Die Tugend der Liebe: Die Vermehrung der göttlichen Liebe
Gregor der Große - Lehrer der göttlichen Liebe
Von Pater Matthias Gaudron
Wie wir im ersten Teil gesehen haben, können wir die göttliche Liebe nicht aus uns allein hervorbringen, sondern diese Tugend wird uns zusammen mit der heiligmachenden Gnade von Gott geschenkt.
Die Liebe soll nun aber in uns wachsen, und das ist sogar die wichtigste Aufgabe unseres Lebens, denn gerade dadurch werden wir mehr mit Gott verbunden. Gott kann man sich nicht durch körperliche Schritte näheren, aber „profectibus cordis – durch Fortschritte des Herzens“,[1] wie der hl. Gregor d. Gr. sagt, was oft mit „gressibus amoris – durch Schritte der Liebe“ wiedergegeben wird. Die Vermehrung der göttlichen Liebe besteht darin, dass der Wille Gott immer tiefer lieben kann und immer mehr Kraft erhält, alles aus Liebe zu Gott zu tun, wohingegen seine Neigung zum Bösen schwächer wird. Dadurch wird unser Geist immer mehr mit Gott vereint. Wenn es keine Vermehrung der Liebe geben würde, gäbe es dagegen keinen geistlichen Fortschritt. Die Liebe ist also ein Weg, auf dem wir uns Gott nähern, und deshalb schrieb Paulus: „Ich will euch noch einen vorzüglicheren Weg zeigen“ (1 Kor 12,31), als er auf die Übung der Liebe hinwies.
Eine natürliche Tugend wird durch die Wiederholung der entsprechenden Akte erworben; sie ist ja nichts anderes als eine gute Gewohnheit. Wer beständig mäßig isst oder Alkohol trinkt, dem wird die Mäßigkeit mit der Zeit nicht mehr schwerfallen, denn sie ist ihm gewissermaßen zur zweiten Natur geworden. Der hl. Franz von Sales hatte ein zornmütiges Temperament, aber von ihm wird erzählt, er habe sich so sehr angewöhnt, seinen Mitmenschen freundlich und sanftmütig zu begegnen, dass manche ihn sogar für etwas phlegmatisch hielten.
Da die göttliche Liebe etwas Übernatürliches ist, kann sie nicht einfach durch eine Wiederholung von Akten vermehrt werden. Wie nur Gott die Tugend der Liebe in uns eingießen kann, so kann auch nur er sie vermehren. Unsere Akte der Liebe zu Gott und die guten Handlungen, die wir aus Liebe zu Gott tun, bewirken also nicht direkt eine Vermehrung der Liebe. Sie bereiten die Seele aber auf diese Vermehrung vor und verdienen sie.
Nach dem hl. Thomas v. Aquin verdient nun zwar jeder Akt der Liebe eine Vermehrung der Gnade und Tugend der Liebe, erlangt sie aber nicht immer sofort.[2] Er hat hierbei solche Akte und Werke der Liebe vor Augen, die ein wenig nachlässig und nicht mit ganzem Eifer verrichtet werden. Solche Akte sind gut und verdienstlich, bereiten aber nicht darauf vor, sofort eine Vermehrung der Liebe zu empfangen. Thomas weist darauf hin, dass in der Ordnung der Natur das Wachstum meist auch nicht kontinuierlich verläuft, sondern in Schüben. Außerdem wird die rein menschliche Liebe ebenso nicht durch halbherzige und laue, sondern nur durch feurige Liebesbeweise vertieft. So empfängt man also nach Thomas im geistlichen Leben die Vermehrung der Liebe, die man sich verdient hat, erst dann, wenn man sich durch einen feurigen Akt der Liebe dafür disponiert, z. B. bei einer eifrigen Kommunion, bei einem großherzigen Verzicht, dem tapferen Bestehen einer Prüfung oder spätestens beim Eintritt in das Jenseits.
Niemand kann immer mit voller Kraft voranschreiten; aber wer sich in schuldhafter Weise immer nur mit einem nachlässigen oder lauen Tun des Guten begnügt, begibt sich dadurch in die Gefahr, im geistlichen Leben nicht recht voranzukommen und sogar vom Geist der Liebe abzufallen, denn der Liebe ist es eigen, aufs Ganze zu gehen und alles zu durchdringen.
