Sola scriptura – die Schrift allein?
Martin Luther – ein Reformator?
Beiträge zum Lutherjahr
Sola scriptura – die Schrift allein?
Von Pater Matthias Gaudron
Martin Luther erklärte in seinem Streit mit dem kirchlichen Lehramt – Anlass war die Lehre vom Ablass –, er wolle sich keiner Autorität beugen als der Heiligen Schrift. Luther beteuerte anfangs zwar seine Ergebenheit gegenüber dem Heiligen Stuhl, nach der Veröffentlichung der Lehrentscheidung Papst Leos X. über die Ablassfrage erklärte er jedoch, zum Widerruf nur bereit zu sein, wenn man ihm aus der Heiligen Schrift des Irrtums überführte. Damit war das protestantische Sola scriptura-Prinzip der Sache nach aufgestellt.
Auch auf dem Reichstag zu Worms antwortete Luther auf die Frage, ob er seine Schriften widerrufen wolle: „Werde ich nicht durch Zeugnisse der Schrift oder klare Vernunftgründe überzeugt – denn ich glaube weder dem Papst noch Konzilien allein, da es am Tage ist, dass sie öfter geirrt haben –, so bleibe ich überwunden durch die von mir angeführten Schriftstellen und mein Gewissen gefangen durch Gottes Wort.“
Bis heute erkennen die Protestanten darum nur die Heilige Schrift als Quelle der Offenbarung an. Betrachtet man jedoch die Anfänge des Christentums, sieht man leicht die Einseitigkeit und Willkürlichkeit dieser Haltung. Die Bibel enthält nämlich nicht wie ein Katechismus oder dogmatisches Lehrbuch in systematischer Form alle Glaubenswahrheiten des Christentums, sondern gerade die neutestamentlichen Schriften sind gemäß den Bedürfnissen der schon bestehenden christlichen Gemeinden entstanden. Diese Gemeinden wurden durch die Predigt der Apostel gegründet. Es gab also die Kirche schon, bevor es das Neue Testament gab, dessen früheste Schriften in den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts entstanden sein dürften. Die Briefe der Apostel wurden anlässlich aktueller Probleme geschrieben und setzen ihre Predigt voraus. Der hl. Paulus schreibt z. B. in 1 Kor 11,34: „Das Übrige werde ich anordnen, wenn ich komme“, was klar die Unvollständigkeit seines Briefes und die Notwendigkeit mündlicher Unterweisung zum Ausdruck bringt. Auch die Evangelien erheben nirgendwo den Anspruch auf Vollständigkeit. Im Gegenteil heißt es in Joh 21,25: „Es gibt noch vieles andere, was Jesus getan hat. Wollte man das im Einzelnen niederschreiben, so könnte, glaube ich, selbst die Welt die Bücher nicht fassen, die man schreiben müsste.“
„Der Glaube kommt vom Hören“ (Röm 10,17), nicht vom Lesen, und den Vorrang der mündlichen Überlieferung kann man auch an folgenden Worten des hl. Paulus an seinen Schüler Timotheus ablesen: „Was du vor vielen Zeugen von mir gehört hast, das vertraue zuverlässigen Menschen an, die fähig sind, auch andere zu lehren“ (2 Tim 2,2).
Auch bei den Kirchenvätern findet sich nirgendwo die Meinung, man müsse sich die Inhalte des Glaubens aus der Heiligen Schrift zusammensuchen. Kennzeichnend für ihre Haltung ist ein Wort des hl. Athanasius, wenn er schreibt: „Unser Glaube ist der rechte, denn er nimmt seinen Ursprung sowohl aus der apostolischen Lehre als auch aus der Überlieferung der Väter; er erhält seine Bestätigung aus dem Neuen und dem Alten Testament.“ [1] Prof. Michael Fiedrowicz kommentiert dies folgendermaßen:
Als erste, grundlegende Erkenntnisquelle der Glaubenswahrheit galt den Kirchenvätern die Überlieferung, wie sie sich in der Kirche von den Aposteln herleitete. Als schriftlicher Niederschlag dieser Überlieferung dienten die biblischen Urkunden dazu, sich nochmals in anderer Weise jener Wahrheiten zu vergewissern, die schon zuvor im Glaubensbewusstsein der Kirche gegenwärtig waren.“[2]
Vor allem ist es die Überlieferung, die uns sagt, welche Bücher zur Heiligen Schrift gehören. Es gibt ja noch andere, sog. apokryphe Schriften, die z. T. auch den Anspruch erheben, von einem Apostel oder Apostelschüler geschrieben worden zu sein, von der Kirche aber nicht als echt anerkannt wurden. In den ersten Jahrhunderten herrschte sogar eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf einige dieser Schriften: So sah man teilweise den Klemensbrief, den Barnabasbrief und den Hirten des Hermas für inspiriert an, zweifelte aber an der Zugehörigkeit z. B. des Hebräerbriefs, des 2. Petrusbriefs oder der Apokalypse zum Kanon. Letztlich haben auch die Protestanten die Schrift von der Kirche empfangen. Es waren vor allem zwei Synoden, die hier eine wichtige Rolle spielten: die Synode von Hippo (393) und die von Karthago (397). Beide schickten ihren Beschluss zur Bestätigung nach Rom.
