Die Tugend der Liebe: 3. Die Ordnung in der Liebe
Da die göttliche Liebe nicht etwas Sinnliches und Leidenschaftliches ist, sondern eine Tätigkeit unseres geistigen Willens, soll sie in der rechten Weise geordnet sein. Die kirchlichen Schriftsteller wenden hier gern ein Wort der Braut im Hohelied (2,4) an, wo sie gemäß dem Text der lateinischen Vulgata über den Bräutigam sagt: „Er hat meine Liebe geordnet.“ So sollen auch wir Christus bitten, unsere Liebe zu ordnen.
Gott
Gott muss an erster Stelle und über alles geliebt werden. Christus antwortet auf die Frage des Pharisäers, welches das größte Gebot im Gesetz sei: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand“ (Mt 22,37). Er sagt auch: „Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert. Und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert“ (Mt 10,37).
Gott muss über alles geliebt werden, weil er über alles gut und liebenswert ist und weil er unser Schöpfer und unser Ziel ist. Die göttliche Liebe richtet sich ja hauptsächlich auf ihn, und die anderen Menschen sind nur wegen ihrer Beziehung zu Gott ebenfalls Objekt der göttlichen Liebe.
Allerdings steht der Nächste uns insofern näher, als wir ihn sehen, wohingegen Gott unsichtbar ist. Darum ist die natürliche Liebe eines Menschen zu seinem Ehepartner oder zu seinen Kindern gefühlsmäßig oft stärker und intensiver. Dies ist eine Unvollkommenheit, die im gegenwärtigen Zustand unserer Natur begründet ist. Es ist aber so lange keine Sünde, als man den anderen Menschen nicht mehr wertschätzt als Gott. Das Gebot der Gottesliebe erfüllt daher, wer entschlossen ist, eher den liebsten Menschen zurückzuweisen, als eine Sünde zu begehen. Die Heilige Schrift gibt hierzu ein negatives Beispiel im König Salomon, von dem sie sagt, dass er sich in seinem Alter von seinen Frauen zum Götzendienst verführen ließ (1 Kön 11,4). Da Salomon als überaus weise geschildert wird, kann man kaum glauben, dass er die Götzen für wahre Götter hielt. Er verehrte sie vielmehr, um seinen Frauen einen Gefallen zu tun.
Man muss Gott auch mehr lieben als sich selbst, d. h. eher Leiden und Nachteile ertragen als Gott beleidigen. Der hl. Thomas weist darauf hin, dass schon die natürliche Liebe, wenn sie unverdorben ist, das Allgemeinwohl mehr liebt als das eigene Privatwohl.[1] So opfern sich z. B. die Soldaten, um ihr Vaterland zu verteidigen. Umso mehr muss für die göttliche Liebe gelten, dass sie Gott, der das höchste Gut ist, mehr liebt als sich selbst. Wer Gott nur so lange liebt, als es ihm dabei gutgeht, ordnet Gott seinem eigenen Wohl unter.
Sich selbst
Da man, nach dem Wort Christi, den Nächsten lieben soll wie sich selbst (Mt 22,39), ist die rechte Selbstliebe die Wurzel der Nächstenliebe. Kraft der rechten Selbstliebe wünscht man sich alles, was man zur Vervollkommnung seiner Natur und zur Erreichung seines Zieles braucht, nämlich ein genügendes Maß an materiellen Gütern, eine unseren Fähigkeiten entsprechende Ausbildung, vor allem aber die Gnade Gottes. Diese Güter wünschen wir dann auch dem Nächsten.
Da die göttliche Liebe sich auf alle erstreckt, die zu Gott gehören, so sollen wir uns vor allem als Kind und Freund Gottes betrachten und um dessentwillen lieben.
Auch unseren Leib sollen wir lieben, insofern er von Gott geschaffen wurde und von uns für den Dienst Gottes gebraucht werden kann. „Gebt eure Glieder Gott als Werkzeuge der Gerechtigkeit hin“, fordert uns der hl. Paulus auf (Röm 6,13). Als Lohn dafür soll der Leib dann nach der allgemeinen Auferstehung am Jüngsten Tag verklärt werden und die Glückseligkeit der Seele soll auch auf ihn überfließen.
Die falsche Selbstliebe, der Egoismus strebt dagegen vor allem nach sinnlichen und körperlichen Gütern und hat zudem oft keine Hemmung, sich diese Güter auch auf unrechte Weise zu beschaffen. Dadurch erreicht der Mensch aber gerade nicht die Vollkommenheit, die ihm von Gott bestimmt ist. Die Weltsicht des Egoisten ist ein Irrtum, aus der es einmal ein böses Erwachen geben wird. „Wer die Ungerechtigkeit liebt, hasst seine eigene Seele“, heißt es darum im Ps 10,5.
Den Nächsten
In seinen Abschiedsreden sagte der Heiland: „Ein neues Gebot gebe ich euch: Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben. Daran sollen alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr untereinander Liebe habt“ (Joh 13,34 f.). Die göttliche Liebe muss so hervorstechend sein, dass man den Jünger Christi daran erkennen kann. Nach dem Zeugnis der Apostelgeschichte waren die Gläubigen in der Jerusalemer Urgemeinde tatsächlich „ein Herz und eine Seele“ (4,32). Tertullian schreibt, die Heiden hätten in Bezug auf die Christen gesprochen: „Seht, wie sie einander lieben (sie selbst hassen nämlich einander), und wie sie bereit sind, füreinander zu sterben (sie selbst sind nämlich eher bereit, einander zu töten.“[2] Der Apostel Johannes entfaltet diese Lehre in seinem ersten Brief 2,7–11 und 3,10–18. Nach einer von Hieronymus überlieferten Legende wiederholte der alte Johannes immer nur die Worte: „Kindlein, liebet einander.“ Als seine Schüler ihn fragten, warum er immer dasselbe sage, soll er geantwortet haben: „Weil es ein Gebot des Herrn ist und, wenn es getan wird, genügt.“[3]
Das Christentum hat die Nächstenliebe in die Welt gebracht, denn im Heidentum gab es niemanden, der für Gotteslohn Kranke pflegte, Waisen aufnahm und Kinder unterrichtete, wie es vor allem die Ordensleute getan haben.
