„Seid vollkommen, wie der himmlische Vater vollkommen ist“ (Mt 5,48)
Bruder Gabriel bei der Arbeit
Die ersten Verspechen von Bruder Gabriel im Jahr 1974
Predigt von Erzbischof Marcel Lefebvre am 22. Dezember 1974 in Ecône
Lieber Bruder Louis!
Lieber Bruder Gabriel!
In wenigen Augenblicken werden Sie beide ein öffentliches Bekenntnis [profession] ablegen, Sie, lieber Bruder Louis, auf eine mehr implizite, weniger öffentliche Weise, Sie, lieber Bruder Gabriel, auf eine sehr formale und explizite Weise, nämlich nach der Vollkommenheit zu streben.
Sie, indem Sie den klerikalen Habit und das Ordenskleid anlegen, und Sie, lieber Bruder Gabriel, indem Sie Ihre Ordensgelübde aussprechen.
Wir alle werden durch Ihr Beispiel ermutigt, nach christlicher Vollkommenheit zu streben. Und diese Zeremonien sind sehr fruchtbringend für unser Priesterseminar. Die Bruderschaft braucht diese Weihen, diese Zeremonien, diese Einkleidungen, diese Ordensgelübde, die uns alle ermutigen, nach wahrer Vollkommenheit zu streben, das wahre Glück hier auf Erden zu finden und endlich das ewige Leben zu erlangen. Und auch für Sie, meine lieben Gläubigen, die Sie an diesen großartigen kirchlichen Zeremonien teilnehmen, bin ich überzeugt, dass Sie aus diesen ebenso eine große geistliche Frucht ziehen können und dass Sie ermutigt werden, die christlichen Tugenden immer vollkommener zu üben. Denn nichts anderes ist die Vollkommenheit als die Übung der Tugenden, der theologischen Tugenden und der Kardinaltugenden, also der Tugenden des Glaubens, der Hoffnung, der Liebe, der Klugheit, der Gerechtigkeit, des Mutes und der Mäßigkeit.
Und was bedeutet das? Wohin führen uns diese Tugenden? Sie bringen uns immer näher zu dem, der die Vollkommenheit selbst ist: Gott.
Estote ergo vos perfecti, sicut et Pater vester cœlestis perfectus est (Mt 5,48).
„Seid vollkommen, wie der himmlische Vater vollkommen ist.“
Wir alle müssen hier unten auf Erden durch die Ausübung dieser Tugenden danach streben, Gott immer ähnlicher zu werden, damit wir eines Tages für alle Ewigkeit mit ihm vereint seien und an seiner Herrlichkeit und Glückseligkeit teilhaben können.
Aber warum ein Gelübde ablegen, die Vollkommenheit zu üben, wenn uns die Vollkommenheit bereits durch die Gebote Gottes und durch die Gebote der Kirche befohlen wird? Warum also zu diesem Gebot, die Vollkommenheit zu üben, ein zusätzliches Gelübde hinzufügen?
Nun, es ist so eingerichtet, weil wir in unserer menschlichen Schwäche eine Hilfe brauchen, um die Tugend besser zu üben, um sie mehr zu üben, um sie auf eine noch vollständigere, umfassendere Weise zu üben, um uns Gott auf eine noch vollkommenere Weise hinzugeben.
Und deshalb haben sich Menschen in der Heiligen Kirche immer schon durch Gelübde verpflichtet, die Vollkommenheit zu üben. Und die Kirche hat diese Gelübde anerkannt. Sie hat sie manchmal private, manchmal öffentliche und manchmal – in den alten Ordensgemeinschaften – feierliche Gelübde genannt.
Die Gelübde, die Bruder Gabriel ablegen wird, sind öffentliche Gelübde, aber keine feierlichen Gelübde wie jene, die die Mönche und Nonnen in den alten Orden ablegen. Aber dennoch verpflichten diese Gelübde zu einer größeren Vollkommenheit und somit dazu, allen Gläubigen das Beispiel einer größeren Vollkommenheit zu zeigen.
Nun, das ist es, wozu Sie sich verpflichten, Sie beide, und zu einer immer größeren Liebe zu Gott zu gelangen. Heute rufen Sie besonders die allerseligste Jungfrau, die wir als Virgo fidelis, als treue Jungfrau verehren, um ihren Beistand an. Denn sie hat vollbracht, was sie gesagt hat. Sie sprach ihr „fiat“ aus. Sie erklärte, dass sie Gottes Willen tun wollte, und sie tat dies ihr ganzes Leben lang, ohne sich jemals untreu zu werden, ohne jemals das Gegenteil von dem zu tun, was sie versprochen hatte. Sie war treu, und deshalb wurde sie Virgo fidelis genannt, treue Jungfrau.
Treu heißt: Faciens dicta, tun, was man gesagt hat, vollbringen, was man gesagt hat. Heute, meine lieben Freunde, werdet ihr diese Worte vor Gott, vor der Kirche, vor euren Brüdern aussprechen: Seien Sie treu in dem, was Sie nunmehr versprechen werden. Seien Sie niemals eidbrüchig. Werden Sie sich bewusst, welche Worte Sie aussprechen werden. Sprechen Sie diese Worte im Angesicht Gottes aus, damit Sie immer treu bleiben, aber auch, damit Sie Ihr Vertrauen auf Gott setzen. Denn Sie werden durch Gott treu sein. Sie wissen, dass Sie schwach sind. Wir alle sind nur schwache Menschen. Aber indem wir uns auf die Gnade des lieben Gottes stützen, sind wir stark. Mit dem lieben Gott können wir alles vollbringen, und wenn Sie diese Gelübde ablegen, die auf den ersten Blick sehr schwer zu leben scheinen, diese Tugenden des Gehorsams, der Armut und der Keuschheit zu üben, dann sind das Vorsätze, die sehr schwer zu halten sind. Und doch, mit der Gnade des lieben Gottes können und werden Sie diese Gelübde sicherlich halten.
Warum Gehorsam, Armut und Keuschheit? Es ist der heilige Johannes, der uns schon in seinem ersten Brief (1 Joh 2,16) nahelegt, dass die Welt von der Hoffart des Lebens angezogen und erfüllt ist: Quoniam omne, quod est in mundo, concupiscentia carnis est, et concupiscencia oculorum, et superbia vitæ quæ non est ex Patre sed ex mundo est.
Die Augenlust, die Fleischeslust und die Hoffart des Lebens sind die drei Dinge, die die Welt in die Sünde stürzen, in die Blindheit, in die Gottferne, die diese Welt in gewisser Weise mit der Sünde verbindet.
Nun, durch das Ablegen des
- Gelübdes des Gehorsams gegen die Hoffart des Lebens,
- durch das Gelübde der Armut gegen die Augenlust, gegen Dinge, die gesehen werden, die gekauft werden, die durch Geld erworben werden, und
- durch das Gelübde der Keuschheit, das dich auch von den Begierden des Fleisches trennt, werden Sie jene Bande zerreißen, die die Welt mit der Sünde verbindet, und Sie werden auch freier sein, sich ganz dem lieben Gott zu schenken, sich ganz dem gemeinsamen Apostolat mit Ihren Brüdern hinzugeben.
Das ist es, was die Gelübde des Ordensstandes und die Versprechen, die Sie in Ihren Herzen und Seelen ablegen werden, bewirken. Wir werden alle gemeinsam während dieser Zeremonie beten und den lieben Gott anflehen, Ihnen auf die Fürsprache der allerseligsten Jungfrau Maria alle Gnaden zu gewähren, die Sie brauchen, um Ihren Versprechen treu zu sein.
Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.