Die Notwendigkeit des Gebetes
Das Gebet ist die einfachste und wichtigste Weise, Gott zu verehren. Wir können es zu jeder Zeit und an jedem Ort üben. Ohne Gebet gibt es kein religiöses Leben, denn es ist das Gebet, durch das wir mit Gott in Kontakt treten und eine lebendige Beziehung zu ihm aufbauen.
Nach einem Wort des hl. Alphons Maria von Liguori sind alle Seligen im Himmel, weil sie gebetet haben, und alle Verdammten in der Hölle, weil sie nicht oder schlecht gebetet haben. Der hl. Franz von Sales soll auf die Frage, wozu der Mensch geschaffen sei, sogar geantwortet haben: „Für das Gebet.“
Im Gebet erheben wir unsere Seele zu dem, der unser Schöpfer und unser Ziel ist, zu dem, der allein unserem Leben Sinn und Glück geben kann. Wer nicht betet, gleicht daher dem dumpfen Vieh, das seinen Blick beständig auf die Erde gewandt hat. Der Pfarrer von Ars sagte in seinen Katechesen:
Wer nicht betet, ist wie eine Henne oder ein Truthahn, die sich nicht in die Lüfte erheben können. Wenn sie etwas fliegen, so fallen sie doch bald wieder hinab, machen sich durch Scharren in der Erde ein Lager, stecken den Kopf hinein und scheinen keine andere Freude mehr zu haben. Wer dagegen betet, gleicht dem furchtlosen Adler, welcher in den Lüften schwebt und sich immer mehr der Sonne zu nähern scheint.
Durch das Gebet erlangen wir von Gott die Gnaden, die wir brauchen, um unser christliches Leben führen zu können. Sicherlich sind die hl. Messe und die Sakramente die größten Quellen der Gnade, die wir hier auf Erden besitzen, aber ohne das Gebet bleiben sie fruchtlos. Nur die kleinen Kinder können die Taufe ohne inneres Mittun fruchtbar empfangen, weil das Sakrament eine innere Kraft hat und die Kinder noch nicht fähig sind, sich selbständig auf Gott auszurichten. Für diejenigen aber, die zum Vernunftgebrauch gelangt sind, gilt: Wer nur äußerlich bei der Messe anwesend ist und ohne innere Anteilnahme, ohne Vorbereitung und Danksagung die Sakramente empfängt, wird aus ihnen keinen großen Nutzen ziehen, sich vielleicht sogar eher den Zorn Gottes als seine Gnade zuziehen. Im Notfall können wir uns zudem sogar ohne die Sakramente retten, aber nie ohne das Gebet.
Um die hl. Kommunion zu empfangen, müssen wir im Gnadenstand sein; beten kann dagegen jeder, selbst wenn er in die Todsünde gefallen ist, denn das Gebet wendet sich an die Barmherzigkeit Gottes. Darum kann der Sünder durch das Gebet die Gnadenhilfen erflehen, die er braucht, um sich aus der Sünde zu erheben und seine Seele in einer guten Beichte zu reinigen.
Selbst der Elendeste vermag aus der Tiefe des Abgrundes, in den er gestürzt ist, den Schrei um Barmherzigkeit hinaufzusenden, d. h. zu beten. Der Bettler, der nichts hat als seine Armut, vermag gerade unter Berufung auf sein Elend zu bitten, und wenn er in dieses Flehen sein ganzes Herz hineinlegt, neigt sich ihm die Barmherzigkeit zu; der Abgrund seines Elends ruft den Abgrund der Barmherzigkeit.[1]
Von höherer Art ist das Gebet eines Menschen, der schon in der Gnade Gottes ist. Diese hat ihn zum Kind Gottes gemacht und ihn mit Gott verähnlicht, soweit dies für ein Geschöpf möglich ist. Der Mensch in der Gnade ist ein Tempel, in dem die Allerheiligste Dreifaltigkeit wohnt. Darum darf und soll er zu Gott sprechen wie ein Kind zu seinem Vater oder wie ein Freund zu seinem Freunde. „Ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen“, schreibt der hl. Paulus an die Römer, „in dem wir rufen: Abba, Vater“ (8,15). Darum müssen wir aber auch mit Gott leben, denn ein Gast, den wir zwar in unser Haus lassen, mit dem wir aber nicht sprechen und um den wir uns gar nicht kümmern, wird uns sicher bald wieder enttäuscht verlassen. So wird ein Mensch, der sich um den göttlichen Gast in seiner Seele nicht kümmert, diesen nicht halten können. Da er nur mit dem Irdischen beschäftigt ist, wird er bald in die schwere Sünde fallen.
