Die Tugend der Liebe: 1. Das Wesen der göttlichen Liebe

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Pater Matthias Gaudron

Die göttliche Tugend der Liebe wird vom hl. Thomas von Aquin als eine Freundschaft zwischen Gott und Mensch bestimmt.[1] In der Hl. Schrift wurde schon Abraham ein „Freund Gottes“ genannt (Jak 2,23; vgl. Is 41,8; Jud 8,22) und ebenso Moses (Ex 33,11). Die Schrift lehrt auch, dass man durch die Weisheit die Freundschaft Gottes erwirbt (Weish 7,14), und beim Letzten Abendmahl nennt Christus die Apostel nicht mehr Knechte, sondern Freunde (Joh 15,15).

 

 

Eine übernatürliche Freundschaft

Da eine Freundschaft auf einem gemeinsamen Gut gegründet ist, unterscheidet man seit Aristoteles drei Arten der Freundschaft: die oberflächliche, bloß zum gemeinsamen Vergnügen geschlossene Freundschaft, die Nutzfreundschaft (z. B. eine Geschäftsfreundschaft) und schließlich die edle Freundschaft, die in der gemeinsamen Liebe zum wahren Guten begründet ist. Für die göttliche Liebe kommt natürlich nur die letzte dieser drei Arten in Frage.

Die wahre Liebe zu Gott ist darum nicht so sehr eine begehrende Liebe, sondern eine Liebe des Wohlwollens und Wohlgefallens, denn sie betrachtet Gott nicht als Gut für uns (das ist eher bei der Tugend der Hoffnung der Fall), sondern liebt ihn um seiner selbst willen, und zwar über alles, d. h. über alle geschaffenen Güter. Gott ist unendlich gut und liebenswürdig und muss daher um seiner selbst willen geliebt werden. Wirklich haben viele Heilige gesagt, sie würden Gott auch lieben, wenn er keinen Himmel versprochen hätte, und sie würden ihm dienen, selbst wenn es keine Hölle gäbe.

Gott muss auch mehr als alle Geschöpfe geliebt werden, denn was diese an Gutem und Liebenswürdigem haben, stammt wie aus seiner Quelle von Gott. Natürlich kann das Geschöpf Gott nicht etwas geben, was dieser noch nicht hätte, aber wir wünschen ihm doch alle Ehre und Verherrlichung. Umgekehrt schenkt Gott uns in dieser Freundschaft das Höchste, was er geben kann, nämlich die Teilnahme an seinem eigenen Leben.

Die übernatürliche Liebe zu Gott hat also ihr Fundament in unserer Anteilnahme am göttlichen Leben, die uns durch die heiligmachende Gnade bereits hier geschenkt wird und im Himmel ihre volle Entfaltung finden wird. Darum sind Gnade und Liebe auch so eng verbunden, dass sie nicht getrennt werden können. Im Gegensatz zum Glauben und zur Hoffnung kann die göttliche Liebe nicht ohne die heiligmachende Gnade bestehen. Umgekehrt hat der, der in der Gnade ist, immer auch die Tugend der Liebe.

Die Tatsache, dass wir an der göttlichen Natur und am göttlichen Leben Anteil nehmen können, ist auch die Antwort auf einen Einwand, den man gegen die Möglichkeit einer Freundschaft zwischen Gott und Mensch gemacht hat. Man hat eingewendet, zur Freundschaft brauche es eine gewisse Gleichheit der Freunde, der Abstand zwischen Gott und Mensch sei aber unendlich groß. In der Tat wäre im Stand der reinen Natur eine eigentliche Freundschaft zwischen Gott und Mensch wohl nicht denkbar. Der Mensch könnte Gott hier nur als seinen guten und gerechten Herrn lieben, nicht aber als Freund. Durch die heiligmachende Gnade wird der Mensch jedoch auf die Höhe Gottes gehoben, soweit dies für ein Geschöpf überhaupt möglich ist, und somit gibt es damit auch die Möglichkeit einer wahren Freundschaft zwischen Gott und Mensch. Natürlich ist dies keine Freundschaft zwischen völlig Gleichgestellten, aber eine Freundschaft zwischen einem Höher- und einem Niedergestellten kann es ja auch unter uns Menschen geben.

Da die göttliche Tugend der Liebe etwas Übernatürliches ist, kann der Mensch sie nicht aus eigener Kraft hervorbringen; sie muss ihm von Gott geschenkt werden. Darum schreibt der hl. Paulus: „Die Liebe Gottes ist in unsere Herzen ausgegossen durch den Heiligen Geist“ (Röm 5,5). Die übernatürliche Liebe ist also eine von Gott geschenkte Fähigkeit, durch die unser Wille Gott über alles lieben kann. Sie ist eine Anteilnahme an der Liebe, mit der Gott sich selbst und alles Geschaffene liebt. Damit ist sie etwas wesentlich Höheres als eine rein menschliche Liebe, zu der der Mensch durch seine natürlichen Kräfte geneigt und befähigt ist.