Gibt es eine Grenze des Wachstums?
Solange der Mensch hier auf Erden lebt, kann er in der Liebe wachsen, denn weil die Liebe eine Anteilnahme an der unendlichen Liebe Gottes ist, kann der Mensch dieser nie gleichkommen. Da der Mensch nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit hat, könnte man sich aber fragen, ob der Mensch vielleicht einmal in seinem Leben ein Maß der Liebe erreichen könne, das seine Aufnahmefähigkeit ganz ausfüllt, so dass er deswegen nicht weiterwachsen könnte. Thomas gibt darauf die schöne Antwort, dass die Liebe das Herz des Menschen weitet, damit es zu noch größerer Liebe fähig wird.[3] Mit dem Wachstum der Liebe wächst also auch die Fähigkeit, noch mehr Liebe aufzunehmen.
Erst der Tod setzt unserem Streben eine Grenze, denn mit dem Tod ist die Zeit unserer Pilgerschaft, in der wir uns bewähren sollen, abgeschlossen. Danach gibt es keine Möglichkeit mehr, etwas zu verdienen. Das Maß der Gnade und Liebe, das wir in unserer Todesstunde erlangt haben, bestimmt also unsere ganze Ewigkeit. Allerdings nehmen viele Theologen an, dass jedem Gerechten beim Eintritt in den Himmel noch eine Vermehrung der Liebe geschenkt wird, weil Gott uns über Verdienst belohnt. Dies kann man im Gleichnis von den zehn Minen angedeutet sehen, wie es Lk 19 erzählt wird. Der Knecht, der zehn Minen erwirtschaftet hat, wird über zehn Städte gesetzt, der fünf Minen dazugewonnen hat, über fünf Städte. So wie der Wert einer Stadt den einer Mine weit überragt, so wird auch unser Lohn bei weitem das übertreffen, was wir verdient haben.
Trotzdem kann es sein, dass manche Menschen schon hier auf Erden ein höheres Maß an Liebe haben als andere im Himmel. Freilich ist die himmlische Liebe immer in einem höheren Zustand als die irdische, insofern sie aus der unverhüllten Schau Gottes hervorgeht und ohne Unterbrechung oder Ablenkung beständig geübt wird.
Auf die Frage, ob die Liebe eines Menschen auf Erden vollkommen sein könne, antwortet Thomas mit einer Unterscheidung:[4]
Im eigentlichen Sinn wäre eine Liebe vollkommen, die Gott so sehr liebt, wie er es verdient. Da Gott jedoch unendlich liebenswürdig ist, übersteigt dies die Kraft eines jeden Geschöpfs.
In einem relativen Sinn vollkommen ist die Liebe, wenn sie ohne Ablenkung stets auf Gott ausgerichtet ist. Dies ist bei den Seligen des Himmels der Fall, auf Erden aber nicht möglich.
Die Vollkommenheit, welche die Liebe hier auf Erden erreichen kann, besteht darin, ganz für Gott frei zu sein und die Geschöpfe nur insoweit zu lieben oder zu gebrauchen, als es angemessen und notwendig ist, um seine Standespflichten zu erfüllen.
Jeder Mensch muss wenigstens darum kämpfen, nichts zu tun, zu denken oder zu wünschen, was der göttlichen Liebe entgegen, d. h. schwer sündhaft wäre, denn sonst könnte er nicht in der Liebe bleiben. „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt“, sagt der Heiland zu seinen Aposteln (Joh 14,21). Die Liebe der Anfänger zeigt sich darum zunächst vor allem im Kampf gegen die Sünde.
Kann die Liebe abnehmen?
