Die Tugend der Liebe: 4. Das Hohe Lied der Liebe

Quelle: Distrikt Deutschland

Das 13. Kapitel des ersten Korintherbriefs wird oft als das Hohe Lied der Liebe bezeichnet. Es ist gewissermaßen das neutestamentliche Gegenstück zum Hohen Lied des Alten Testaments, das die Liebe zwischen Gott und der menschlichen Seele unter dem Bild der Liebe von Bräutigam und Braut besingt. Paulus zeigt hier, wie die anderen Tugenden erst durch die Liebe ihren wahren Wert erhalten, aber auch, wie die Liebe die Übung der anderen Tugenden verlangt.

Die Ausführungen des hl. Paulus stehen im Zusammenhang seiner Belehrung über die charismatischen Gaben. Diese außerordentlichen Gaben wie Zungenreden, Prophetie, Heilungsgabe usw. hatten in der jungen Gemeinde von Korinth einige Unordnung gebracht, denn sie waren der Anlass für Neid und Streit geworden. Am meisten schätzten die Korinther offenbar das Zungenreden, in dem sie wohl den höchsten Ausdruck religiöser Ergriffenheit sahen. Manche beneideten darum diejenigen, die diese Gabe hatten.

Demgegenüber schreibt Paulus: Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nur ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Wenn jemand also auch wie die Engel, die Gott schauen, seiner Ergriffenheit und Begeisterung Ausdruck verliehe, so wäre er ohne die Liebe doch nur ein tönernes Erz. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Gabe in diesem Fall ganz nutzlos wäre, das außerordentliche Gotteslob würde vielleicht andere zu Gott führen, aber dem Sprecher nützte es nichts. So sagt ein Sprichwort: Die Glocke ruft andere in die Kirche, sie selbst aber geht nicht hinein. Dies kann man auch auf glänzende Predigten anwenden: Ein Prediger wird nur in dem Maß selber Nutzen von seiner Predigt haben, als er dabei aus Liebe zu Gott und den Seelen handelt und nicht seine eigene Ehre sucht.

Das Gleiche gilt für die folgenden Charismen: Und wenn ich die Prophetengabe hätte und alle Geheimnisse durchschaute und alle Erkenntnis besäße, und wenn ich allen Glauben hätte, so dass ich Berge versetzte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Vor den Menschen würde jemand, der über die tiefsten Geheimnisse sprechen kann und einen wunderwirkenden Glauben besitzt, glänzen, vor Gott aber ist er ohne die Liebe nichts! Am Tage des Gerichts, sagt darum Christus, „werden viele zu mir sagen: ‚Herr, Herr, haben wir nicht in Deinem Namen geweissagt? Haben wir nicht in Deinem Namen Dämonen ausgetrieben? Haben wir nicht in Deinem Namen viele Machttaten vollbracht?‘ Dann werde ich ihnen antworten: ‚Ich habe euch nie gekannt! Hinweg von mir, ihr Übeltäter!‘“ (Mt 7,22 f.)

Auch äußerlich so glänzende Werke wie die Verteilung des eigenen Vermögens als Speise für die Armen und die Hingabe des Lebens sind ohne die Liebe wertlos: Und wenn ich meinen ganzen Besitz den Armen zuteilte und wenn ich meinen Leib den Flammen preisgäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es mir nichts. In der Literatur der damaligen Zeit finden sich einige rühmende Erwähnungen von Persönlichkeiten, die sich aus einem mehr oder weniger ehrenhaften Motiv freiwillig dem Feuertod überliefert hatten. Aber auch ein rein natürlicher Humanismus oder eine natürliche Tapferkeit haben vor Gott keinen bleibenden Wert, da ihnen die göttliche Liebe fehlt. Deutlich geht es hier immer wieder gegen die Korinther, die zu sehr den äußeren Glanz schätzten, sich oft aber sehr lieblos verhielten, wie der Brief mehrfach zeigt.

