Pius X. und der Modernismus. Ein Interview

Quelle: Distrikt Deutschland

Am 3. September feiert die Kirche das Fest des heiligen Papst Pius X. In den Häusern der Priesterbruderschaft wird dieses Fest als Fest 1. Klasse gefeiert. Wir veröffentlichen ein Gespräch mit Pater Matthias Gaudron über die Bedeutung dieses heiligen Papstes für die Kirche, insbesondere seines Kampfes gegen den Modernismus.

Ein Gespräch mit Pater Matthias Gaudron

Mitteilungsblatt: Einer der großen Kämpfe des hl. Pius X. ging gegen den Modernismus. Was ist Modernismus überhaupt?

Pater Matthias Gaudron: Der Modernismus zur Zeit des hl. Pius X. stellte den Versuch dar, den katholischen Glauben mit den modernen Philosophien und den angeblichen Erkenntnissen der modernen Wissenschaften zu versöhnen. In Wahrheit ist er aber die Zerstörung des Glaubens, dem jedes übernatürliche Element geraubt wird.

Immanuel Kant (1724–1804) hatte in der neuzeitlichen Philosophie einen gewaltigen Umbruch bewirkt, indem er die Objektivität unserer Erkenntnis der Welt leugnete. Nach ihm hat der Mensch es in seiner Erkenntnis immer nur mit den Phänomenen zu tun, also damit, wie ihm die Welt erscheint. Wie die Wirklichkeit an sich selbst ist, bleibt der menschlichen Vernunft verborgen. Der Mensch ist also gewissermaßen in seinem Kopf gefangen und kann nicht mehr zur Wirklichkeit durchbrechen. Darum hat die menschliche Vernunft auch keinen Zugang zu Gott mehr. Sie kann nicht mehr sicher erkennen, dass es Gott als den Urheber der sichtbaren Welt geben muss. Damit hörte Gott für die in der Nachfolge Kants stehenden Denker auf, Gegenstand der Wissenschaft zu sein.

Der Religion wurde damit das vernünftige Fundament entzogen. Bei Kant ist Gott lediglich noch ein Postulat der praktischen Vernunft. Die Protestanten Jacobi und Schleiermacher erhoben dagegen das Gefühl zum Organ der Erfassung religiöser Tatbestände. W. James, Bergson und andere sahen die Wurzel der Religion wieder mehr im praktischen Bedürfnis.

Dazu kam noch die protestantische Bibelkritik, die in der Heiligen Schrift nicht mehr Gottes Wort, sondern nur das Ergebnis menschlicher Schriftsteller und innerkirchlicher Parteienkämpfe sah. Für diese Autoren ist die Bibel natürlich nicht irrtumslos, sondern enthält viele Irrtümer und Legenden. Vor allem sind die Wunderberichte unhistorisch.

Die Kirche hatte den sog. Kulturkampf zwar äußerlich grandios überstanden. Die Katholiken hielten treu zum Papst und zu ihren Bischöfen, so dass Bismarck mit seinen antikatholischen Gesetzen nicht durchkam. Aber es ist wohl nicht zu leugnen, dass der Vorwurf, die katholische Kirche sei ein Hindernis für den Fortschritt und die moderne Kultur, gerade bei manchen gebildeten Katholiken einen Minderwertigkeitskomplex bewirkt hatte. Viele waren vom Glanz des liberalen Protestantismus, der die Staatsreligion des Deutschen Kaiserreichs war, beeindruckt, und dieser Protestantismus gab sich eben den Anschein, auf der Höhe der modernen Zeit und ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse zu stehen, während der Katholizismus etwas Zurückgebliebenes sei.

 

MB: Was lehrte der Modernismus nun genau?

Pater Matthias Gaudron: Der hl. Pius X. legte die Grundzüge des Modernismus in der Enzyklika Pascendi Dominici gregis vom 8. September 1907 dar, nachdem er schon am 3. Juli im Dekret Lamentabili 65 modernistische Irrtümer verworfen hatte.

Als einen Grundirrtum des Modernismus nennt er den Immanentismus, der behauptet, dass der Glaube sich nicht auf eine äußere Offenbarung stütze, die uns von Gott gegeben, durch die Heilige Schrift und die Tradition überliefert und durch das kirchliche Lehramt vorgelegt wird. Der Glaube sei in Wirklichkeit nur ein aus dem Inneren des Menschen aufsteigendes Gefühl, eine Sehnsucht nach Gott oder eine Erfahrung von ihm. Dies nennt man das „Prinzip der vitalen Immanenz“. Der Glaube wird damit zu einer Sache des Gefühls und eine subjektive Angelegenheit.