Luthers Umgang mit der Schrift
Trotz der Hochschätzung Luthers für die Heilige Schrift war sein Umgang mit ihr überraschend willkürlich. So fügte er in seiner Übersetzung von Röm 3,28 eigenmächtig das Wort „allein“ ein, um seine Lehre von der Rechtfertigung allein aus dem Glauben zu verdeutlichen. Als man ihn deswegen angriff, erwiderte er: „Wenn sich euer Papist sich viel unnötig ereifern will mit dem Wort ‚sola‘ (allein), so sagt ihm flugs dies: Doktor Martinus Luther will’s so haben und spricht: Papist und Esel sei dasselbe. Sic volo, sic jubeo, sit pro ratione voluntas (so will ich, so befehle ich, es stehe für den Grund der Wille)“ (Sendbrief vom Dolmetschen 1530). Das Gleichnis vom reichen Prasser und armen Lazarus (Lk 16,19 ff.) bezeichnete er als „ein ‚rechtes Pfaffen- und Mönchsevangelium‘ (WA 10, III, 273), ‚der zänkischen Evangelien eins‘ (WA 29, 488), das ‚der Satan als Beweis anführt‘ (WA 12,646)“. Auch sonst konnte er den Text für seine Auffassung vereinnahmen. So wurde aus „Leben“ in seiner Übersetzung oft „ewiges Leben“, auch wenn das gar nicht dastand, aus „Erbarmen“ wurde „Gnade“ usw.
Luther machte auch Unterschiede zwischen den einzelnen Büchern des NT, indem er das Johannesevangelium den anderen vorzog, die Paulusbriefe zu den besten Schriften rechnete, den Jakobusbrief dagegen als „recht stroherne Epistel“ bezeichnete, weil er seinem Begriff von der Rechtfertigung widersprach. Der Hebräer- und der Judasbrief sowie die Apokalypse gehörten ebenfalls zu den von Luther wenig geschätzten Schriften, ohne dass er sie im eigentlichen Sinn für unkanonisch erklärte. Seine Haltung zu ihnen blieb unklar.
Es zeigte sich natürlich schnell, dass die Schrift keineswegs ihren Sinn jedem Leser klar und zweifellos offenbarte, wie Luther anfangs meinte. Die Wiedertäufer beriefen sich gleich ihm auf innere göttliche Belehrung – wer hatte nun Recht? Zudem konnten auch seine Gegner ihm – beispielsweise in der Frage des allein rechtfertigenden Glaubens und der Nutzlosigkeit der Werke – Schriftstellen entgegenhalten. In diesem Fall berief sich Luther einfach auf Christus: „Du Papist pochest fast (sehr) mit der Schrift, welche doch unter Christo als ein Knecht ist, daran kehre ich mich gar nichts. Ich aber trotze auf Christum, der der rechte Herr und Kaiser ist über die Schrift. Ich frage gar nichts nach allen Sprüchen der Schrift, wann du ihrer noch mehr wider mich aufbrächtest; denn ich habe auf meiner Seite den Meister und Herrn der Schrift, mit dem will ich’s halten“ (Kommentar zum Galaterbrief). So lautet auch die 49. Promotionsthese vom 11. September 1535: „Wenn die Gegner die Schrift nötigen gegen Christus, so werden wir Christus nötigen gegen die Schrift.“ Im Grunde beanspruchte Luther die der Kirche abgesprochene Auslegungshoheit der Schrift für sich selber. Immer wieder versicherte er, seine Lehre komme vom Himmel und durch göttliche Eingebung, sein Wort sei Christi Wort und sein Mund der Mund Christi, Christus selbst habe ihn zu seinem Propheten und Evangelisten berufen, und wer seine Lehre nicht annähme, sei unfehlbar verdammt. So schrieb er z. B. am 5. März 1522 an den sächsischen Kurfürsten Friedrich den Weisen:
„E.K.F.G. (= Euer Kurfürstliche Gnaden) weiß, oder weiß sie es nicht, so laß sie es ihr hiemit kund sein, daß ich das Evangelium nicht von Menschen, sondern allein vom Himmel durch unseren Herrn Jesum Christum habe, daß ich mich wohl hätte mügen (wie ich denn hinfort tun will) einen Knecht und Evangelisten rühmen und schreiben.“
