So muss unsere Liebe zum Nächsten sein: stark, glühend, gediegen und beständig
Der hl. Paulus empfiehlt mit bewundernswerten Ausdrücken im Brief an die Epheser: „Geliebte, wandelt auf dem Weg gegenseitiger Liebe als vielgeliebte Kinder Gottes; wandelt auf ihm, wie Jesus Christus gewandelt ist, Der Sein eigenes Leben für uns hingegeben hat, als Er sich Gott, Seinem Vater als Brandopfer und als duftende, wohlgefällige Opfergabe dargebracht hat.“
Wie liebenswert und wie erwägenswert sind diese Worte! Das sind ganz goldene Worte, durch die uns der große Heilige begreiflich machen will, wie unsere Eintracht und unsere gegenseitige Liebe beschaffen sein muß. Eintracht und gegenseitige Liebe sind ein und dasselbe; denn das Wort Eintracht bezeichnet die Einheit der Herzen; und Liebe, Zuneigung aus Wahl, ist Einheit der Neigungen. Er wollte uns anscheinend erklären, was der Heiland beabsichtigte, als Er Seinen himmlischen Vater bat, dass wir alle eins seien, d. h. einig, wie Er und Sein Vater eins sind…
Warum hat nun Unser Herr gewollt, daß wir einander so lieben, und warum, fragt die Mehrzahl der heiligen Väter, war Er so darauf bedacht, uns dieses Gebot als dem Gebot der Gottesliebe gleichwertig einzuschärfen? Das ist doch sehr erstaunlich, wenn man sagt, daß diese zwei Gebote gleichwertig sind, weil das eine darauf abzielt, Gott zu lieben, das andere das Geschöpf. Gott ist unendlich, das Geschöpf begrenzt. Gott ist die Güte selbst und von Ihm kommt uns alles Gute zu; der Mensch ist voll Bosheit und von ihm geschieht uns soviel Böses; das Gebot der Nächstenliebe enthält ja auch die Liebe der Feinde. Mein Gott, welches Mißverhältnis im Gegenstand der einen und der anderen Liebe! Und doch sind die beiden Gebote in der Weise gleichartig, als das eine nicht ohne das andere bestehen kann. Die eine muß notwendig untergehen oder zunehmen, sobald die andere abnimmt oder wächst, wie der hl. Johannes sagt…
Die ersten Christen hatten eine so glühende Liebe füreinander, daß alle ihren Willen und ihre Herzen auf heilige Weise miteinander verbunden und vereint hatten. Diese heilige Verbindung und Vereinigung brachte aber keinerlei Nachteil, denn es konnte dabei weder Uneinigkeit noch Trennung geben… Was aber eine so große Einheit unter ihnen bewirkte, meine Lieben, das war nichts anderes als die heilige Kommunion (Apg 2,42; 1 Kor 10,17). Als sie aufhörte oder seltener wurde, begann die Liebe bei den Christen im gleichen Maß zu erkalten und sie verlor sehr an Kraft und Anmut…
Unser göttlicher Meister hat Sein Leben nicht nur für uns hingegeben, indem Er es damit verbrachte, die Kranken zu heilen, Wunder zu wirken und uns zu belehren, was wir tun müssen, um das Heil zu erlangen und Ihm wohlgefällig zu sein. Er hat es vielmehr auch hingegeben, indem Er während dessen ganzer Dauer das Kreuz zimmerte, da Er abertausend Verfolgungen sogar von denen erduldete, denen Er so viel Gutes tat, für die Er Sein Leben hingab. Wir müssen es ebenso machen, sagt der Apostel, d. h. wir müssen unser Kreuz zimmern, einander ertragen, wie es uns der Heiland gelehrt hat, müssen unser Leben hingeben selbst für jene, die es uns nehmen möchten, wie Er es so liebevoll getan hat. Wir müssen es für den Nächsten einsetzen nicht nur in angenehmen Dingen, sondern in den beschwerlichsten und unangenehmsten, wie liebevoll die Verfolgungen zu ertragen, die unsere Liebe zu unseren Brüdern irgendwie erkalten lassen könnten…
Am Fuß des Kreuzes müssen wir uns ständig aufhalten als an dem Ort, an dem die Nachahmer unseres erhabenen Meisters und Erlösers hauptsächlich ihren Aufenthalt nehmen. Hier empfangen sie ja dieses himmlische Öl der heiligen Liebe, das wie eine heilige Quelle mit aller Macht dem Herzen des göttlichen Erbarmens unseres gütigen Gottes entströmt. Er hat uns geliebt mit einer so starken, beständigen, so glühenden und beharrlichen Liebe, daß selbst der Tod sie nicht erkalten lassen konnte, sondern sie im Gegenteil angefacht und grenzenlos vermehrt hat. Die Wasser der bittersten Trübsal vermochten das Feuer seiner Liebe zu uns nicht auszulöschen, so glühend war sie; und die schlimmsten Verfolgungen seiner Feinde waren nicht stark genug, um die unvergleichliche Gediegenheit und Festigkeit der Liebe zu überwinden, mit der er uns geliebt hat. So muß unsere Liebe zum Nächsten sein: stark, glühend, gediegen und beständig.
2.Teil einer Predigt des hl. Franz von Sales zum 3. Fastensonntag, Annecy, 27. Februar 1622
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