Am Anfang des Christentums steht für den Modernisten die religiöse Erfahrung Jesu, der natürlich nicht für den menschgewordenen Sohn Gottes, sondern nur für eine geniale menschliche Persönlichkeit gehalten wird. Jesus habe seine religiösen Erfahrungen an andere weitergegeben, die sie selbst nachvollzogen hätten. Als der Verstand diese Erfahrungen nachträglich verarbeitete, habe man sie in Form von Glaubenssätzen ausgedrückt und dies sei der Ursprung der Dogmen. Diese Dogmen seien aber selbstverständlich nicht unveränderlich, da sie ja nur Ausdruck der Gefühle und Erfahrungen von Menschen seien. Sie müssten im Gegenteil angepasst und verändert werden, wenn die Gläubigen andere Erfahrungen machten oder andere Bedürfnisse hätten.

Das Bedürfnis, die Religion sinnfällig zu bekennen und zu betätigen, sei sodann der Ursprung der Sakramente gewesen. Die Sakramente sind also nicht von Christus eingesetzt, sondern von späteren Christen, die ihrem Glauben in sichtbaren Riten Ausdruck verleihen wollten. Da die Sakramente also höchstens in einer sehr allgemeinen Weise auf Christus zurückzuführen sind, steht grundsätzlich auch hier Veränderungen nichts im Weg. Dabei beruft man sich darauf, dass Veränderung ein Prinzip des Lebens sei. „In einer Religion, die lebt, ist alles veränderlich, darum muss es sich ändern“, gibt Pius X. den Grundsatz der Modernisten wieder. Ewigen, unveränderlichen Wahrheiten ist damit der Abschied gegeben.

Weil die Gläubigen das Bedürfnis hatten, sich äußerlich zusammenzuschließen, sei die Kirche entstanden, und da eine solche Gemeinschaft Leitungspersonen benötigt, entstanden die Ämter des Papstes, des Bischofs und des Priesters. Da diese Ämter aus dem religiösen Bewusst-sein der Gläubigen entsprungen seien, hätten ihre Träger sich diesem aber auch unterzuordnen.

Auch die Heilige Schrift ist für die Modernisten natürlich nicht wirklich vom Heiligen Geist inspiriert, sondern nur eine Sammlung der Erlebnisse und Gedanken gottbegeisteter Menschen.

Auf diese Weise kann man alle äußeren und sichtbaren Einrichtungen der Kirche erklären, ohne dass daran irgendetwas Übernatürliches oder von Gott Kommendes ist. Alles entspringt nur den Gefühlen, Erfahrungen und Bedürfnissen von Menschen.

MB: Man hat Pius X. vorgeworfen, der Modernismus sei nicht ein klares Lehrsystem, wie es die Enzyklika Pascendi vermuten lässt …

Pater Matthias Gaudron: Pius X. weist selbst darauf hin, dass die Modernisten ihre Lehren nicht klar und zusammenhängend darlegten, sondern nur verstreut, um sich den Anschein des Suchens nach der Wahrheit zu geben. Sicherlich waren die damaligen Modernisten auch nicht in allen Punkten einig, wie es ja unsere heutigen Modernisten auch nicht sind. Pius X. ist tatsächlich der Erste, der diese Lehren im Zusammenhang dargelegt hat, wobei auch der deutsche Dominikanerpater Albert Maria Weiß (1844–1925) mitgearbeitet hat. Insofern die Enzyklika Pascendi den Modernismus erstmals als System darstellte, konnte der Modernist George Tyrell sogar schreiben, Pius X. sei der „Schöpfer des Modernismus“. Entscheidend ist nun aber, dass die Modernisten dem Papst nicht vorwarfen, er habe sie falsch dargestellt. Sie erkannten sich in den Darlegungen der Enzyklika tatsächlich wieder. Tyrell schrieb darum, Pius X. habe, indem er den Modernismus verurteilte, diesem Denken den Namen gegeben und die Anhänger fest zusammengeschlossen.

Als Vater des Modernismus gilt übrigens der Priester Alfred Loisy. Wie weit er schließlich kam, kann ein Zitat aus seinen Memoiren belegen: „Ich betrachte die Inkarnation als eine philosophische Mythe. Christus nimmt in meiner Religion sogar einen geringeren Platz ein als bei den liberalen Protestanten; denn ich messe der Offenbarung des Vater-Gottes, mit der sie Jesus beehren, weniger Bedeutung zu als sie. Wenn ich etwas in religiöser Hinsicht bin, dann eher pantheistisch-positivistisch-humanitär als christlich.“

MB: Welche Maßnahmen ergriff Pius X. gegen den Modernismus?

