Sind wir Gehorsam schuldig? Predigt von Bischof Vitus Huonder
Am Sonntag, den 15. Mai 2022, predigte der emeritierte Bischof von Chur, Msgr. Vitus Huonder, über den Gehorsam in der Kirche.
Während des von ihm zelebrierten Sonntagshochamts in der Kirchengemeinde Sancta Maria im Schweizer Wil legte er folgende Überlegungen zu dieser schönen Tugend vor:
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.
Im Herrn Geliebte!
„Darum sei jeder Mensch schnell zum Hören, langsam aber zum Reden und langsam zum Zürnen“, sagt uns der heilige Jakobus in seinem Brief heute [am 4. Sonntag nach Ostern] im 1. Kapitel, 19. Vers.
Der heilige Jakobus macht uns aufmerksam auf das Hören. Das bedeutet natürlich das aufmerksame Hören. Wir sollen bereit sein, aufmerksam zu hören. Wichtig ist das Hören auf Gottes Wort, d. h. auf Gott selber, denn das Wort Gottes kommt von Gott. Es geht also um das Hören auf Gott, um das Hören auf das Wort Gottes.
Dabei geht es nicht nur um das Hören, sondern um das folgsame Hören. Und dieses folgsame Hören nennen wir Gehorsam. Das Wort „Gehorsam“ leitet sich eben von dem Verb „hören“ ab und ist – wie ich eben sagte – ein folgsames „Hören“. Durch Gehorsam nehmen wir das Gehörte an, leben danach und führen es aus. Das ist Gehorsam: folgsames Hören.
Der Gehorsam hat einen besonderen Stellenwert im Vollzug des Glaubens. „Gehorsam des Glaubens“ nennt ihn der heilige Paulus. Diesen Gehorsam schulden wir auch jenen gegenüber, welche die Verantwortung für den Glauben, für die Reinheit des Glaubens und für die Weitergabe des Glaubens tragen. Und diese sind vor allem der Papst und die Bischöfe. So lesen wir im Kompendium der christlichen Lehre von Papst Pius X. [3. Abschnitt, 1.Teil, § 4, Nr. 211] die Worte: „Jeder Gläubige, ob Geistlicher oder Laie, muss seinen Bischof achten, ehren und lieben und ihm in allem, was sich auf die Seelsorge und die geistliche Regierung der Diözese bezieht, Gehorsam leisten.“
So haben wir es als Kinder und Jugendliche zu unserer Zeit im Katechismusunterricht gelernt.
Damit ihr, liebe Gläubige, die Tragweite dieser Aussage versteht und das Gesagte auch richtig einordnen könnt, möchte ich euch ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit vorlegen.
Mit dem Motu proprio Traditionis custodes schränkt der Papst für den Klerus und für die Gläubigen die Feier der überlieferten heiligen Messe ein. Die Bischöfe sind aufgerufen diese Einschränkung, die einem Verbot gleichkommt, wirksam umzusetzen.
Die Absicht dieser Anordnung ist – fraglos – die gänzliche Unterdrückung der Liturgie der Tradition. Also in Zukunft soll es eigentlich – das ist der Gedanke – eine solche Liturgie, wie wir sie heute feiern, nicht mehr geben.
Nun kommt die Frage des Gehorsams.
Jeder Gläubige und Geistliche muss seinen Bischof achten, ehren und lieben und ihm in allem, was sich auf die Seelsorge und die geistliche Regierung der Diözese bezieht, Gehorsam leisten.
Wenn vom Bischof die Rede ist, dann gilt dies selbstverständlich umso mehr vom Papst, dem Bischof von Rom, dem Haupt der Bischöfe.
Ihr seht somit, meine Lieben, wie wichtig es ist, den Gehorsam richtig zu verstehen. Dazu möchte ich euch ein klärendes Wort geben, weil viele doch in unserer Zeit bedrängt sind, eben gerade wegen dem Gehorsam.
Ein klärendes Wort dazu:
Es gibt dem Papst und den Bischöfen gegenüber – auch einem Priester gegenüber – keinen absoluten Gehorsam.
Es gibt dem Papst und den Bischöfen gegenüber – und auch einem Priester gegenüber – nur einen relativen Gehorsam.
Auch einem Ordensoberen gegenüber gibt es nur einen relativen Gehorsam, nicht einen absoluten.
Wenn wir diesen Unterschied zwischen dem absoluten Gehorsam und dem relativen Gehorsam nicht kennen oder nicht machen, dann geraten wir in eine unverantwortliche Glaubenshaltung, in einen schrecklichen und erschreckenden Irrtum, ja in eine Häresie. Und wir bewirken bei vielen Menschen einen schweren Gewissenskonflikt, eine schwere Gewissensnot.
Den absoluten Gehorsam schulden wir nur Gott und Gottes Offenbarung.
Da Gottes Offenbarung auch das Leben der Kirche prägt, finden wir ebenso in der sogenannten Tradition Glaubensgut: Glaubensgut, das wir annehmen müssen; Glaubensgut, das uns verpflichtet.
Zum Beispiel die Aussage des Glaubensbekenntnisses – wir werden dieses Glaubensbekenntnis nach der Predigt zusammen ablegen – über Jesus: Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott.
