Wahrer Gott und wahrer Mensch - 3. Die wahre Menschheit Christi
Von Pater Matthias Gaudron
Jesus Christus wird heutzutage oft sogar von solchen, die sich Christen nennen, jeder göttliche Ursprung abgesprochen. Er wird zum bloßen Menschen erklärt. Am Anfang des Christentums musste die Kirche aber auch die Wahrheit verteidigen, dass die zweite göttliche Person wahrhaft und nicht nur scheinbar Mensch geworden ist.
Die Gnosis
In der Antike gab es materie- und leibfeindliche Strömungen, die auch manche Christen zur Häresie verführten. Dies waren die verschiedenen gnostischen Systeme. Der Name Gnosis bedeutet „Erkenntnis“, denn die Vertreter dieser Lehren traten mit dem Anspruch auf, die wahre Erkenntnis zu lehren, durch die man die Erlösung erlange. Diese Gnostiker betrachteten die Materie oft als das Werk eines bösen Gottes. Der gute Gott habe nur die Seelen und die geistige Welt erschaffen, der Leib und alles Materielle stamme dagegen von einem bösen Urprinzip. Diejenigen, die nicht so weit gingen, betrachteten die Materie doch zumindest als etwas Minderwertiges und Gottes Unwürdiges. Daher gab es Irrlehrer, die behaupteten, Jesus habe einen bloßen Scheinleib besessen. Gegen diese scheint sich schon der Apostel Johannes zu wenden, wenn er schreibt: „Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott“ (1 Joh 4,2). Er betont auch im Prolog seines Evangeliums: „Das Wort ist Fleisch geworden!“ (1,14), und hebt damit gerade die materielle Seite der Menschwerdung hervor.
Einer der ältesten christlichen Gnostiker, Basilides, lehrte, Jesus Christus sei wegen seines Scheinleibs nicht gekreuzigt worden, sondern habe im entscheidenden Augenblick die Gestalt mit Simon v. Cyrene gewechselt, so dass dieser gekreuzigt worden sei. Darauf geht vielleicht die Behauptung des Korans zurück, nicht Jesus sei gekreuzigt worden, sondern ein anderer, der ihm ähnlich gesehen habe (Sure 4,157). Die wichtigsten Gnostiker in der Urkirche waren Marcion und Valentin.
Marcion, der in der Mitte des 2. Jh. wirkte, lehrte einen strengen Dualismus, d. h. die Existenz eines guten und bösen Gottes. Der böse Gott habe die Welt geschaffen, und dieser sei der Gott des Alten Testaments. Das mosaische Gesetz sei also vom bösen Gott gegeben worden, und dieser habe in den Propheten gesprochen. Jesus sei der Sohn des guten Gottes und mit einem Scheinleib zuerst in Kapharnaum im 15. Jahr des Tiberius erschienen, um die Menschen von der Herrschaft des bösen Gottes zu befreien. Sein Kreuzestod und seine Auferstehung waren aber nur Schein.
Etwa zur selben Zeit wirkte der aus Ägypten stammende Valentin, der eine gemäßigtere Stellung einnahm. Er nahm keinen bösen Gott an, dafür aber eine Reihe von Mittelwesen (Äonen), die zwischen Gott und der materiellen Schöpfung vermittelten. Valentin lehrte, Christus habe einen pneumatischen Leib besessen, der vom Leib der übrigen Menschen wesentlich verschieden gewesen sei. Durch Maria sei er nur hindurchgegangen, so dass sie nicht im eigentlichen Sinn seine Mutter gewesen sei.
Auch die Manichäer, denen sich der hl. Augustinus zeitweise angeschlossen hatte, waren Gnostiker. Sie unterschieden den Jesus v. Nazareth, den der Teufel gesandt habe (den leidensfähigen Jesus, Jesus patibilis), vom wahren Erlöser, der aus dem Lichtreich stammen sollte und dessen Auftreten bloßer Schein gewesen sei (der nicht leidensfähige Jesus, Jesus impatibilis).
Die Kirche hat diese Irrtümer immer verworfen. Schon im Apostolischen Glaubensbekenntnis nennt sie die wichtigsten Momente des irdischen Lebens des Sohnes Gottes, nämlich seine Empfängnis und Geburt, sein Leiden und Sterben sowie seine Auferstehung. Das Konzil von Chalzedon (451 n. Chr.) nennt ihn nicht nur „wahrhaft Gott“, sondern auch „wahrhaft Mensch“. Die Darstellung des Lebens Christi in der Hl. Schrift widerspricht ja auch völlig den gnostischen Vorstellungen, denn die Schrift schildert, wie Jesus geboren, in Windeln gewickelt und am achten Tag beschnitten wird. Er hungert, wird müde, leidet und stirbt. Sogar nach der Auferstehung wird seine wahre Leiblichkeit ausdrücklich betont, wenn der Auferstandene zu den Aposteln sagt: „Betastet mich und überzeugt euch! Ein Geist hat doch nicht Fleisch und Bein, wie ihr es an mir seht“ (Lk 24,39).
Die Kirchenväter wenden dann auch schon ein, dass die Hl. Schrift völlig unglaubwürdig wäre, wenn alles, was sie von Jesus berichtet, nur scheinbar geschehen sei. Wenn Jesus nur scheinbar gelitten hat und nur scheinbar von den Toten auferstanden ist, wäre das ganze Erlösungswerk ein bloßer Schein, und man könnte daraus folgern, dass wir nur scheinbar, aber nicht wirklich erlöst wären. Das gewaltige und unfassbare Geheimnis, über das die Heiligen aller Zeiten nicht genug staunen konnten, dass Gott sich so herabgelassen hat, ein schwacher Mensch zu werden und sich von seinen eigenen Geschöpfen sogar noch quälen und töten zu lassen, hätte nicht stattgefunden.