Eine natürliche Tugend wird vermindert, wenn man weniger eifrige Akte setzt oder sogar ganz aufhört, sie zu üben. Da unsere menschlichen Akte aber nicht die Ursache der göttlichen Liebe sind, kann ein Nachlassen dieser Akte die Liebe an sich auch nicht vermindern. Gott allerdings könnte die Liebe zur Strafe für unsere lässlichen Sünden und Nachlässigkeiten vermindern. Da der Mensch sich durch eine lässliche Sünde aber nicht von Gott als seinem letzten Ziel abwendet, meint der hl. Thomas, dass solche Sünden das Maß der Liebe in uns nicht vermindern. Viele Theologen fügen noch hinzu, dass andernfalls eine Kette lässlicher Sünden die Liebe in uns ganz zerstören könnte. Die lässliche Sünde, die in uns den letzten Rest der Liebe zerstören würde, hätte dann die gleiche Wirkung wie eine Todsünde, was nicht sein kann.
Die lässlichen Sünden – vor allem wenn sie frei überlegt sind – und das Nachlassen in den Werken der Liebe vermindern aber das Feuer und die Wirksamkeit der Liebe. Nach einem treffenden Bild ist eine Seele, die wenig Eifer hat und ihre lässlichen Sünden leichtnimmt, wie eine Laterne, deren Fenster beschmutzt sind. Wie das Licht einer solchen Laterne nur matt leuchtet, so dringt auch die Liebe, die eine solche Seele noch hat, wenig nach außen. Sie macht deshalb nicht nur keine Fortschritte, sondern begibt sich zudem in die Gefahr, in die Todsünde zu fallen, denn die nicht bekämpften lässlichen Sünden führen oft zur schweren Sünde.
Der Verlust der Liebe
Durch jede schwere Sünde gehen die heiligmachende Gnade und die Liebe verloren. Deswegen wird die schwere Sünde auch Todsünde genannt, denn sie tötet das göttliche Leben in uns. Durch die schwere Sünde wendet der Mensch sich von Gott als seinem letzten Ziel ab, indem er etwas Geschaffenes Gott vorzieht. Dadurch setzt er dem Einfluss, durch den Gott in uns die Gnade und die Liebe erhält, ein Hindernis. Da unser Wille in diesem Leben wandelbar ist, gilt das Wort des hl. Paulus: „Wer meint zu stehen, sehe zu, dass er nicht falle“ (1 Kor 10,12). Erst wenn wir Gott unverhüllt schauen, wird unser Wille ihm unwandelbar anhangen, denn wer Gott schaut, erkennt klar, dass nichts erstrebenswert ist, was uns von ihm trennen oder auch nur die Beziehung zu ihm trüben könnte.
Auch in diesem Punkt sehen wir wieder einen Unterschied zu den natürlichen Tugenden. Da diese nichts anderes als gute Gewohnheiten sind, werden sie durch einen einzigen Akt nicht gleich zerstört. Wer z. B. ein einziges Mal zu viel gegessen oder getrunken hat, ist damit noch kein Fresser oder Säufer. Die übernatürliche Liebe kann dagegen nicht bestehen bleiben, wenn sich jemand von Gott abwendet. Immerhin bleibt einem solchen Menschen aber noch der Glaube, wenn er nicht gerade gegen diesen gesündigt hat. Dieser zeigt ihm, was er tun muss, um wieder in den Stand der Gnade und Liebe zu gelangen. Jemand, der nur ausnahmsweise schwer gesündigt hat, obwohl er normalerweise gegen die Sünde kämpft, behält zudem noch seine natürlich guten Gewohnheiten, wodurch es ihm leichter wird, sich von der Sünde wieder abzuwenden, als einem lasterhaften Menschen, der gewohnheitsmäßig in der Sünde lebt.
Wer mit wahrer und tiefer Reue seine Todsünde beichtet, muss auch nicht wieder von vorne anfangen, sondern erhält die Verdienste und das Maß der Liebe, das er vor dem Fall hatte, wieder zurück.
Da wir somit jeden Tag Gelegenheit haben, in Gottes Gnade und Liebe zu wachsen, sollten wir unsere Zeit hier gut nutzen. Die vielen Jahre unseres Lebens können uns leicht zu einem hohen Grad der Heiligkeit führen, selbst wenn wir keine Gelegenheit zu besonderen Heldentaten haben.
Anmerkungen
[1] Moralia XXI, 5; PL 76, 194.
[2] S Th II-II, q. 24, a. 6.
[3] Ebd. a. 7, ad 2.
[4] Ebd. a. 8.