Dies nehmen wir im absoluten Gehorsam Gott gegenüber an, das ist eine Wahrheit, die wir nie herausstreichen können aus unserem Glaubensbekenntnis. Also hier gilt der absolute Gehorsam.
Dagegen besteht dem Papst und den Bischöfen gegenüber immer nur ein relativer Gehorsam. Wir schulden ihnen den Gehorsam nur insofern, als ihre Weisungen und Entscheidungen dem überkommenen Glauben nicht widersprechen. Das gilt auch für ein Konzil.
Aussagen eines Konzils, welche im Glauben verpflichten, dürfen dem überkommenen Glauben nicht widersprechen. Sie dürfen nichts verlangen, was dem überlieferten Glauben entgegensteht oder was wir mit dem überlieferten Glauben als feste unabänderliche Lehre übernommen haben.
So haben wir in der Offenbarung Gottes, im Wort Gottes und der daraus erwachsenen Tradition ein sicheres Fundament für den Glaubensgehorsam.
In diesem Sinn betrachten wir auch die überlieferte – nicht nur 50 Jahre, sondern über die Jahrhunderte überlieferte – heilige Messe und die entsprechende Glaubenspraxis als ein Glaubensgut, das kein Papst und kein Bischof den Gläubigen wegnehmen darf.
Die Gläubigen haben ein Recht, diesem überlieferten sicheren Glaubensgut anzuhangen. Man kann von ihnen nicht im Gehorsam verlangen, auf diesen Glauben und auf diese Glaubenspraxis zu verzichten.
Deshalb sind Papst und Bischöfe verpflichtet, den Gläubigen das zu geben, was ihnen diese Glaubenspraxis ermöglicht. Wenn sie dieser Pflicht als Hüter des Glaubens nicht nachkommen, sündigen sie schwer gegen Gottes Autorität.
Das gegenwärtige Vorgehen der römischen Instanzen ist daher ein unglaublicher Autoritätsmissbrauch. Hierfür kann der Glaubensgehorsam nicht abverlangt werden.
Der heilige Franz von Assisi unterstreicht die Bedeutung des Gehorsams. Der Gehorsam ist für ihn sehr wichtig. Der heilige Franz nennt aber auch dessen Grenzen.
Er sagt, wo die Grenzen des Gehorsams sind, und darauf müsste man mehr hören. Er ist ja sonst ein in anderen Zusammenhängen viel zitierter Heiliger – in unserem Zusammenhang leider nicht.
Seine Worte mögen uns eine Hilfe sein, in einer Situation, die uns eigentlich zermürbt. Der hl. Franz von Assisi sagt über die Ordensleute (Ermahnung über den vollkommenen Gehorsam):
„Jener Mensch verlässt alles, was er besitzt, und verliert seinen Leib, der sich selbst zum Gehorsam ganz in die Hände seines Oberen übergibt. Und was immer er tut und redet, wenn er davon weiß, dass es nicht gegen den Willen des Oberen ist, so ist dies der wahre Gehorsam, sofern nur das, was er tut, gut ist.“
Hier haben wir eine Einschränkung: „sofern es gut ist“.
„Und wenn der Untergebene einmal etwas sieht, was für seine Seele besser und nützlicher ist als das, was der Obere ihm befiehlt, so soll er das Seine freiwillig Gott zum Opfer bringen, was aber vom Oberen kommt, soll er tatkräftig zu erfüllen trachten. Denn das ist der von Liebe getragene Gehorsam, weil er Gott und dem Nächsten Genüge leistet. Wenn aber der Obere dem Untergebenen etwas gegen seine Seele befehlen würde, so darf er ihm zwar nicht gehorchen, soll ihn aber nicht verlassen.“
„Gegen seine Seele“: das heißt auch gegen den Glauben, gegen die Moral.
„Und wenn er deshalb von einigen verfolgt würde, soll er sie um Gottes willen noch mehr lieben. Denn wer eher Verfolgung erträgt, als daß er von seinen Brüdern getrennt werden wollte, der verharrt wahrlich im vollkommenen Gehorsam, weil er sein Leben einsetzt für seine Brüder.“
So der heilige Franz von Assisi.
Das ist eigentlich die Situation, in der wir jetzt stehen. Wir wollen unsere Vorgesetzten nicht verlassen. Wir wollen aber das, was gesagt wird, nicht ausführen, weil es für unsere Seele nicht gut und nicht in Ordnung ist. Und deshalb müssen wir dann aber auch Verfolgung in Kauf nehmen.
Der entscheidende Satz – noch einmal – ist die Weisung, „wenn aber der Vorgesetzte dem Untergebenen etwas gegen dessen Seele befehlen würde, so darf dieser ihm zwar nicht gehorchen, soll ihn aber nicht verlassen.“
Ich meine, gegen unsere Seele verstößt, wer uns vom überlieferten Glauben abbringen und uns das überlieferte Glaubensgut entziehen möchte.
Dieser Glaube bezieht sich rechtmäßig auch auf die überlieferte und von Papst Pius V. bestätigte und geschützte Liturgie.
Dann müssen wir wie die Märtyrer der ersten Jahrhunderte sagen: Von diesem Glauben und von dieser Glaubensregel kann mich niemand abbringen, ja darf mich niemand abbringen. Amen.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes! Amen.
Gelobt sei Jesus Christus!