Wahrer Gott und wahrer Mensch: 6. Die Leugnung der Gottheit Christi in der Neuzeit

Nachdem das kirchliche Lehramt den Glauben an Christus als wahren Gott und wahren, vollständigen Menschen festgeschrieben hatte, blieb dieser Glaube jahrhundertelang ein fester Besitz der Christenheit. Auch die ersten Protestanten hielten im Allgemeinen an der wahren Gottheit und Menschheit Christi fest. Der Glaube an Christus begann erst mit der Aufklärung wieder zu verfallen.
Der Rationalismus der Aufklärung
Die Philosophen der Aufklärung wollten sich meist nur vom natürlichen Licht der Vernunft leiten lassen. An der Existenz Gottes hielten sie zwar fest, aber ihr Gott kümmerte sich nicht mehr um die Welt, die er geschaffen hatte (Deismus). In der Welt, so meinten sie, laufe alles nach den ehernen Gesetzen der Natur ab, welche die Naturforscher sich eifrig aufzufinden bemühten. Bittgebete seien daher sinnlos und Wunder gebe es nicht. Die Religion habe nur die Aufgabe, eine vernünftige Gottesverehrung zu verkünden und die natürliche Sittlichkeit zu stärken.
Für die Aufklärer war Jesus Christus im besten Fall nur ein edler und weiser Mensch, ein Religionsstifter wie viele andere und ein Lehrer der Humanität. Übernatürliche Würde habe er nicht besessen, da es ja überhaupt nichts Übernatürliches gebe.
Die Evangelien sind nun aber voll von Wunderberichten. Wunderbar ist schon die Empfängnis Jesu von einer Jungfrau, Wunder begleiten seine Geburt und zahlreiche Wunder wirkt er während seiner öffentlichen Wirksamkeit. Das größte Wunder von allen ist seine Auferstehung nach dem Tod am Kreuz. Da dies alles nach den rationalistischen Voraussetzungen nicht historisch sein konnte, begann man den historischen Jesus vom Christus der Verkündigung (dem kerygmatischen Christus) oder auch vom Christus des Glaubens zu unterscheiden. Die Evangelien würden uns demnach nur verkünden, was der Glaube und die Verkündigung aus Jesus gemacht hätten. Aber wer war der historische Jesus von Nazareth wirklich gewesen?
Diese Frage zu beantworten setzte sich die sog. Leben-Jesu-Forschung zum Ziel. Es entstand damals eine Fülle von Jesusbildern. Jeder Autor versah Jesus mit den Zügen, die er sich selbst wünschte und ausgedacht hatte. Für die einen war Jesus ein hochbegabter Mensch, der mit Hilfe seines überragenden Wissens erstaunliche Taten vollbracht hatte, die aber nichts wirklich Wunderbares an sich hatten. Für andere war er ein frommer Jude, der in der Endzeiterwartung lebte, wieder andere sahen in ihm einen Sozialreformer, einen idealen Lehrer, einen gescheiterten Revolutionär, den ersten Sozialisten usw.
Für David Friedrich Strauß (1808–1873) war Jesus schließlich nur eine Sagengestalt wie Siegfried oder Parzival, die vielleicht nie gelebt hat. Bestenfalls stehe hinter den Berichten der Evangelien ein kärglicher historischer Rest. Sein Leben Jesu, kritisch bearbeitet war ein Bestseller, der viel dazu beitrug, den Glauben an Christus im Volk zu untergraben.
Von all diesen Ideen blieben selbst manche katholischen Theologen nicht unberührt. Vor allem ließen sich aber protestantische Theologen davon anstecken. Im 19. Jahrhundert glaubten schon viele protestantische Pfarrer nicht mehr an die Gottheit Christi, obwohl diese noch im offiziellen Bekenntnis ihrer Landeskirche enthalten war. Für Adolf von Harnack, den Startheologen des protestantischen Kaiserreichs, gehörte nicht der Sohn, sondern allein der Vater in das Evangelium, denn Jesus habe Gott als Vater verkündet, der durch seine Vorsehung über die Menschen und die Welt wacht. Wenn Jesus sich als Sohn Gottes bezeichnete, habe er damit nur gemeint, dass er Gott als seinen Vater erkenne. Erst Paulus habe aus Jesus ein himmlisches Wesen gemacht. Da Jesus nicht Gott ist, gibt es für Harnack auch keine Trinität, und der Osterglaube sei nichts anderes als die Gewissheit der Unsterblichkeit.
Im 20. Jahrhundert forderte der Protestant Rudolf Bultmann (1884–1976) eine radikale „Entmythologisierung“ der Bibel. Alles Wunderbare müsse als unhistorisch betrachtet werden. Vom historischen Jesus wüssten wir fast nichts und er gehe uns auch „nichts an“. Ein berühmtes Wort von ihm lautet: „Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben.“[1] Es verwundert nicht, dass um die Zeit des 2. Vatikanischen Konzils auch viele katholische Theologen zu seinen Lesern gehörten.
Der Modernismus
Der Modernismus war letztlich nichts anderes als die Übernahme des liberalen Protestantismus und seiner Bibelkritik in den katholischen Raum. Adolf von Harnack betrachtete die Modernisten als Protestanten, womit er nicht unrecht hatte. Offenbar hatten um 1900 einige Katholiken Minderwertigkeitskomplexe gegenüber dem liberalen Protestantismus. Dieser war die Konfession des mächtigen deutschen Kaiserreichs und galt als wissenschaftlich, während der Katholizismus als geistig zurückgeblieben betrachtet wurde. Die Modernisten wollten darum den katholischen Glauben mit der modernen Zeit und ihrer Wissenschaft versöhnen, raubten dem Glauben dabei aber jedes übernatürliche Element.