Im Folgenden zählt Paulus 15 Merkmale der göttlichen Liebe auf und zeigt damit, wie die Liebe auch die Übung der anderen Tugenden verlangt: Die Liebe ist langmütig, die Liebe ist gütig, die Liebe ist nicht eifersüchtig. Sie prahlt nicht, überhebt sich nicht, sie handelt nicht unschicklich, sucht nicht das Ihre, kennt keine Erbitterung, trägt das Böse nicht nach. Am Unrecht hat sie kein Gefallen, freut sich aber an der Wahrheit. Alles erträgt sie, alles glaubt sie, alles erhofft sie, alles erduldet sie.

Nach dem hl. Thomas v. Aquin besteht jede Tugend darin, dass jemand sich gut verhält im Ertragen des Übels und im Tun des Guten. So werden zuerst Langmut und Güte als Eigenschaften der Liebe angeführt. So wie die Liebe Gottes zu uns oft als langmütig gerühmt wird, muss es auch bei uns sein, d. h., die Liebe darf nicht gleich ins Gegenteil umschlagen, wenn sie nicht erwidert oder sogar missbraucht wird. Gütig ist die Liebe, weil sie anderen Gutes tut. Sie verschenkt ihren eigenen Reichtum. Lieben heißt, jemandem Gutes wünschen und Gutes tun. Das ist unabhängig von rein natürlicher Sympathie.

Eifersucht ist eine Verfallsform der Liebe. Hier ist wohl vor allem das Beneiden der Gaben anderer gemeint. Wahre Liebe ist nicht prahlerisch und bläht sich nicht auf. Sie behandelt den anderen als Gleichen oder erniedrigt sich sogar unter ihn, macht sich zum Diener.

Die Liebe gibt auch ein feines Gespür für das, was schicklich und passend ist, und zwar besser als weltmännische Umgangsformen oder Benimm-Regeln. Überhaupt sucht sie im Umgang mit den anderen nicht den eigenen Vorteil. Sie macht den anderen nicht nur zum Mittel für die eigene Lust oder den eigenen Vorteil (wie z. B. bei einer Geschäftsfreundschaft). Sie lässt sich sogar über erlittenes Unrecht nicht verbittern. Wer sich angesichts einiger schmerzlicher Erfahrungen verbittert zurückzieht, hat zu wenig Liebe! Die Liebe rechnet das Böse nicht an, ist immer zum Verzeihen bereit und sucht selbst Entschuldigungsgründe für den Nächsten, wie es Christus am Kreuz oder der hl. Stephanus in seiner Todesstunde taten: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht was sie tun“ (Lk 23,34). „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ (Apg 7,60).

Die Liebe freut sich nicht am Unrecht, sei es aus purer Freude am Bösen oder weil dadurch die eigene Vortrefflichkeit umso heller leuchtet. Sie freut sich aber, wo immer in der Welt die Wahrheit über den Irrtum und die Lüge siegt, wo immer die Wahrheit erkannt und anerkannt wird.

Das alles erträgt sie kann man auch übersetzen: „alles deckt sie zu“, nämlich die Fehler anderer. So sprechen wir davon, etwas „mit dem Mantel der Liebe zuzudecken“.

Alles glaubt sie: Die Liebe führt uns dem Nächsten gegenüber zur Einfachheit und zur grundsätzlichen Bereitschaft, ihm zu glauben, ohne freilich die Klugheit auszuschalten. Es ist nicht gegen die Liebe, jemandem zu misstrauen, der sich wiederholt als unzuverlässig und lügnerisch gezeigt hat. Aber eine grundsätzlich misstrauische und argwöhnische Haltung gegenüber dem Nächsten zeugt sehr wohl von einem Mangel an Liebe. Die Liebe erhofft auch für den Nächsten immer das Beste, sie verzweifelt vor allem nicht an seinem Heil. Diese Hoffnung haben besonders die Mütter, und auch die Seelsorger müssen sie haben, da sie sehr oft viel Grund zur Sorge um das Heil der ihnen Anvertrauten haben. Die Liebe gibt zudem die Kraft, Dinge zu ertragen, unter denen man sonst zusammenbrechen würde. Wer liebt, hat mehr Kraft, Energie und Ausdauer. Für jemanden, den man liebt, kann man Dinge tun, für die man bei einem anderen keine Kraft hätte.