Die Nächstenliebe

Die christliche Nächstenliebe ist keine zweite Art der Liebe, sondern gehört zur selben göttlichen Tugend. Es ist nämlich nur eine Liebe, mit der wir Gott und den Nächsten lieben sollen. Gott sollen wir um seiner selbst willen lieben, den Nächsten dagegen, weil er ein Geschöpf Gottes ist, zum selben Ziel berufen wie wir, und weil Christus auch für ihn gelitten hat. Es geht also im Christentum nicht um eine bloß natürliche Menschenliebe, einen Philanthropismus, sondern um eine übernatürliche Liebe. Natürlicherweise können uns nicht alle Menschen sympathisch sein, aber um Gottes willen können wir allen Gutes wünschen und, je nach Gelegenheit, auch Gutes tun – selbst unseren Feinden.

Die Nächstenliebe wird im Neuen Testament sehr häufig eingeschärft. Sie ist nämlich der Prüfstein der Gottesliebe. In Bezug auf Gott können wir uns leicht Illusionen machen. So glaubten die Pharisäer, sie würden Gott lieben, aber gerade in ihrer Verachtung der einfachen Leute und der Sünder zeigte sich, dass sie keine wahre Liebe hatten. Darum schreibt der hl. Apostel Johannes: „Wenn jemand sagt: ‚Ich liebe Gott!‘, aber seinen Bruder hasst, so ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er vor Augen hat, kann Gott nicht lieben, den er nicht vor Augen hat. Und dieses Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, liebt auch seinen Bruder“ (1 Joh 4,20 f.).

Die höchste Tugend

Die Liebe ist die höchste Tugend, weil erst sie den Menschen wirksam auf sein letztes Ziel ausrichtet. Ein Mensch in der schweren Sünde ist nicht auf das wahre Gute ausgerichtet, sondern letztlich auf sein privates Wohl. Das heißt nicht, dass er deshalb ein durch und durch schlechter Mensch sein muss. Er kann natürlich gute Eigenschaften haben, ein tapferer Soldat, ein guter Arzt oder ein hilfsbereiter Nachbar sein. Aber ohne die Gnade und Liebe Gottes ist er nicht im Vollsinn ein guter Mensch, und das wird man wenigstens in Krisenzeiten auch merken. Goethe dichtete zwar: „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“, aber ohne die göttliche Liebe hat der Mensch gar nicht die Kraft, auch in schwierigen Situationen dem Guten treu zu bleiben, sondern wird sein privates Wohl vorziehen.

Der hl. Paulus betont im 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs eindrücklich, wie selbst glänzende Predigten, ein bergeversetzender Glaube und heroische Werke der Hilfsbereitschaft oder Tapferkeit dem Menschen nichts nützen, wenn sie nicht von der göttlichen Liebe beseelt sind:

„Wenn ich mit Menschen- und Engelszungen redete, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nur ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich die Prophetengabe hätte und alle Geheimnisse durchschaute und alle Erkenntnis besäße, und wenn ich allen Glauben hätte, so dass ich Berge versetzte, hätte aber die Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich meinen ganzen Besitz den Armen zuteilte und wenn ich meinen Leib den Flammen preisgäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es mir nichts.“

Die Liebe ordnet die Akte der anderen Tugenden erst wirksam auf Gott hin und macht sie dadurch übernatürlich gut und verdienstlich. Die Liebe verlangt auch die Akte der anderen Tugenden, denn wer Gott liebt und seinen Willen erfüllen will, der muss auch die anderen Tugenden üben. Er muss sich bemühen, im Umgang mit den anderen Menschen gerecht zu sein, seine Leidenschaften zu bezähmen, den Notleidenden zu helfen usw. In diesem Sinn sagt man, dass die Liebe die Form aller Tugenden sei.

Die Erhabenheit der Liebe gegenüber den beiden anderen göttlichen Tugenden zeigt sich auch in ihrer ewigen Dauer, denn der Glaube und die Hoffnung werden im jenseitigen Leben aufhören. Der Glaube wird in die Schau Gottes übergehen, und die Hoffnung hört auf, weil sie erfüllt ist, weil die Seligen nun alles besitzen, was sie erhofft haben. Die Liebe dagegen wird zwar noch gesteigert werden, bleibt aber wesentlich dieselbe wie auf Erden. Daran erkennt man auch, dass hier auf Erden unsere Gottesliebe vollkommener ist als unsere Gotteserkenntnis. Diese beruht auf dem Glauben, und dieser zeigt uns Gott immer nur im Spiegel der Geschöpfe. Wir können uns von Gott nur einen Begriff machen, indem wir Eigenschaften, die wir aus der Schöpfung kennen, auf ihn übertragen. Wir schlussfolgern dann, dass Gott größer und schöner sein muss als alle seine Geschöpfe, aber wir können ihn in diesem Leben nicht sehen, wie er wirklich ist. Die irdische Gottesliebe muss sich auf diese unvollkommene Gotteserkenntnis stützen, da niemand lieben kann, was er nicht wenigstens unvollkommen kennt. Aber es ist doch schon die Liebe zum wahren Gott und nicht nur zu seinem unvollkommenen Bild, die uns hier beseelen soll. Auch wenn wir Gott nur unvollkommen erkennen können, können wir ihn doch schon wahrhaft lieben. Darum kann der hl. Paulus schreiben: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; die größte aber von diesen ist die Liebe“ (1 Kor 13,13).

 

Anmerkungen

[1] S Th II-II, q.23, a.1