Papst Pius X. reformiert die Kirchenmusik

Quelle: Distrikt Deutschland

Dr. Johannes Laas

Giuseppe Sarto (1835–1914), geboren als Sohn eines Postboten im kleinen norditalienischen Dorf Riese bei Venedig, war nicht nur musikalisch, er trat auch als „Musiker“ in Erscheinung. Davon berichtet eine charakteristische Geschichte.

Als armer Kaplan, der das wenige, was er hatte, den noch Ärmeren gab, lief er immerzu mit einem zerschlissenen Rock herum. Man machte ihm deswegen Vorhaltungen. Schließlich gab er nach und wollte sich einen neuen Rock kaufen. Doch wovon? Don Giuseppe legte alles in die Hände Gottes. Er ging zu einem Händler, suchte sich einen Stoff aus und handelte den Preis so weit es ging herunter. Dann nahm er sein Fagott und sagte: „Hören Sie, mein Herr, was für eine schöne Stimme ich bekommen und wie gut ich zu musizieren gelernt habe.“ Und er stimmte das Credo an. Der Händler verstand und trug ohne Zögern anstelle des Preises die Noten des Credo in sein Rechnungsbuch ein.

Wann genau der spätere Papst Pius X. sich mit Musik zu beschäftigen begonnen hatte, lässt sich wohl nicht mehr nachvollziehen. Doch zieht sich die Musik wie ein roter Faden durch sein priesterliches Leben. Sicher wird er auch ein wenig Orgel spielen gelernt haben. Davon zeugen seine eigenen kleinen liturgischen Kompositionen. Überall, wo er gelernt und gewirkt hat – als Seminarist in Padua, als Kaplan in Tombolo, als Pfarrer in Salzano, als Domherr von Treviso, als Bischof von Mantua, schließlich als Patriarch von Venedig und Kardinal –, setzte er sich für das Wiederaufleben des christlichen Kultes durch die überlieferte Kirchenmusik ein – durchaus auch gegen starke Widerstände. Sein Werdegang hatte ihm intensive Kenntnisse der Zustände der Gemeinden vor Ort ermöglicht. Daneben hatte er sich zum Beispiel durch die Teilnahme am Internationalen Kongress für liturgischen Gesang in Arezzo 1882 intensiv mit den neueren Forschungen rund um die Restitution des Gregorianischen Chorals beschäftigt. Und so schuf er Fakten: 1887 ersetzte er die Musikkapelle des Domes mit ihren opernhaften, süßlichen Melodien durch die von ihm selbst angeleitete Schola cantorum der Seminaristen – ein mutiger und damals höchst ungewöhnlicher Schritt. Zu der Zeit schrieb er an Msgr. Lorenzo Perosi (1872–1956), den späteren langjährigen Leiter der Cappella Sistina, des päpstlichen Chors im Petersdom: „Die Erneuerung der Kirchenmusik wird eine langwierige Sache sein; doch ich hoffe, daß ich nicht sterben werde, bevor ich sie verwirklicht sehe.“ Diese Hoffnung sollte sich erfüllen.

Abgesehen vom ausgebildeten Geschmack und der Sensibilität des Musikers war es die Sorge um die Würde des Gotteshauses, die Giuseppe Sarto als Papst Pius X. (1903–1914) zu seinem großen kirchenmusikalischen Reformwerk antrieb. Gleich zu Beginn seines Pontifikates entstand, basierend auf einem bereits als Patriarch von Venedig verfassten Hirtenbrief aus dem Jahr 1895, sein sogenanntes „Gesetzbuch der Kirchenmusik“. Es wurde zunächst in italienischer Sprache herausgegeben. Als Motu proprio vom 22. November 1903, dem Festtag der hl. Cäcilia, ist es unter dem Titel Tra le sollecitudini in die Geschichte eingegangen. Fortan sollte – wie die Eingangsworte sagen – die Kirchenmusik „Unter den Sorgen des Hirtenamtes“ einen besonderen Platz einnehmen.

Nach einer Einleitung, in der der Papst die Notwendigkeit einer Reform der Kirchenmusik erklärt, stellt er in neun Kapiteln und 29 Absätzen zunächst einige allgemeine Grundsätze der Kirchenmusik dar. Sodann beschreibt er die Arten der Kirchenmusik, stellt Forderungen für den liturgischen Text und für die äußere Form kirchenmusikalischer Werke auf. Er weist auf die Würde der Sänger hin, gibt Hinweise zur Orgel, zu den sonstigen Instrumenten und zum Umfang der liturgischen Musik. Schließlich nennt er ganz konkrete Mittel zur Umsetzung seiner Reform in den einzelnen Diözesen. Abschließend verlangt er, „mit aller Gewissenhaftigkeit diese so lang ersehnten und von allen beständig verlangten weisen Reformen zu unterstützen. Denn das Ansehen der Kirche […] soll nicht der Verachtung preisgegeben werden.“

Jedes Kapitel des Motu proprio ist nach wie vor des intensiven Studiums wert und hat an Aktualität und Frische nichts eingebüßt, insbesondere, wenn man die Praxis der Musica sacra im Gefolge der Liturgiereform von 1970 betrachtet. Aber auch in traditionsorientierten Gemeinschaften werden die Forderungen Pius’ X. oft nicht befolgt. Wurde die kirchenmusikalische Reform des 1954 heiliggesprochenen Papstes – trotz intensiver Bemühungen der Päpste Pius XI. (1928) und Pius XII. (1943, 1955) – schon bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) nur halbherzig umgesetzt, so brach ihre Umsetzung nach dem Konzil weitgehend ab. Es gehört zur Sendung der Tradition, an die Reform wieder anzuknüpfen.