Die Bedeutung der Heiligen Schrift
Die Bibel ist ein einzigartiges Buch, mit dem sich keine andere Schrift – und sei sie auch von großen Heiligen oder Visionären geschrieben – vergleichen lässt, denn nur von der Heiligen Schrift gilt, dass der Heilige Geist den menschlichen Autor so geführt hat, dass das Geschriebene im eigentlichen Sinn Gottes Wort ist. Wenn sich aus den oben genannten Gründen auch nicht alle Offenbarungswahrheiten in der Heiligen Schrift finden und die katholische Kirche darum von zwei Quellen der Offenbarung, der Tradition und der Schrift, spricht, so kann man doch mit dem großen Theologen Matthias Scheeben sagen, dass „in der Schrift alle Gebiete der offenbarten Wahrheiten wenigstens berührt und weitaus die meisten einzelnen Wahrheiten virtuell ausgesprochen oder doch angedeutet“ sind.[3]
Würden die bibelgläubigen Protestanten die Heilige Schrift nur so ernst nehmen, wie sie behaupten, würde diese sie zur Kirche führen. Das ist in manchen Fällen auch geschehen. Benedikt XVI. sagt z. B. über den Exegeten Heinrich Schlier, er sei „auf typisch protestantische Weise“ katholisch geworden, „nämlich allein durch die Schrift“.[4] Ein neueres Beispiel ist der ehemalige Pastor Scott Hahn. Er gesteht, in einem Seminar durch die Frage eines Studenten aus der Fassung gebracht worden zu sein, wo denn die Bibel lehre, dass „die Schrift allein“ die Quelle der Offenbarung sei. Er konnte darauf keine Antwort finden. Die Bibel lehrt im Gegenteil in 2 Thess 2,15: „So steht denn fest, Brüder, und haltet euch an die Überlieferungen, in denen ihr mündlich oder schriftlich von uns unterwiesen worden seid“, was genau der katholischen Lehre entspricht. In 1 Tim 3,15 wird zudem die Kirche als die „Säule und Grundfeste der Wahrheit“ bezeichnet, nicht die Heilige Schrift.[5] Er berichtet auch, dass er in einem Seminar, das er über das Joh.-Ev. abhielt, mit dem sechsten Kapitel nicht zurechtkam, da hier offensichtlich die katholische Auffassung von der wirklichen Gegenwart Jesu in der Eucharistie gelehrt wird, während die meisten Protestanten nur eine symbolische Gegenwart annehmen. Er schreibt: „So machte ich, was jeder Pastor und Seminarprofessor tun würde, wenn er nicht seine Stelle verlieren will: Ich brach meine Predigtreihe über das Johannesevangelium am Schluss des 5. Kapitels ab und ging in meinem Unterricht praktisch lautlos über Kapitel 6 hinweg.“[6]
Allerdings kam das Schriftprinzip im Protestantismus selbst durch die Bibelkritik des 18./19. Jahrhunderts ins Wanken. Die Bibel galt nun nicht mehr als Gottes Wort und das NT nur noch als eine Sammlung von lange nach dem Tod Christi abgefassten Berichten von höchst zweifelhaftem historischen Wert. Das Bild Christi, das die Evangelien bieten, sei vom späteren Glauben geformt worden und entspreche nicht dem historischen Jesus usw. Somit sind diejenigen, die in der Heiligen Schrift Gottes verbindliches Wort sehen, im heutigen Protestantismus in der Minderheit.
Anmerkungen
[1] Ep. Adelph. 6, zitiert nach: Fiedrowicz, Theologie der Kirchenväter, 2. Aufl., Freiburg: Herder 2010, S. 44.
[2] Ebd.
[3] Scheeben, Handbuch der Dogmatik, I, S. 141.
[4] Benedikt XVI., Letzte Gespräche, Droemer: München 2016, S. 138.
[5] Scott und Kimberly Hahn: Unser Weg nach Rom, 4. Aufl., Stein a. Rhein: Christiana, S. 66 f.
[6] Ebd., S. 65.