Pater Matthias Gaudron: Neben den verschiedenen Verurteilungen des Modernismus und modernistischer Thesen war die wichtigste Maßnahme des Papstes sicher der Antimodernisteneid, der mit dem Motu proprio „Sacrorum antistitum“ vom 1. September 1910 eingeführt wurde. Diesen Eid mussten alle Kleriker ablegen, die eine höhere Weihe empfangen oder ein höheres kirchliches Amt, wie z. B. eine Pfarr- oder Professorenstelle, übernehmen wollten.

Hier musste man unter anderem bekennen, dass Gott mit dem natürlichen Licht der Vernunft sicher erkannt werden kann, dass die Kirche von Jesus Christus gewollt und gegründet wurde und „dass der Glaube nicht ein blindes religiöses Gefühl ist, das aus dem Dunkel des Unterbewusstseins im Drang des Herzens und aus der Neigung des sittlich geformten Willens entspringt, sondern dass er eine wahre Zustimmung des Verstandes zu der von außen durch Hören empfangenen Wahrheit ist, durch die wir auf die Autorität Gottes des Allwahrhaftigen hin für wahr halten, was uns vom persönlichen Gott, unserm Schöpfer und Herrn, gesagt, bezeugt und geoffenbart worden ist“.

Verurteilt wird hier auch eine rationalistische Auslegung der Heiligen Schrift, die alles Übernatürliche sowie die von der Kirche gegebenen Normen der Auslegung ignoriert.

Dieser Eid war bis 1967 in Kraft. Die Väter und Theologen des Zweiten Vatikanischen Konzils hatten diesen Eid also alle mehrfach abgelegt!

MB: Man wirft heute Pius X. bisweilen sogar von konservativer Seite vor, er habe die Gefahr des Modernismus „übertrieben“ …

Pater Matthias Gaudron: In der Tat behaupten manche, Pius X. und seine Umgebung hätten sich in eine Art Psychose oder Verfolgungswahn hineingesteigert. Für manche Bischöfe und Theologen kamen die Maßnahmen gegen den Modernismus sicher überraschend, denn in manchen Teilen der Kirche war von ihm noch nichts zu spüren. Wie man aber heute noch diesen Vorwurf aufrechterhalten kann, ist mir ein Rätsel. Die Befürchtungen des hl. Pius X. haben sich ja geradezu übererfüllt. Vom hl. Hieronymus gibt es das Wort: „Der Erdkreis seufzt und wundert sich, dass er arianisch geworden ist“. So wie damals fast alle Bischöfe Arianer waren oder wenigstens zum Arianismus hinneigten, so finden wir heute auf fast allen Bischofs- und theologischen Lehrstühlen Modernisten.

MB: Die Mahnungen des hl. Pius X. sind also noch aktuell? Der Modernismus ist nicht tot?

Pater Matthias Gaudron: Pius X. und seine Nachfolger bis zu Papst Pius XII. unterdrückten den Modernismus mit ihrer Amtsgewalt. Tatsächlich meinten in den 1950er Jahren manche, die Modernismuskrise sei schnell überwunden worden. In Wirklichkeit lebten die Ideen im Untergrund weiter. Besonders die Schulen der Jesuiten spielten hier eine unrühmliche Rolle, da man dort – in Verachtung gegenüber den Anweisungen der Päpste und ihren Verurteilungen – nicht die scholastische Lehre studierte, sondern die Väter der sog. „neuen Theologie“, Blondel, de Lubac etc. Der Jesuit Peter Henrici, später einer der beiden Weihbischöfe, die Rom dem allzu konservativen Churer Bischof Wolfgang Haas an die Seite stellte, beschreibt in seinen Erinnerungen unter dem Titel „Das Heranreifen des Konzils – erlebte Vorkonzilstheologie“, wie die Theologiestudenten die Studienunterlagen im alten (scholastischen) Stil höchstens noch durchblätterten und stattdessen – oft von ihren Professoren dazu ermutigt – kirchlich zensierte Autoren studierten.

Als dann Johannes XXIII. die Zügel locker ließ und die Mahnungen derer, die er als „Unglückspropheten“ abtat, in den Wind schlug, brach der Modernismus im offiziellen kirchlichen Raum voll durch. Heute ist es z. B. auch in der katholischen Exegese gang und gäbe, dass Jesus Christus sich nicht als Sohn Gottes bezeichnet hat, dass er leibliche Geschwister hatte, keine eigentlichen Wunder gewirkt hat, nicht wirklich von den Toten auferstanden ist, sondern nur im Glauben der Jünger, und dass er keine Kirche gründen wollte oder dass sich die Strukturen der heutigen Kirche jedenfalls nicht auf Jesus zurückführen lassen.

