Die Tugend des Glaubens: Die Privatoffenbarungen
Der Glaube ist der normale und am meisten verdienstliche Weg, um Gott zu erkennen. „Selig, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Christus zum Apostel Thomas (Joh 20,29). Aus dem Leben des hl. Königs Ludwig IX. von Frankreich wird berichtet, dass sich in einer Stadt, in der er sich gerade aufhielt, ein eucharistisches Wunder vollzogen habe. In einer Kirche sei in der konsekrierten Hostie das Bild des Heilands sichtbar geworden. Als man dem hl. König dies mitteilte, soll er geantwortet haben: Wer Zweifel am Sakrament der Eucharistie habe, solle hingehen und das Wunder schauen. Er selbst gehe aber nicht hin, denn er glaube auch ohne ein solches Wunder fest an die Gegenwart Christi in diesem Sakrament und wolle sich nicht das Verdienst des Glaubens mindern lassen.
Wunder, Visionen und besondere göttliche Mitteilungen sind etwas Außergewöhnliches und gehören nicht zum normalen Weg der Heiligkeit. Man soll sie sich darum auch nicht wünschen, wie alle geistlichen Lehrer betonen, da dies ein Zeichen von Stolz wäre und die Seele auf gefährliche Irrwege führen könnte. Trotzdem hat es solche Phänomene in der Kirchengeschichte zweifellos immer wieder gegeben.
Die Kirche verpflichtet allerdings niemanden zum Glauben an die Echtheit bestimmter außergewöhnlicher Phänomene, wohl aber urteilt sie darüber, ob ein Wunder echt oder eine Privatoffenbarung glaubwürdig ist.
Die Abgeschlossenheit der Offenbarung
Gegenstand der göttlichen Tugend des Glaubens ist die göttliche Offenbarung, wie sie in der Hl. Schrift und der Tradition niedergelegt ist und uns von der Kirche vorgelegt wird. Dies ist gewissermaßen die offizielle oder öffentliche Offenbarung. Diese ist seit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen. Der hl. Pius X. verurteilte in seinem Dekret Lamentabili die gegenteilige Behauptung: „Die Offenbarung, die den Gegenstand des katholischen Glaubens bildet, war mit den Aposteln nicht abgeschlossen“ (DH 3421).
Christus beauftragte die Apostel, die Völker zu lehren, alles zu halten, was er ihnen aufgetragen habe (Mt 28,20). Auch der Heilige Geist werde keine neuen Wahrheiten verkünden, sondern sie lehren und an alles erinnern, was er (Christus) ihnen gesagt habe (Joh 14,26). Der hl. Paulus mahnt seinen Schüler Timotheus, das anvertraute Gut, also den Schatz der Glaubenswahrheiten, treu zu bewahren (1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14), und schreibt sogar: „Wenn auch wir selbst oder ein Engel vom Himmel euch ein anderes Evangelium verkündeten, als wir euch verkündet haben: er sei verflucht“ (Gal 1,8).
Schon die Kirchenväter wiesen darum den Anspruch gewisser Häretiker, neue Offenbarungen zu besitzen, mit denen sie die Apostellehre verbessern könnten, entrüstet zurück, und das 1. Vatikanische Konzil erklärte dann, die von Gott geoffenbarte Glaubenslehre sei der Kirche nicht zur Vervollkommnung vorgelegt, sondern „als göttliche Hinterlassenschaft der Braut Christi anvertraut, damit sie treu gehütet und unfehlbar erklärt werde“ (DH 3020).
Es gibt in der Kirche unter der Führung des Heiligen Geistes also zwar eine Entfaltung und immer tiefere Durchdringung des Glaubensgutes, aber keine neuen Wahrheiten.
Die Aufgabe der Privatoffenbarungen
Welchen Sinn haben also nun die sog. Privatoffenbarungen, wenn sie den Schatz der Glaubenswahrheiten nicht vermehren sollen?
Ihre Aufgabe kann verschiedenartig sein. Manche geben uns eine lebendigere Vorstellung von einer Glaubenswahrheit oder vom Leben Christus. So wurde einigen Heiligen die Hölle oder das Fegefeuer gezeigt, manche hatten Schauungen über das Leben und Leiden Christi oder der Muttergottes.
Privatoffenbarungen können aber auch den Willen Gottes für besondere Zeiten oder Umstände angeben. So erhielten die hl. Birgitta und die hl. Katharina von Siena die Aufgabe, den Papst zur Rückkehr von Avignon nach Rom zu bewegen. Innozenz III. soll in einem Traum gemahnt worden sein, den Orden des hl. Franziskus anzuerkennen, da dieser die Kirche in den Stürmen der damaligen Zeit stützen werde. Durch die Offenbarungen an die hl. Margareta Maria Alacoque wurde die Herz-Jesu-Verehrung sehr gefördert, in mehreren Erscheinungen hat die Gottesmutter zum Gebet des Rosenkranzes aufgefordert, und in Fatima hat sie die Ausbreitung der Verehrung ihres Unbefleckten Herzens gewünscht. Privatoffenbarungen haben also öfters eine prophetische Aufgabe, denn wie im Alten Bund Gott seinem Volk immer wieder Propheten sandte, um die Israeliten zu ermahnen oder ihnen zu sagen, was er von ihnen wünschte, so gibt Gott auch im Neuen Bund seine Weisungen für eine bestimmte Zeit manchmal durch Menschen, die nicht zur kirchlichen Hierarchie gehören.