Die menschliche Seele Christi
Zur wahren Menschwerdung gehört nicht nur ein wahrer Leib, sondern auch eine menschliche Seele, denn die menschliche Natur besteht wesentlich aus Leib und Seele. Dies bestritt im Altertum Apollinaris, der seit 362 Bischof v. Laodizäa war. Er behauptete, der göttliche Logos habe in Christus die Seele ersetzt, insoweit dies für ein göttliches Wesen ohne Erniedrigung möglich gewesen sei.
In diesem Fall wäre Gott aber kein wahrer Mensch, sondern eher ein Tier geworden, er hätte – wie Augustinus sagt – „ein Tier mit der Gestalt eines menschlichen Körpers angenommen“.[1] Das kirchliche Lehramt verwarf dann auch bereits auf dem 1. Konzil v. Konstantinopel (381 n. Chr.) den Apollinarismus (DH 151). Wichtig ist auch wieder die Entscheidung des Konzils von Chalzedon (451), Christus sei „vollkommen in der Menschheit … wahrhaft Mensch aus vernunftbegabter Seele und Leib“ (DH 301).
Die Apollinaristen versuchten zwar, Joh 1,14 („das Wort ist Fleisch geworden“) für sich in Anspruch zu nehmen, aber diese Stelle betont nur die wahre Leiblichkeit der Menschwerdung. Eine solche Synekdoche, bei der ein Teil für das Ganze steht, findet sich auch an anderen Stellen der Hl. Schrift, z. B. in Lk 3,6, wo es heißt: „Alles Fleisch wird das Heil Gottes schauen“.
Die Existenz der Seele Christi wird zudem in der Hl. Schrift deutlich gelehrt, etwa wenn Christus sagt: „Meine Seele ist betrübt bis in den Tod“ (Mt 26,38). Auch wenn Christus am Kreuz betet: „Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist“ (Lk 23,46), ist mit „Geist“ hier die Seele gemeint, denn der Tod besteht ja gerade in der Trennung von Leib und Seele. Die Existenz der Seele Christi ist Voraussetzung für das Dogma vom Abstieg Christi in die Unterwelt, denn es war die Seele Christi, die dort die verstorbenen Gerechten, die auf die Erlösung warteten, befreite.
Die Hl. Schrift berichtet außerdem, dass Christus über den Glauben des Hauptmanns von Kapharnaum staunte, dass er zornig wurde über das Markttreiben im Tempel und über die Verstocktheit der Pharisäer und Schriftgelehrten, dass er über den Tod des Lazarus trauerte und weinte. Staunen, Zorn und Trauer setzen aber eine Seele voraus. Ebenso heißt es von Christus oft, er habe gebetet. Beten aber konnte er nur als Mensch, nicht als Gott, und beten kann nur ein Wesen, das eine Geistseele hat. Ein Tier kann nicht beten.
Die Kirchenväter stellten im Kampf mit den Apollinaristen das Prinzip auf: „Was nicht von Christus aufgenommen wurde, wurde auch nicht geheilt.“ Christus ist nun aber nicht gekommen, um nur den Leib zu heilen, sondern den ganzen Menschen. Da es vor allem die Seele war, die gesündigt und die Gnade verloren hatte, musste sie auch in erster Linie geheilt werden. Daher war es angemessen, dass Christus als vollkommener Mensch erschien, um die Menschen zu erlösen.
Christus hat also einen wahren menschlichen Leib und eine menschliche Seele. Es gibt in ihm aber keine menschliche Person, denn die Person, der wir in Jesus Christus begegnen, ist die zweite göttliche Person. Wir können auch sagen: Es gibt in Christus kein menschliches Ich. Das Ich Christi ist das Ich der göttlichen Person. Darin besteht ja gerade die Menschwerdung, dass die zweite göttliche Person eine menschliche Natur aufgenommen hat und daher zwei Naturen besitzt. Göttliche und menschliche Natur sind in der zweiten göttlichen Person vereinigt, und darum ist Christus nicht ein gott-menschliches Mischwesen, sondern wahrhaft Gott und wahrhaft Mensch.
Die Stammeseinheit Christi mit uns
Gott hätte die Menschheit Christi unmittelbar erschaffen können. Dann wäre Christus zwar ein wahrer Mensch, aber kein Nachkomme Adams gewesen. Weil er aber aus der Jungfrau Maria geboren wurde – und nicht nur durch sie hindurchging, wie Valentin behauptete –, ist Jesus Christus wahrhaft ein Mensch aus unserem Geschlecht. So schreibt Ignatius v. Antiochien, Jesus sei „wahrhaft aus dem Geschlecht Davids dem Fleische nach ..., wahrhaft aus einer Jungfrau geboren“[2], und Irenäus v. Lyon bezeichnet die Menschwerdung als eine recapitulatio,[3] d. h., die Menschheit hat in Jesus Christus ein neues Haupt anstelle Adams bekommen. Christus ist der neue Adam. Damit ist aus dem Geschlecht, das durch den Teufel besiegt wurde und gesündigt hat, auch derjenige, der für die Sünde Sühne geleistet und den Teufel besiegt hat, hervorgegangen.
Anmerkungen
[1] De div. quest. 83, q. 80; PL 40,93.
[2] Brief an die Smyrnäer 1,1.
[3] Adv. haereses V, 14; III, 21,10.