Warum sind so viele Priester und Bischöfe für das Frauenpriestertum? Weil das Priestertum für sie nichts Übernatürliches ist, sondern nur ein Amt oder eine Funktion, der Vorsitz bei der Eucharistiefeier usw. Das kann grundsätzlich jeder übernehmen. Die Sakramente sind überhaupt nur Symbole im Gemeinschaftsleben der Christen, sie bewirken aus sich keine Gnade, kein Heil.

Man verlangt auch immer wieder Änderungen in der Morallehre der Kirche mit dem Argument, dass die heutigen Gläubigen mit der alten Morallehre der Kirche nichts mehr anfangen können. Wenn die kirchliche Morallehre nur Ausdruck der von den Gläubigen selbstgemachten moralischen Werte ist, wie der Modernismus lehrt, steht einer Änderung natürlich nichts im Wege. Wenn die katholische Moral aber von Gott kommt, dann müssen die Menschen sich danach richten und dürfen sie nicht nach ihrem Belieben verändern.

Natürlich sind nicht alle solche Modernisten in Reinform. Viele nehmen noch einiges von der katholischen Wahrheit an, die einen mehr, die anderen weniger. Aber es finden sich wirklich nur sehr wenige, die vom Modernismus gar nicht angesteckt sind. Selbst für die meisten sog. Konservativen war vieles in der Lehre der Kirche vor dem Konzil zu eng und zu streng. Wir sollen nach ihnen z. B. hoffen, dass die Hölle leer ist, dass auch die meisten Nichtkatholiken und sogar Nichtchristen in der Gnade Gottes sind, dass der Liberalismus auch seine guten Seiten hat usw.

Manches von dem, was Pius X. von den Modernisten seiner Zeit schreibt, kann man noch heute wortwörtlich auf unsere modernen Theologen anwenden. So weist der hl. Papst auf die Forderung der Modernisten hin, den Formeln, in denen die Tradition den Ausdruck des Glaubens festgelegt hat, nicht über Gebühr anzuhängen. Diese seien nur zur Hilfe, nicht als eine Last geboten. Allerdings solle man diesen Formeln, welche das Lehramt der Kirche gebraucht, den nötigen Respekt erweisen. – Das hat z. B. Karl Rahner genauso gemacht. In seiner Erklärung der Dreifaltigkeit Gottes kritisiert er den Ausdruck „drei Personen in Gott“. Er meint zwar, man könne den Begriff der Person weiterhin verwenden, weil man Respekt vor dem langen Gebrauch dieses Begriffs in der Lehre der Kirche haben müsse, aber eigentlich treffe dieser Begriff die Sache nicht, und Rahners Erklärung der Dreifaltigkeit läuft dann auf drei Offenbarungsweisen Gottes heraus, was eine Neuauflage der alten Häresie des Sabellianismus ist.

Auch hört man in der Nachkonzilszeit häufig, man könne den Glauben nicht in Formeln einsperren und müsse darum immer wieder nach neuen Formulierungen des Glaubens suchen. Das alles ist nur der Versuch, die treuen Gläubigen zu täuschen und den Abfall vom katholischen Glauben zu vertuschen. Deshalb bekommt man von modernen Bischöfen und Theologen auch oft keine klaren Antworten, wenn man sie nach der Existenz von Wundern, der Gottheit Christi, der wirklichen Gegenwart Christi in der Eucharistie usw. fragt. Ein Journalist erzählte mir vor ein paar Jahren, sie hätten für das Radio eine Sendung zum Thema der Wandlung in der Messe gemacht und dafür bei sämtlichen Diözesanbischöfen Deutschlands nachgefragt. Sie hätten aber von keinem einzigen Bischof ein klares Bekenntnis zur Wandlung von Brot und Wein in den Leib Christi bekommen!

Oder fragen wir uns, warum selbst ein Benedikt XVI. nie seine früheren Irrtümer widerrufen hat, sondern seine alten Bücher sogar noch als Papst neu auflegen ließ? Eine Erklärung dafür wäre, dass er dem Prinzip der freien Forschung zuneigt, nach dem der Theologe als Wissenschaftler unabhängig von der Lehre der Kirche arbeiten kann.

MB: Es ist also noch kein Ende des Kampfs gegen den Modernismus in Sicht?

Pater Matthias Gaudron: Nein, es gibt zwar hier und dort positive Ansätze, Priester und Bischöfe, die die Tradition der Kirche neu entdecken, aber unser Widerstand gegen den Modernismus muss weitergehen. Und das umso mehr, als die extremen modernistischen Kräfte unter Papst Franziskus wieder Aufwind haben.