Die Tugend der Hoffnung: 1. Das Wesen der Hoffnung
Von Pater Matthias Gaudron
Die Hoffnung ist die zweite göttliche Tugend. Betrachten wir zuerst, in welchem Verhältnis die drei göttlichen Tugenden zueinander stehen: Der Glaube zeigt uns die übernatürliche Welt und damit auch das Ziel unseres Lebens. Weil er uns eine Erkenntnis gewährt, hat er seinen Sitz im Verstand, obwohl es bei ihm auch eine Beziehung zum Willen gibt, denn dieser darf sich dem Glauben nicht verschließen. Die Hoffnung und die Liebe sind dagegen Tugenden des Willens. Die Hoffnung lässt uns nach dem Ziel streben, das der Glaube uns zeigt, und die Liebe will uns mit diesem Ziel vereinigen. Die Hoffnung betrachtet also Gott als ein Gut, das wir erlangen möchten, während die übernatürliche Liebe ihn um seiner selbst willen liebt.
Es ist offensichtlich, dass der Glaube die erste göttliche Tugend ist, weil es ohne ihn keine Hoffnung und keine Liebe geben kann. Es könnte nun scheinen, dass die Hoffnung die Liebe voraussetzt, da man nur erhofft, was man liebt. Es ist aber doch eher so, dass die Hoffnung uns von Gott Gutes erhoffen lässt. Wir hoffen, den Himmel mit der Hilfe Gottes erlangen zu können. Weil wir von Gott Gutes erhoffen, fangen wir dann aber auch an, ihn um seiner selbst willen zu lieben. Darum ist die Hoffnung die zweite göttliche Tugend.
In der Ordnung der Vollkommenheit ist jedoch zweifellos die Liebe die erste Tugend. Erst durch sie werden Glaube und Hoffnung vollkommene Tugenden, denn wie der hl. Paulus sagt, würde uns selbst ein Berge versetzender Glaube ohne die Liebe nichts nützen (1 Kor 13,2). Auch die Hoffnung kann ohne die Liebe bestehen. Ein katholischer Todsünder behält normalerweise nicht nur den Glauben, sondern auch die Hoffnung, denn sonst würde er nicht zur Beichte gehen und keinen Neuanfang machen. Wie die Tugend des Glaubens nur durch eine schwere Sünde gegen den Glauben verloren geht, so verliert man auch die Tugend der Hoffnung nur durch eine schwere Sünde gegen die Hoffnung.
Die Tugend der Hoffnung und die natürliche Hoffnung
Die Tugend der Hoffnung lässt uns also die ewige Seligkeit erhoffen, und zwar aufgrund der Hilfe Gottes. Wir hoffen, Gott selbst zu besitzen, aber nicht aufgrund unserer eigenen Tüchtigkeit, sondern aufgrund seiner Hilfe. Das ist das eigentliche Wesen dieser göttlichen Tugend. Der Hebräerbrief hat für sie das schöne Bild des Ankers:
„Weil nun Gott den Erben der Verheißung die Unwandelbarkeit seines Willens beweisen wollte, hat er sich mit einem Eid verbürgt, damit wir an zwei unwandelbaren Tatsachen, in denen Gott nicht täuschen konnte, einen festen Rückhalt haben, wenn wir uns an die vor uns liegende Hoffnung klammern. Sie ist für unsere Seele ein sicherer, fester Anker, der hinter den Vorhang bis in das Innere hinein reicht, wohin als Vorläufer Jesus für uns eingegangen ist“ (Hebr 6,17–20).
Unser irdisches Leben soll also durch die Hoffnung schon fest im Himmel verankert sein.
Die natürliche Hoffnung ist dagegen an sich keine Tugend, sondern wird von den Scholastikern zu den Passiones, den Leidenschaften gerechnet. Wer ein Gut erstrebt, das zwar schwierig zu erlangen ist, aber doch als erreichbar eingeschätzt wird, hat diese natürliche Hoffnung. Diese kann gut oder schlecht sein. Die Hoffnung Napoleons, sich ganz Europa zu unterwerfen, war keine Tugend, sondern Unrecht und Anmaßung. Die Hoffnung eines Generals, sein Vaterland erfolgreich gegen einen ungerechten Angriff zu verteidigen, ist dagegen gut. Auch die Hoffnung eines Studenten, eine Prüfung zu bestehen, kann gut oder schlecht sein, je nach den Absichten und Umständen. Wenn er z. B. hoffen würde, die Prüfung ohne jede Vorbereitung zu bestehen, wäre das nicht gut, sondern vermessen. Garrigou-Lagrange meint, die gute natürliche Hoffnung sei ein Element der moralischen Tugend der Großmut, durch die jemand danach strebt, in seinem Leben Großes zu tun.[1] Ein Arzt, der hofft, vielen Kranken helfen zu können, oder ein Politiker, der für die Gesellschaft viel Gutes tun möchte, haben also eine Hoffnung, die gut ist, aber das ist nicht die göttliche Tugend der Hoffnung.
Weil die Tugend der Hoffnung die ewige Seligkeit zum Gegenstand hat, lehrt Thomas v. Aquin, dass Christus diese Tugend nicht hatte,[2] da seine Seele schon während seines irdischen Lebens die selige Anschauung des göttlichen Wesens besaß. Zwar konnte Christus andere Dinge erhoffen, wie seine Auferstehung, die Verherrlichung seines Leibes, die Rettung vieler Sünder usw., aber das sind nur sekundäre Gegenstände der Hoffnung. Wie beim Glauben so ist es also auch hier wieder die allerseligste Jungfrau Maria, die die Tugend der Hoffnung im höchsten Maß besaß.