Auch die Sünder sind von dieser Liebe nicht auszuschließen, da sie immer noch des ewigen Lebens fähig sind. Freilich sollen wir sie nicht lieben, insofern sie Sünder sind. Die christliche Nächstenliebe hält die Mitte zwischen einem pharisäischen Hochmut, der mit Sündern nichts zu tun haben will, und der liberalen Gleichgültigkeit, für die jeder nach seiner Façon selig werden soll. Der Sünder muss umkehren, um das Heil erlangen zu können. Wir sollen also die Sünde in ihm hassen, ihn selbst aber lieben. Das Gebet und Opfer für die Bekehrung der Sünder – wie es die Muttergottes in Fatima in besonderer Weise gewünscht hat – ist darum eine wichtige Tat der Nächstenliebe.
Aus dem gleichen Grund dürfen wir selbst unsere Feinde nicht hassen, denn Christus sagt: „Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“ (Mt 5,44). Wenigstens in allgemeiner Weise muss man für sie beten, und von Wohltaten, die man z. B. einer Gemeinschaft erweist, darf man sie nicht ausschließen. Man muss auch bereit sein, einem Feind zu Hilfe zu kommen, wenn er in große materielle oder geistliche Not geraten ist, wie der hl. Paulus im Anschluss an Sprichwörter 25,21 lehrt: „Wenn deinen Feind hungert, gib ihm vielmehr zu essen; dürstet ihn, so gib ihm zu trinken. Indem du das tust, sammelst du glühende Kohlen auf sein Haupt. Lass dich nicht vom Bösen überwinden, sondern überwinde das Böse durch das Gute“ (Röm 12,20 f.).
Außerhalb besonderer Not ist man allerdings nicht verpflichtet, einem Feind besondere Zeichen der Liebe zu geben. Wenn manche Heilige ihre Feinde behandelt haben, als wären sie ihre größten Wohltäter, gaben sie damit jedoch ein Beispiel für die Vollkommenheit der Liebe.
Nächsten-, nicht Fernstenliebe
Da die christliche Liebe eine Nächsten- und nicht eine Fernstenliebe sein soll, haben diejenigen, mit denen wir in besonderer Weise verbunden sind, auch den ersten Anspruch auf unsere Liebe. Es wäre also keine große Nächstenliebe, wenn jemand zwar den Armen in fernen Ländern große Summen spenden, gleichzeitig aber die eigenen Eltern notleiden lassen oder mit seinen Nachbarn in beständigem Streit leben würde. Wir sollen also unserer Familie und unseren Freunden zuerst Gutes tun, ebenso denen, die mit uns im Glauben verbunden sind. So schreibt der hl. Paulus: „Lasst uns das Gute wirken gegen alle, am meisten aber gegen die Hausgenossen des Glaubens“ (Gal 6,10). Durch die Taufe sind wir mit den anderen Gläubigen in Christus eingepflanzt worden und bilden mit ihnen eine Familie, die das gemeinsame Haus Gottes, die Kirche, bewohnt.
Das soll natürlich nicht bedeuten, dass wir die Armen in fernen Ländern vergessen dürfen. Da in unseren Ländern normalerweise niemand allzu große materielle Not leiden muss, sollen wir den Armen in anderen Ländern selbstverständlich etwas von unserem Überfluss abgeben.
Nach einem schönen Bild des hl. Paulus gleicht jemand, der seinen Nächsten Gutes tut, einem Sämann. „Wer spärlich sät, wird spärlich ernten; wer in Segensfülle sät, wird in Segensfülle ernten“ (2 Kor 9,6).
Die unvernünftige Kreatur?
Da die unvernünftigen Geschöpfe keinen Anteil am göttlichen Leben und der ewigen Seligkeit haben, können wir sie nicht auf die gleiche Weise lieben wie Engel und Menschen. Wir können sie aber lieben, insofern sie Güter sind, die wir anderen wünschen und die wir zur Ehre Gottes und zum Nutzen der Menschen gebrauchen wollen, denn auf diese Weise liebt auch Gott sie: „Du liebst alles, was ist, und verabscheust nichts von dem, was du geschaffen hast“ (Weish 11,27).
So liebte der hl. Franz von Assisi die Gestirne, Blumen, Tiere etc., insofern sie von Gott erzählen und seine Herrlichkeit verkünden, wovon sein „Sonnengesang“ ein beeindruckendes Beispiel ist: „Sei gelobt, mein Herr, mit all Deinen Kreaturen. Sonderlich mit der hohen Frau, unserer Schwester, der Sonne, die den Tag macht und mit ihrem Licht uns leuchtet, wie schön in den Höhn und prächtig in mächtigem Glanze bedeutet sie, Herrlicher, Dich! …“
Anmerkungen
[1] S Th II-II, q.26, a.4.
[2] Apol. 39; PL 1, 471.
[3] Ad Gal. III, 6,10; PL 26, 261.