Was war das Kernanliegen des Motu proprio Pius’ X.? Wie in der Einleitung ausgeführt wird, dreht sich alles um die Frage der größeren Ehre Gottes sowie der Heiligung und Erbauung der Gläubigen. Damit „der wahrhaft christliche Geist überall in allen Gläubigen wieder aufblühe und unvermindert erhalten bleibe“, sollen die Gläubigen „aus der ersten und unentbehrlichen Quelle“, dem öffentlichen und feierlichen Gebet der Kirche, schöpfen. Das Mittel dazu ist die „aktive Teilnahme“ (actuosa communicatio) an der feierlichen Liturgie. Dies geschieht in erster Linie mittels der Kirchenmusik, insbesondere durch die Wiedereinführung des Gregorianischen Chorals auch im Kirchenvolk.

Im Folgenden sind es drei programmatische Aussagen, aus denen alles Weitere folgt:

1. „Die Kirchenmusik ist ein wesentlicher Bestandteil der feierlichen Liturgie.“ Damit stellt der Papst fest, dass sie am allgemeinen Zweck der Liturgie teilnimmt, ja einen nicht zu vernachlässigenden Anteil daran hat. In dem Maße nämlich, wie die Kirchenmusik die Zierde und den Glanz (decus ac splendorem) der heiligen Riten erhöhe, wird Gott mehr geehrt, die Frömmigkeit leichter angeregt und das Herz besser auf die Erlangung der Gnadengaben vorbereitet. Umgekehrt kann eine ungeeignete Kirchenmusik also Gottes Ehre schmälern und den Gläubigen die Erlangung des Heils erschweren.

2. „Die Kirchenmusik muss also die besonderen Eigenschaften der Liturgie besitzen“. Als diese Eigenschaften nennt der Papst die „Heiligkeit“, die „Güte der Form“ und die „Allgemeinheit“. Demnach habe von Art und Vortrag der Kirchenmusik „alles Weltliche ferngehalten“ zu werden; sie müsse den „Charakter wahrer Kunst“ besitzen; sie solle schließlich so beschaffen sein, dass „kein Angehöriger eines anderen Volkes beim Anhören einen unangenehmen Eindruck empfängt“. Konsequent umgesetzt, dürfte dies ein Ausschlusskriterium für manche bisweilen auch in der überlieferten Liturgie zu hörende Musik sein.

3. „Diese Eigenschaften finden sich im höchsten Grade bei den Gregorianischen Sangesweisen.“ Pius X. stellt den Choral als Muster und Vorbild für jede Kirchenmusik dar. Seine Anwendung ist keine Frage der Willkür, sondern der Notwendigkeit, die sich aus dem Wesen und der Überlieferung der Liturgie selbst ergibt, geschuldet. So stellt der Papst das Gesetz auf: „Eine Kirchenkomposition ist umso mehr kirchlich und liturgisch, je mehr sie sich in ihrer Anlage, ihrem Geist und ihrer Stimmung dem Gregorianischen Gesang nähert; umgekehrt ist sie umso weniger des Gotteshauses würdig, als sie sich von diesem Vorbilde entfernt.“ Vorbildhaft zeige sich diese Eignung in der klassischen Vokalpolyphonie der römischen Schule um den Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina (um 1525–1594). Sie könne sich aber natürlich auch in der moderneren Kirchenmusik niederschlagen.

Alle weiteren Forderungen des Motu proprio fließen letztlich aus diesen drei Grundaussagen. Mit diesen – erstmals in der Geschichte päpstlicher Verlautbarungen – in solcherlei Weise positiv formulierten Vorgaben, wollte Pius X. mittels der Musica sacra den liturgischen Missständen seiner Zeit wirksam begegnen und sie in einer Weise beheben, die nicht nur aus dem Wesen der feierlichen Liturgie schöpft, sondern auch tief in das Herz der Gläubigen zielt. Gemäß der alten Überzeugung von der Übereinstimmung zwischen Gebet und Glaube (lex orandi lex credendi) zeigt er damit, dass die Schönheit der Liturgie keine vernachlässigenswerte Äußerlichkeit ist, sondern dem Kern katholischen Gottesdienstes entspricht: der Gegenwart Christi, des menschgewordenen Wortes, im Opfer der heiligen Messe.

An dem Motu proprio Tra le sollecitudini von 1903 kommt auch heute kein Priester und kein Kirchenmusiker vorbei. Damit hat Papst Pius X. ein Dokument hinterlassen, das für alle wesentlichen Fragen der liturgisch-musikalischen Ausgestaltung und der Ausbildung des Klerus gültige Maßstäbe setzt. An diesen Maßstäben ist die kirchenmusikalische Praxis der überlieferten Messe immer wieder neu auszurichten.