Liegt in der Hoffnung eine Unvollkommenheit?
Gegen die Hoffnung als Tugend stellten sich im 17. Jh. die Quietisten, die die Lehre von der Passivität der Seele gegenüber Gott so übertrieben, dass manche ihrer Autoren behaupteten, die Seele dürfe überhaupt keine Anstrengungen machen, um nach Gott zu streben, und sich noch nicht einmal gegen Versuchungen wehren. Manche Quietisten wendeten zudem ein, es wäre eine verkehrte Ordnung, wenn wir Gott für uns erhofften, da Gott dadurch uns untergeordnet werde.
Auch der Semi-Quietismus des französischen Bischofs Fénelon (1651–1715) wurde verurteilt. Dieser ließ sich vom Motiv der völligen Uneigennützigkeit in die Irre führen und geriet darüber mit Bossuet in eine heftige Kontroverse. Fénelon meinte, die Seele verliere, wenn sie zur Vollkommenheit gelangt sei, jedes Interesse am ewigen Heil und liebe Gott allein um seiner selbst willen. Nur die spes perfecta (die vollkommene Hoffnung) würde in den Vollkommenen bleiben, d. h. die Hoffnung, dass die Verheißungen Gottes in Erfüllung gehen. Die vollkommene Seele hoffe also nur um Gottes willen und zu seiner Verherrlichung, zu den Auserwählten zu gehören, sie erhoffe die Seligkeit aber nicht als Gut für sich.
Der Irrtum lag hier in der Meinung, dass in der Hoffnung auf die Seligkeit immer etwas Egoistisches bzw. Ungeordnetes liege. Die reine Liebe, die Gott um seiner selbst willen liebt, ist aber nicht gegen die Hoffnung, sondern die Hoffnung ist dieser Liebe untergeordnet. Wir lieben also Gott nicht bloß deshalb, weil er uns belohnt – das wäre tatsächlich noch eine unvollkommene Liebe –, sondern wegen seiner Güte. Es ist aber keine Unvollkommenheit, wenn wir uns die Erreichung des Zieles wünschen, das Gott selbst uns gegeben hat und das wir mit seiner Hilfe erreichen sollen. Schließlich verspricht Christus selbst im Evangelium mehrmals denen, die ihm treu gedient haben, den himmlischen Lohn. Die vollkommene Hoffnung überlässt es dann aber ganz Gott, wann und wie wir das Ziel des Himmels erreichen.
Die Sehnsucht nach dem Himmel scheint sogar etwas Gott sehr Wohlgefälliges zu sein. So schreibt Paulus z. B. in 2 Kor 5,2–8:
„Darum seufzen wir jetzt voll Sehnsucht, mit unserem himmlischen Haus überkleidet zu werden … Solange wir noch im Zelt leben, seufzen wir bekümmert; denn wir möchten nicht entkleidet, sondern überkleidet werden, damit so das Sterbliche vom Leben verschlungen werde. … Darum sind wir allezeit voll Zuversicht. Wir wissen ja: Solange wir im Leib sind, sind wir Pilger, fern vom Herrn. – Wir wandeln noch im Glauben, nicht im Schauen. – Doch sind wir voll Zuversicht. Freilich möchten wir lieber das Heim des Leibes verlassen und daheim sein beim Herrn.“
In den Offenbarungen der Schwester Marie de la Croix über das Fegfeuer heißt es sogar, dass es ein Fegfeuer der Sehnsucht gebe, in dem die Seelen keine Strafen erleiden, sondern nur die fehlende Sehnsucht nach dem Himmel nachholen müssen, weil selbst gute Christen sich oft in dieser Welt zu sehr zu Hause fühlen.[3]
Wahr ist allerdings, dass mit dem geistlichen Fortschritt und dem Wachstum der Liebe die Unvollkommenheiten zurückgehen, die mit der Hoffnung anfangs verbunden sind, also eine gewisse Selbstsucht und mangelnde Bereitschaft zum Leiden. So schreibt wieder der hl. Paulus in Phil 1,23 f.: „Es zieht mich nach beiden Seiten hin: Ich habe das Verlangen, aufzubrechen und bei Christus zu sein; denn das wäre weitaus das Beste, aber euretwegen ist das Verbleiben im Fleisch notwendiger.“ Ähnliches lesen wir im Brevier vom hl. Martin von Tours. Er soll auf dem Sterbebett gesagt haben: „Herr, wenn ich deinem Volk noch notwendig bin, scheue ich die Mühe nicht.“ Auch der Pfarrer von Ars sagte, er wäre bereit, bis ans Ende der Welt zu leiden, wenn er dadurch auch nur eine Seele mehr retten könnte.
Die Hoffnung wird mit dem Wachstum der Liebe also nicht kleiner, sondern größer und reiner, so wie alle übernatürlichen Tugenden zusammen mit der Liebe wachsen. Je mehr man Gott liebt, desto mehr hofft man auch auf seine Hilfe, so wie man mehr auf die Hilfe eines Freundes hofft als auf die eines anderen Menschen.
Die Kontroverse zwischen Fénelon und Bossuet, in der letzterer Recht hatte, wurde im Übrigen von diesem nicht immer mit der nötigen Ruhe geführt, während sich Fénelon der Verurteilung vorbildlich unterwarf und sogar selbst die Bulle seiner Verurteilung von der Kanzel verlas.
Anmerkungen
[1] De virtutibus theologicis, S. 308.
[2] S Th III, q.7, a.3.
[3] Sr. Marie de la Croix: Stimme aus dem Jenseits, Gröbenzell 1979.