Der hl. Pius X. legte in seiner Enzyklika Pascendi Dominici gregis vom 8. Sept. 1907 dar, dass Christus für die Modernisten nur ein genialer Mensch war, in dessen Bewusstsein sich der christliche Glaube entwickelt habe. Auch die Modernisten unterschieden den Christus der Geschichte vom Christus des Glaubens. Der erste war nicht Gott und hatte nichts Wunderbares getan, der zweite ist dagegen der durch den Glauben erhöhte Gottessohn. Pius X. hatte auch schon kurz vor der Veröffentlichung von Pascendi in seinem Dekret Lamentabili den Satz verurteilt, die Lehre der ersten Konzilien über Christus entspreche nicht der Lehre Jesu, sondern der Lehre, die sich das christliche Bewusstsein von Jesus gebildet habe (vgl. DH 3431).
Der Neo-Modernismus
Pius X. und seine Nachfolger konnten den Modernismus zwar unterdrücken, aber nicht überwinden. Nachdem Papst Johannes XXIII. an die Spitze der Kirche getreten war, breiteten sich die modernistischen Irrtümer in der ganzen Kirche aus, denn dieser Papst wollte, wie er in der Eröffnungsansprache zum Konzil sagte, die Irrtümer nicht mehr verurteilen, sondern lieber „vom Heilmittel der Barmherzigkeit“ Gebrauch machen.
Der Jesuit Karl Rahner (1904–1984), der auf dem Konzil und danach einen ungeheuren Einfluss hatte, wollte die klassische Deszendenz-Christologie (Gott ist Mensch geworden) durch eine Aszendenz-Christologie, eine Christologie von unten, vom Menschen Jesu her ergänzen. Auch wenn Rahner seine Lehren schlau verklausuliert und immer wieder betont hat, im Grunde nichts anderes zu sagen als die überlieferte kirchliche Lehre, so bleibt bei ihm doch nur übrig, dass Jesus ein Mensch war, in dem und durch den Gott sich uns endgültig zugesagt hat. So schreibt er:
„Jesus versteht sich selbst als der Messias. Er ist davon überzeugt, dass mit ihm das endgültige unüberholbare Reich Gottes da ist, dass in ihm sich Gott selbst, seine eigene Herrlichkeit mitteilt – der sündigen Welt seine Vergebung unwiderruflich zusprechend – sein letztes, endgültiges, unüberholbares Wort gesagt hat und dieses Wort eben dieser Gott in seiner eigenen Herrlichkeit selbst ist.“[2]
Im selben Aufsatz schreibt er, es könne nicht „von vornherein verboten werden“, die Einheit von Gottheit und Menschheit in Christus mit „psychologischen, moralischen Kategorien zu beschreiben“.[3] Es war aber genau der Irrtum des Nestorius, die Einheit des göttlichen Logos mit dem Menschen Jesus mit solchen moralischen Kategorien zu beschreiben. Wenn Jesus mit Gott nur moralisch geeint war, dann war er eine menschliche, aber keine göttliche Person, nicht der wahre und natürliche Sohn Gottes.
Bei Walter Kasper, dem heutigen Kardinal, bleibt von den Wundern Jesu nur übrig, dass Jesus „außerordentliche Taten vollbracht“ habe, „die seine Zeitgenossen in Staunen setzten“.[4] Jesus war also offenbar eine Art außerordentlich erfolgreicher Psychotherapeut, er hatte eine „charismatische Ausstrahlungskraft“,[5] eigentliche Wunder hat er aber nicht gewirkt. Die „späteren dogmatischen Aussagen von der metaphysischen Gottessohnschaft Jesu“ ständen „zunächst völlig außerhalb der alttestamentlich-jüdischen wie der hellenistischen Denkmöglichkeiten Jesu und des Neuen Testaments“.[6] Jesus hat sich also gar nicht vorstellen können, wahrer Sohn Gottes zu sein. Kasper meint genau zu wissen, was Jesus denken konnte und was nicht. Auch bei ihm ist Jesus nur ein Mensch, der eine besondere Nähe zu Gott hatte und in dem sich Gott unwiderruflich geoffenbart hat.
Ähnliches gilt schließlich auch für den Saarbrücker Theologen Josef Blank. Für ihn ist Jesus nur in dem Sinn Gottes Sohn, dass er „aus Vertrauen, Liebe und Hingabe“ lebte. Er ist Sohn Gottes, weil er , „der menschlichste der Menschen“ ist.[7] So ist heute Jesus für viele modernistische Theologen nur ein Mensch mit einer besonderen Gottesbeziehung, und damit leugnen sie die beiden Grundwahrheiten des Christentums, nämlich die Dreifaltigkeit und die Menschwerdung Gottes.
Anmerkungen
[1] Neues Testament und Mythologie, 1941, S. 18.
[2] Was heißt Jesus lieben? Herder ²1982, S. 33.
[3] Ebd., S. 51.
[4] Jesus der Christus, Mainz 71978, S. 107.
[5] Ebd.
[6] Ebd., S. 129.
[7] Jesus von Nazareth. Geschichte und Relevanz, Freiburg 41975, S. 85 f.