Liebt einander, wie Ich euch geliebt habe!
Fastentuch im Stift Eberndorf, Kärnten
Sehen wir nun, auf welche Weise sich Unser Herr in Seinem Tod und Leiden wahrhaft als Erlöser und Retter der Menschen erwies… Als Antwort auf die ungerechten und unwürdigen Gotteslästerungen, die man gegen Ihn ausstieß, rief Unser Erlöser die göttlichen Worte: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Mein Gott, wie bewundernswert sind diese Worte! Ich bitte euch, bedenkt die Herzensgüte Unseres Meisters und seht, zu welchen Mitteln die Liebe greift, um das Ziel ihrer Absichten zu erreichen, nämlich die Ehre Gottes und das Heil des Nächsten. Mein Vater, rief unser teurer Erlöser, als wollte Er sagen: Ich bin dein Sohn; erinnere dich, daß du mein Vater bist und mir deshalb nichts abschlagen darfst. Und um was bittet Er? Um nichts für sich, denn Er hat sich selbst vergessen. Er leidet mehr, als man sich je vorstellen kann; Er denkt aber trotzdem nicht an sich und an das, was Er erduldet. Er tut genau das Gegenteil von uns; wenn wir einen Schmerz haben, können wir nur daran denken und vergessen fast alles andere; ja sogar Zahnschmerzen lassen uns alles um uns herum vergessen, so sehr lieben wir uns selbst und sind wir dem armseligen Leib verhaftet.
Die Menschen denken fast ihr ganzes Leben lang daran, was sie bei ihrem Tod machen müssen, wie sie ihren letzten Willen gut aufsetzen, damit er recht verstanden wird… Unser Erlöser dagegen wollte Sein Testament erst am Kreuz und kurz vor Seinem Tod verkünden; trotzdem drückte er ihm sein Siegel auf und verschloss es vor allem anderen. Sein Siegel ist nichts anderes als Er selbst. Er brachte dieses heilige Siegel an, als Er das allerheiligste und anbetungswürdigste Sakrament des Altares einsetzte, das Er Sein neues Testament nennt. Dieses Sakrament enthält in sich die Gottheit und Menschheit zugleich und vollkommen die heilige Person Unseres Herrn.
Sein Siegel auf unserem Herzen
Durch die heilige Kommunion legte und drückte Er sich also wie ein heiliges Siegel und ein überaus liebenswürdiger Stempel auf unser Herz. Dann machte er Sein Testament und tat Seinen letzten Willen am Kreuz kund, kurz bevor Er starb, damit alle Menschen, die Seine Miterben im Königreich Seines himmlischen Vaters sein sollen, ganz genau unterrichtet sind, sowohl darüber, was sie tun müssen, wie über Seine unvergleichliche Liebe zu ihnen. Er vergißt sich selbst, um zuerst an sie zu denken, so groß ist Seine Liebe; erst dann kommt Er auf sich zurück.
Sein Testament, meine Lieben, ist nichts anderes als die göttlichen Worte, die Er am Kreuz sprach. Ganz eingenommen von der Liebe, die Er zu den Sündern hegte, wollte er also Seinen himmlischen Vater besänftigen, indem er Ihn Vater nannte: Mein Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Welch unvergleichlicher Beweis vollkommener Liebe! „Liebet einander, wie ich euch geliebt habe“ hatte Er oft gesagt, als Er dem Volk oder den Aposteln predigte, so daß es schien, als liege Ihm nichts anderes so am Herzen, als ihnen diese hochheilige Liebe einzuprägen.
Jetzt aber gibt Er dafür ein ganz und gar unvorstellbares Beispiel: Er entschuldigt sogar jene, die Ihn gekreuzigt und mit geradezu barbarischer Wut beschimpft haben, und Er sucht Gründe, um zu erreichen, daß Sein Vater ihnen verzeihe, und das sogar, während sie sündigen und Ihn schmähen. Wie armselig sind wir dagegen; denn zur Not können wir eine Beleidigung zehn Jahre, nachdem sie uns zugefügt wurde, vergessen. Ja, es gab sogar solche, die nicht einmal in der Todesstunde jene nennen hören und ihnen vergeben wollten, von denen sie irgendein Unrecht erfahren hatten. O Gott, wie groß ist unser Elend! Wir können unseren Feinden kaum verzeihen, und Unser Herr liebte sie so innig und bat so inständig für sie!
Eines der größten Geschenke aus der Güte Gottes
… Dennoch bleibt ihm noch manches Vermächtnis in seinem göttlichen Testament zu machen. Wie, sagt ihr mir: gibt es noch etwas anderes? Da ist eine gewisse geistliche Zärtlichkeit, die er Seinen liebsten Freunden schenken mußte; eine Zärtlichkeit, die nichts anderes ist als ein ganz einzigartiges Mittel, die erworbene Gnade zu bewahren und zu einem höheren Grad der Herrlichkeit zu gelangen. Da Er also mit Augen voll Mitleid auf Seine gebenedeite Mutter schaute, die mit Seinem Lieblingsjünger am Fuß des Kreuzes stand, wollte Er ihr nicht die Gnade schenken oder erbitten, denn die besaß sie schon in höchstem Grad, noch weniger wollte Er ihr die Herrlichkeit versprechen, denn die war ihr ganz sicher; Er schenkte ihr vielmehr eine bestimmte Herzenseinheit und zärtliche Liebe für den Nächsten. Diese gegenseitige Liebe ist eines der größten Geschenke, die Seine Güte den Menschen gemacht hat.
Doch welche Liebe? Eine mütterliche Liebe! Frau, sagt Er, sieh deinen Sohn. Gott, welcher Tausch! Statt des Sohnes der Diener, statt Gott das Geschöpf! Trotzdem weigert sie sich nicht, denn sie weiß sehr wohl, dass sie in der Person des hl. Johannes alle Kinder des Kreuzes als ihre Kinder empfängt und daß sie ihnen eine liebevolle Mutter sein wird. Unser göttlicher Meister lehrt uns dadurch: wenn wir teilhaben wollen an Seinem Testament und an den Verdiensten Seines Todes und Leidens, müssen wir alle einander lieben mit einer zärtlichen und überaus herzlichen Liebe des Sohnes zur Mutter und der Mutter zum Sohn, die in gewisser Hinsicht größer ist als die der Väter.
… Da Er unser König ist, müssen wir alles Seinem Dienst unterordnen, was wir haben. Wir schulden Ihm unseren Leib, unser Herz und unseren Geist, damit Er darüber verfüge als über Sein Eigentum und wir sie nie im Gegensatz zu Seinen göttlichen Gesetzen gebrauchen. Was aber sind die Gesetze Unseres Königs? All das, wovon ich eben gesprochen habe. Er hat es zuerst befolgt, um uns ein Beispiel zu geben: die hochheilige Demut, Großmut, Geduld, Standhaftigkeit und unveränderliche Beharrlichkeit und schließlich die überaus liebenswürdige und vorzügliche Tugend des Gleichmuts. Er will, daß wir diese Tugenden von Ihm lernen bei der Erwägung Seines Todes und Leidens und Er wünscht, daß wir Ihm durch sie unsere Liebe und unsere Treue bezeigen, denn durch ihre Übung hat Er uns die Größe und Glut seiner Liebe zu uns bewiesen, deren wir so unwürdig waren. Der Name Jesu sei gepriesen. Amen.
Auszug aus einer Predigt des hl. Franz von Sales zum Karfreitag, Annecy, Frankreich, 16. April 1620 (2. Teil)