Die Glaubwürdigkeit der Privatoffenbarungen
Private Offenbarungen müssen auf ihre Echtheit geprüft werden, denn leicht können hier Einbildungen, Hirngespinste, Betrug oder sogar dämonische Einflüsse eine Rolle spielen. Wie im Alten Bund sog. Lügenpropheten auftraten, die dem Volk nach dem Mund redeten, so hat es auch im Neuen Bund schon zahlreiche falsche Mystiker und Visionäre gegeben. Die Kirche hat für die Prüfung dieser Phänomene verschiedene Kriterien aufgestellt, deren erstes und wichtigstes die Übereinstimmung mit dem Glauben der Kirche ist. Eine „Offenbarung“, die im Gegensatz zur definierten Lehre der Kirche steht, kann nicht von Gott kommen. Auch lächerliche und unpassende Verhaltensweisen der angeblichen Erscheinung werden eher zu einem negativen Urteil über die Echtheit eines Phänomens führen. Wenn z. B. den Seherkindern ganze Ziborien voll konsekrierter Hostien zu essen und volle Kelche mit dem kostbaren Blut zu trinken gegeben wurden – wie von einer Erscheinung berichtet wird –, dann ist deren Echtheit nahezu ausgeschlossen. Weitere Kriterien betreffen die Glaubwürdigkeit der Person, die die Offenbarung empfangen haben will. Ist sie als ehrlich und nüchtern bekannt, bildet sie sich etwas auf die Offenbarung ein, versucht sie daraus Vorteile für sich zu ziehen usw.?
Zu beachten ist außerdem, dass es auch bei echten mystischen Phänomenen oft zu einer Vermischung des göttlichen Einflusses mit menschlichen Gedächtnisinhalten oder Vorstellungen kommt, die die betroffene Person selbst nicht sicher auseinanderhalten kann. Bei rein geistigen Visionen muss der menschliche Geist auf jeden Fall die entsprechenden Erkenntnisbilder selbst bilden. Selbst echte göttliche Offenbarungen können darum Irrtümer oder wenigstens Ungenauigkeiten enthalten, weil der Empfänger etwas falsch aufgefasst oder unvollkommen wiedergegeben hat.
Anna Katharina Emmerich sagt z. B. ausdrücklich, dass sie sich in manchen Punkten nicht genau an das erinnert, was sie gesehen hat, oder sich nicht sicher ist, ob sie es richtig wiedergegeben hat. Bei den Berichten von ihren Schauungen kommt noch hinzu, dass der Dichter Clemens Brentano manches nach eigenem Gutdünken ergänzt hat, ohne es zu kennzeichnen. Aber auch die große hl. Theresa von Avila soll sich nicht sicher gewesen sein, ob alle ihre Visionen von Gott gekommen seien.
Aufgrund dieser Gründe sind Privatoffenbarungen nicht Gegenstand der göttlichen Tugend des Glaubens, sondern werden auf eine ähnliche Weise geglaubt, wie wir auch sonst dem ausdrücklichen Zeugnis vertrauenswürdiger Personen glauben.
Die richtige Haltung gegenüber den Privatoffenbarungen
Die Haltung der Kirche gegenüber den Privatoffenbarungen meidet die Extreme. Es ist weder richtig, sein religiöses Leben ganz auf ihnen aufzubauen, noch sie grundsätzlich zu verachten.
So wäre es z. B. falsch, die Schauungen einer Maria von Agreda oder Anna Katharina Emmerich höher zu schätzen als die Evangelien, denn die Heilige Schrift ist vom Heiligen Geist inspiriert und darum im eigentlichen Sinn Gottes Wort, was auf die genannten Visionen nicht zutrifft, in denen sogar Irrtümer enthalten sein können. Diese auf Visionen beruhenden Lebensbeschreibungen Christi oder Marias können helfen, sich die Ereignisse der Heilsgeschichte besser vorzustellen; man darf ihnen aber keine Unfehlbarkeit zuschreiben. Ähnliches gilt für andere Visionen und Prophezeiungen der Heiligen: Wenn sie von der Kirche gutgeheißen sind, darf man sie annehmen, sollte sich aber hüten, daraus Dogmen zu machen.
Die Approbation der Kirche zu einer Privatoffenbarung verbürgt normalerweise auch nur, dass in der entsprechenden Schrift oder Botschaft keine Irrtümer gegen den Glauben enthalten sind und sie bei rechter Auslegung von den Gläubigen mit Nutzen gelesen werden kann, keineswegs aber, dass alles, was in der Privatoffenbarung enthalten ist, absolut wahr sei.
Auf der anderen Seite wäre es zwar keine Sünde gegen den Glauben, sämtliche Privatoffenbarungen zu verwerfen, würde aber doch von einer unkirchlichen und rationalistischen Geisteshaltung zeugen. Da Gott auf diesem Weg manchmal seinen Willen für eine bestimmte Zeit kundgibt, würde man sich damit letztlich auch dem Willen Gottes widersetzen. So gibt es für einen Katholiken z. B. keinen vernünftigen Zweifel daran, dass Gott die Verehrung des Herzens Jesu und des Unbefleckten Herzens Marias sowie das Gebet des Rosenkranzes für unsere Zeit besonders wünscht. Besonders die Erscheinungen von Lourdes und Fatima wurden von so großen Wundern begleitet und von der Kirche so eindringlich empfohlen, dass es keinen Grund gibt, sie zu missachten.
Neueren und/oder von der Kirche nicht gutgeheißenen Erscheinungen und Offenbarungen gegenüber sollte man aber immer einen gewissen Vorbehalt machen, selbst wenn sie auf den ersten Blick hin dem katholischen Glauben völlig zu entsprechen scheinen.