O Jungfrau, auserkoren!

Quelle: Distrikt Schweiz

Von Alphons M. Rathgeber

Als einst Elias auf dem Karmel um Regen betete, schickte er seinen Knaben aus und sprach zu ihm: „Geh’ und schaue gegen das Meer!“ Und der Knabe ging und schaute, und er kam zurück und sprach: „Ich sehe nichts!“ Als er aber zum siebten Mal hinging und über das Meer schaute, da kam eine Wolke vom Meer herauf und stieg höher und höher und überschattete Berge und Länder, und ein gewaltiger Regen rauschte aus der Wolke hernieder.

Die Wolke, die dem Meer entstieg, ist ein Bild der seligsten Jungfrau. Wie eine lähmende Dürre lag Sündenelend und Gottesferne auf den Menschen. Nicht bloss siebenmal, sondern vieltausendmal hatten sie ausgeschaut und einander gefragt: „Siehst du nichts?“ Endlich, endlich taucht am fernen Horizont aus dem Meer der Zeiten ein kleines, rosenrotes Wölklein auf. Maria, die auserwählte Gottesmutter, wird unbefleckt empfangen. Warte nur, warte nur, höher und höher wird das Wölklein steigen, und ein überreicher Gnadenstrom wird auf die dürre Erde niederrauschen, und alle Menschen werden sich daran laben.

Wie gut passt das Fest von der unbefleckten Empfängnis Mariä in die wartende, sehnende Adventszeit hinein! Oft spricht in diesen Tagen die Kirche in ihren Gebeten vom nahen Aufgang der Sonne aller Sonnen. „Auf, Jerusalem, werde hell! Es kommt dein Licht, und die Herrlichkeit des Herrn geht auf über dir!“ (Is. 60,1)

Wie die strahlende Morgenröte eilt dem kommenden Heiland seine Mutter voraus. „Wer ist die, welche heraufschreitet wie die aufsteigende Morgenröte?“ (Hohesl. 6,9) Der hochheilige Weihnachtstag steht schon vor der Tür. Bevor aber der Tag anbricht, schickt er als seinen Vorläufer den Morgenstern. Bevor der Erlöser kommt, muss seine Mutter kommen, die wir heute mit Recht begrüssen: Maria, du Morgenstern, bitte für uns! Mit flehender Freude spricht die Kirche in der marianischen Adventantiphon die Gottesmutter an: „Erhab’ne Mutter unsres Herrn, o Himmelspfort’, o Meeresstern! Dem Volk, das sinkt, o steh’ ihm bei; hilf, dass es sich erhebe frei!

Ja, ein gebrochenes, untergehendes Volk sind wir. Sternloses Dunkel der Not liegt über uns. Wie sturmvertriebene Seefahrer schauen wir uns die Augen müde nach dem aufgehenden Tag. O Maria, du Morgenröte, sei uns gegrüsst! Du Stern des Meeres, bitte für uns! Dem Volk, das sinkt, o steh’ ihm bei; hilf, dass es sich erhebe frei!

In den berühmten Gemäldesammlungen des Vatikans befindet sich auch ein „Saal der unbefleckten Empfängnis“. Da schaut man in grossen Bildern den Ehrentag der Makellosen, den 8. Dezember 1854, an dem Papst Pius IX. feierlich der ganzen Welt den Glaubenssatz verkündete, dass Maria allzeit „voll der Gnade“ war und deshalb nie auch nur den Schatten einer Sünde auf der Seele trug.

Komm’ mit und schau’ dir das prachtvolle Gemälde an! Was siehst du?

Im feierlichen Ornat hat der Heilige Vater auf seinem Thron im Petersdom Platz genommen. Kardinäle und Bischöfe und Priester umstehen ihn in farbenleuchtenden Gewändern. Aus ihrem Mund scheint die demütige Bitte zu kommen: „Heiliger Vater, erhebe deine apostolische Stimme und verkünde den Glaubenssatz der unbefleckten Empfängnis Mariä, worüber Jubel sein wird im Himmel und Frohlocken auf Erden!“

Verklärte Freude liegt über dem Antlitz des Papstes, während er im Begriff ist, die Erfüllung des sehnlichen Wunsches der ganzen katholischen Welt zu gewähren. Ein Engel, der zur Linken des päpstlichen Thrones schwebt, trägt auf einer Rolle die Antwort des Heiligen Vaters: „Kraft der Vollmacht unseres Herrn Jesus Christus, der Apostel Petrus und Paulus und unserer eigenen erklären, verkünden und entscheiden wir, dass die allerseligste Jungfrau Maria durch die Verdienste Jesu Christi vor jedem Makel der Erbsünde bewahrt blieb und dass diese Lehre von Gott geoffenbart ist.“

Der Himmel tut sich auf, der Thron des dreieinigen Gottes wird sichtbar mit der Allzeitreinen, der unbefleckt Empfangenen, dem „Tempel der Dreifaltigkeit, vom ewigen Gott eingeweiht“. Huldvoll breitet Maria die Arme aus und schaut mit dankerfülltem Blick hinab auf Pius IX. und die um ihn versammelte Beter Schar …

Manches Marienfest verlor im Lauf der Zeit an äusserem Glanz und wird nur mehr in einer vom Volk oft kaum beachteten Stille in Messe und Brevier gefeiert. Der 8. Dezember aber ist geblieben. Mariä Empfängnis, das Hochfest der sündenlos empfangenen Gottesmagd, wird das katholische Volk sich nicht nehmen lassen. Seine ganze Liebe und Verehrung zur Himmelsmutter offenbart sich an diesem Adventmarienfest, das wie ein weisses Schneeglöckchen aus kalter, toter Wintererde bricht. Mit der Kirche jubelt der fromme Beter an diesem Tag: „Ganz schön bist du, Maria, und der Makel der Erbsünde ist nicht an dir. Weiss wie Schnee ist dein Gewand, und wie die Sonne strahlt dein Angesicht“ (Antiphon zu den Laudes). O Maria, ohne Makel der Erbsünde empfangen, bitte für mich!

O Jungfrau, auserkoren aus königlichem Blut,

Ganz unbeleckt geboren, ganz sündenrein und gut,

Ohn’ Sünd’ bist du empfangen, wie es die Kirche lehrt,

Und von der falschen Schlangen bliebst du ganz unversehrt.

Kein Lob auf dieser Erden, o Jungfrau, keusch und rein,

Kann je gerecht dir werden, kann deiner würdig sein.

(sprachlich leicht angepasst aus: Im Schatten des Dorfkirchleins, Kempten 1923, S. 36ff)