Vor allem ist die Liebe ewig, wohingegen die Charismen, aber auch alle Ämter und Aufgaben in Kirche und Welt – egal wie wichtig und hochstehend sie sein mögen – aufhören werden. Sie sind nur für diese Weltzeit gegeben und werden im Himmel nicht mehr benötigt: Die Liebe hört niemals auf; Prophetengaben verschwinden, Sprachengaben hören auf, Erkenntnis vergeht. Denn Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser Prophezeien. Kommt aber das Vollkommene, vergeht das Stückwerk.

Die Gotteserkenntnis in dieser Welt ist nur unvollkommen. Wenn die vollkommene Erkenntnis der seligen Gottesschau kommt, wird die unvollkommene, auf den Glauben gestützte Erkenntnis aufhören. Die Liebe dagegen wird im Jenseits zwar auch dem Grad nach gesteigert und intensiver, bleibt aber wesenhaft dieselbe. Die Ersetzung der mittelbaren und dunklen Gotteserkenntnis des Diesseits durch die unmittelbare und klare Schau Gottes erläutert Paulus durch einen Vergleich: Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte ich wie ein Kind, urteilte ich wie ein Kind. Als ich ein Mann geworden war, legte ich das Kindhafte ab. Jetzt schauen wir durch einen Spiegel, unklar, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Noch ist mein Erkennen Stückwerk, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin.

Ein Kind kann noch nicht richtig reden, es brabbelt. Es kann noch viel weniger die Dinge richtig beurteilen. Es fehlt ihm der Blick auf das Ganze und Wesentliche sowie die Erfahrung. Es nützt z. B. meist nichts, ein Kind durch Argumente überzeugen zu wollen, nicht zu viel Schokolade zu essen. Der Erwachsene ist dagegen nicht nur ein großes Kind, sondern hat eine andere Weise gefunden, die Welt zu erkennen und zu beurteilen. So gibt es auch einen wesentlichen Unterschied zwischen der Glaubenserkenntnis des Diesseits und dem unverhüllten Schauen im Himmel. Unsere Gotteserkenntnis ist jetzt nur mittelbar (per speculum, spiegelhaft – manche denken hier an das unvollkommene Bild, das die antiken Metallspiegel zurückwarfen) und rätselhaft (in aenigmate), im zukünftigen Leben dagegen unmittelbar (facie ad faciem – von Angesicht zu Angesicht). Jetzt ist unsere Erkenntnis nur Stückwerk, dann aber werden wir Gott so vollkommen erkennen, wie er uns erkennt.

Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei. Am höchsten aber steht die Liebe. – Noch ist dieser glückliche Zustand für uns nicht gekommen. Für die jetzige Zeit bleiben die drei göttlichen Tugenden als notwendige und wesentliche Grundkräfte. Nicht alle Christen besitzen charismatische Gaben oder wichtige Ämter in der Kirche, und das ist auch nicht notwendig. Den Glauben, die Hoffnung und die Liebe müssen dagegen alle besitzen und üben. Die größte von diesen dreien ist die Liebe. „Am Ende unseres Lebens werden wir nach der Liebe gerichtet werden“, sagt die hl. Theresia v. Kinde Jesu. Das Maß der Liebe entspricht dem Maß der heiligmachenden Gnade, das wir besitzen, und danach wird sich der Grad unserer Seligkeit im Himmel richten. Alles andere wird dann unwichtig und nebensächlich sein. Streben wir also nach der Liebe, nicht nach einer sentimentalen und süßlichen, sondern nach einer wahren und starken Liebe, die auch große Leiden erträgt und trotz Widerwärtigkeiten anderen Gutes tut.