Die wichtigsten Gebetszeiten
Die wichtigsten Zeiten für das Gebet sind der Morgen und der Abend. Jeden Morgen sollen wir unser Herz zu Gott erheben und ihm unser Tagewerk anempfehlen. Wir sollen ihn bitten, uns zu helfen, alles aus Liebe zu ihm zu tun und ihn allezeit vor Augen zu haben. Er möge uns beistehen, damit wir nicht in die Sünde fallen und damit wir die Widerwärtigkeiten, die uns vielleicht begegnen, als unser Kreuz annehmen. Dies kann mit eigenen Worten geschehen oder auch mit einem vorformulierten Text wie dem „Morgengruß zum Herzen Jesu“ oder einem anderen guten Gebet. Im kirchlichen Morgengebet der Prim heißt es:
Herr, allmächtiger Gott, der Du uns an den Beginn dieses Tages gelangen ließest: bewahre uns heute durch Deine Kraft, damit wir an diesem Tag zu keiner Sünde hinneigen, sondern unsere Worte, Gedanken und Werke immer dahin geleitet werden, Deine Gerechtigkeit zu erfüllen. … Herr, Gott, König des Himmels und der Erde, leite und heilige, regiere und lenke heute gnädig unsere Herzen und Leiber, unsere Sinne, Reden und Handlungen nach Deinem Gesetz und den Vorschriften Deiner Gebote, damit wir durch Deine Hilfe verdienen, hier und in der Ewigkeit frei und selig zu sein, Du Heiland der Welt.
Wir sollen uns auch an die allerseligste Jungfrau Maria wenden, die nicht nur die Mutter Gottes, sondern auch unsere geistliche Mutter ist, an unseren Schutzengel, auf dass er uns beistehe und uns seine Einsprechungen gebe, sowie an unseren Namenspatron und an andere Heilige, die wir besonders verehren. Ein Tag, den wir nicht mit dem Gebet angefangen haben, gehört gewissermaßen dem Teufel, denn wenn wir uns nicht auf Gott ausrichten, wird der Teufel uns auf seine Wege führen.
Am Abend sollen wir einen kurzen Rückblick auf den Tag halten, Gott für die empfangenen Gnaden und Gaben danken und ihn für unsere Sünden, Fehler und Nachlässigkeiten um Verzeihung bitten. Wer hier täglich eine kurze Gewissenserforschung hält, wird sich bei der Gewissenserforschung vor der Beichte leichttun. Auch das kirchliche Abendgebet der Komplet beginnt mit einer Gewissenserforschung und dem allgemeinen Sündenbekenntnis des Confiteor. Es leitet uns an, um eine gute Nachtruhe zu bitten und unseren Geist in die Hände Gottes zu empfehlen, denn jeder Abend ist wie eine Vorbereitung auf den Abend unseres Lebens, an dem wir uns zur ewigen Ruhe niederlegen. Zum Abschluss wendet die Komplet sich jeden Tag an die Muttergottes, und zwar je nach der liturgischen Zeit mit dem Salve Regina, dem Alma redemptoris mater, dem Ave regina caelorum oder dem Regina caeli laetare.
Das Gebet vor und nach den Hauptmahlzeiten erinnert uns daran, dass „jede gute Gabe von oben kommt, vom Vater des Lichtes“ (Jak 1,17) und es nicht selbstverständlich ist, jeden Tag genug zu essen zu haben. Auch in unserer Zeit gibt es Tausende von Menschen, die Hunger leiden müssen. Wir sollen also für diese Gaben danken. In unserer Zeit, die Gott immer mehr vergisst, ist es zudem ein Glaubensbekenntnis, wenn wir das Tischgebet nicht nur zu Hause, sondern auch in der Öffentlichkeit verrichten.
Beten müssen wir zudem vor wichtigen Entscheidungen. Wer vor der Wahl des Standes, des Berufs oder des Ehepartners nicht um eine gute Wahl gebetet hat, darf sich später nicht bei Gott beschweren, wenn er feststellt, falsch gewählt zu haben. Auch in den Versuchungen zur Sünde müssen wir unsere Zuflucht zum Gebet nehmen, denn wir sollen nicht meinen, diese Versuchungen aus eigener Kraft überwinden zu können.
Die Liebe zum Gebet
Morgen-, Abend- und Tischgebete sind das absolute Minimum, das an keinem Tag fehlen darf. Damit allein wird man aber noch kein vertrauter Freund Gottes. Wenn wir uns vor Augen halten, dass wir alles von Gott empfangen haben und in ihm allein einmal unsere ganze Seligkeit bestehen wird, werden wir leicht einsehen, dass wir uns für ihn Zeit nehmen müssen. Vielen Christen scheint z. B. der Rosenkranz ein ungeheuer langes Gebet zu sein, aber wenn wir bedenken, wie viel Zeit wir oft mit Dingen verbringen, die völlig unwichtig sind, dann sind die zwanzig Minuten des Rosenkranzes nicht viel. Zwei Menschen, die sich lieben, wollen ja auch nicht nur täglich ein paar Minuten, sondern viel Zeit miteinander verbringen.
Wir werden darum in den nächsten Folgen die verschiedenen Arten des Gebetes betrachten und auch die Schwierigkeiten behandeln, die beim Gebet häufig auftreten. Das Gebet hängt zwar als übernatürliches Werk von der Gnade Gottes ab, ist aber zum Teil auch etwas, was man lernen und üben kann. Es liegt deshalb auch an uns, ob wir Menschen des Gebetes werden und die Forderung Christi, „allezeit zu beten“ (Lk 18,1), verwirklichen.
Von Pater Matthias Gaudron
Anmerkungen
[1] Garrigou-Lagrange: Des Christen Weg zu Gott, Bd. 1, S. 455.