworden, in allem uns gleich, die Sünde ausgenommen. Er, der doch in seiner göttlichen Herrlichkeit unendlich selig war, wollte unser Leben und unsere Leiden mit uns teilen, obwohl er nicht dazu verpflichtet war und obwohl es nicht notwendig gewesen wäre. „Er hat uns zuerst geliebt“ (1 Joh 4,19). „Wenn es schwerfällt zu lieben, sollte es wenigstens nicht schwerfallen, zurückzulieben“, sagt darum der hl. Augustinus.[3]
Auch alle anderen Tugenden werden durch die Menschwerdung gestärkt, da wir nun in Christus ein vollkommenes Vorbild haben. Sein ganzes Leben ist eine Lehre für uns, und wir müssen ihn nur nachahmen. Wieder formuliert Augustinus brillant: „Dem Menschen [d. h. dem sündigen Menschen], den man sehen konnte, durfte man nicht folgen. Gott sollte man folgen, aber er konnte nicht gesehen werden. Damit also der Mensch jemanden habe, den er sehen kann und dem er folgen darf, ist Gott Mensch geworden.“[4]
So lehrt uns seine Geburt in Armut und Verborgenheit, das zu fliehen, was die Welt für groß hält, und höheren Idealen nachzustreben. Klein, unbeachtet und unbekannt hält Gott seinen Einzug in diese Welt. Er gibt sich zufrieden mit der Liebe seiner Mutter und des hl. Josef, mit der Huldigung einiger armer Hirten. Er wächst auf als Kind armer einfacher Leute, übt jahrelang den einfachen Beruf eines Handwerkers aus, und auch als er dann öffentlich auftritt, sammelt er nur ein paar Fischer und Bauern um sich und führt das Leben eines kleinen Wanderrabbis. Darum hat die stolze Welt Christus nicht erkannt und erkennt ihn bis heute nicht. Gott hat sich gedemütigt und klein gemacht, um damit den Stolz der ersten Menschen, der zum Sündenfall führte, zu sühnen und uns ein Vorbild der Demut zu geben, die allein zu Gott führt.
Trotzdem zeigt die Menschwerdung aber gerade auch die wahre Würde des Menschen. Der Mensch war in den Augen Gottes so wichtig, dass Er selbst die Menschennatur annahm, ihn belehrte und für ihn litt. Wir sollen darum durchaus von dem Bewusstsein unserer hohen Würde als Gotteskinder durchdrungen sein, einer Würde, die wir eben deshalb nicht durch ein niedriges Leben in der Sünde beflecken und zerstören dürfen.
Anmerkungen
[1] S Th III, q.1, a.2, ad 2.
[2] Ein häufig Arthur Schopenhauer zugeschriebenes Zitat; es findet sich aber bei ihm wohl nicht.
[3] De catechizandis rudibus 4; PL 40,314.
[4] Sermo 371,2; PL 39,1660.