Die Vorfastenzeit – Zusammenwirken von Gnade und Willen
Schon das gelasianische und das gregorianische Sakramentarium erwähnen den Zeitraum vor der Fastenzeit. (Diese beiden Sakramentarien sind Vorläufer unseres heutigen Messbuchs und wurden im 6. und 7. Jahrhundert in der Liturgie verwendet). Sie benennen die Wochen vor dem Aschermittwoch mit "Septuagesima".
Ostern ist das Zentrum
Mit dem Sonntag Septuagesima eröffnet die Liturgie den Osterfestkreis. Die Zahlenfolge weist klar auf den Mittelpunkt hin: Septuagesima, Sexagesima, Quinquagesima, Quadragesima und Pentekoste (Pfingsten). 70, 60, 50, 40 Tage vor und 50 Tage nach Ostern. Ostern ist das Zentrum, auf das alles hin geordnet ist und von dem aus alles Folgende fließt.
Ostern ist das Fest, an dem wir den Sieg der Gnade feiern. Am deutlichsten zeigt sich dies in den zwei Ständen der Urkirche, den Täuflingen und Büßern vor Ostern und den Getauften und Geheiligten nach Ostern. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Gnade bei den Christen eine Bekehrung bewirken und die Worte des heiligen Paulus wahr werden sollen: „Einst wart ihr Finsternis, jetzt seid ihr Licht im Herrn.“
Die Fastenzeit fordert den Menschen. Er muss sich die Gnade verdienen. Sie ist anspruchsvoll und rigide und steht so im Kontrast zur lieblichen Weihnachtszeit.
Pädagogik der Liturgie
Die Liturgie kennt den Menschen. Sie versteht, dass er seine Perspektive und sein Tun nicht augenblicklich ändern kann. Veränderung braucht Zeit. Und wo der Mensch sich ändern soll, will er das „warum?“ verstehen und das „wohin?“ kennen. Darum fügt die Liturgie die Vorfastenzeit zwischen die Weihnachts- und Fastenzeit ein.
Gnade und Wille
„Erschienen ist allen Menschen die Gnade Gottes“ (Tit. 2. 11). So haben wir an Weihnachten gebetet. An diesem Fest bricht Gott in die Welt. Die Liturgie schildert dieses Ereignis und erklärt, wie grundlegend die Gegenwart Gottes die Menschenleben verändern will. Die Weihnachtszeit ist so Zeit des göttlichen Wirkens.
Der Mensch sieht sich vor dem unaussprechlichen Angebot der Gnade Gottes, aber er kennt nur seine Welt. Die Fastenzeit ist Aufruf an ihn. Er weiß jetzt um die Gegenwart Gottes. Und er versteht, dass ein Leben ohne Gott nicht mehr möglich ist. Jetzt ist er gefordert! Aber was hat er zu tun? Was muss er in seinem Leben ändern? Was wird von ihm erwartet und wie wirkt die Gnade Gottes zusammen mit den menschlichen Mühen? Diese Fragen stellen sich ihm. Und die Antworten auf diese Fragen bestimmen die Gesetze für seine Anstrengungen während der Fastenzeit.
Die Liturgie der drei Sonntage der Vorfastenzeit führt den Christen ein in das Zusammenwirken von Gnade und Willen. Das sind die zwei großen Wirkenden, die zusammenkommen, um den Menschen grundlegend umzugestalten. Gott muss die Gnade geben, der Mensch muss sich auf ihren Empfang vorbereiten, sie annehmen und mit ihr mitwirken.
Kurz zusammengefasst schildern uns die drei Sonntage:
- Den Ruf Gottes und das Eintreten des Menschen in das Werk Gottes.
- Den Wert der Gnade und die richtige Einschätzung der menschlichen Arbeit.
- Die Liebe als das Herzstück allen wertvollen menschlichen Tuns.
Übergang und Einstimmung
Da diese Wochen Vorbereitung sind auf die eigentliche Fastenzeit, haben sie schon einiges mit ihr gemein. Ab dem Sonntag Septuagesima unterbleibt in allen Messen und im Gebet der Priester der Jubelruf des Alleluja und werden die Sonntags- und Wochentagsmessen in der Farbe violett gelesen.