Die Liebe nährt sich nicht so, wie wir denken
Die Kirche zeigt uns am ersten Fastensonntag die Versuchung Jesu, am zweiten seine Verklärung und die Herrlichkeit des himmlischen Jerusalem, am dritten dann die Vorsehung Gottes für jene, die von Unserem Herrn gelernt haben, tapfer zu kämpfen, und die es so treu getan haben, daß sie die Belohnung nach dem Kampf verdienten, die Er ihnen zeigt. Heute wollen wir einige kurze Erwägungen zum Gebet anstellen…
Als Jesus auf den Berg gestiegen war, begann Er zu beten. Während Er betete, wurde Er verklärt und Sein Gesicht wurde leuchtender als die Sonne und Seine Kleider weiß wie Schnee. Nun erkennen wir, daß unser Gebet gut ist und dass wir in ihm Fortschritte machen, wenn nach dem Gebet unser Gesicht wie das des Herrn leuchtet wie die Sonne und unsere Kleider weiss wie Schnee sind, d. h. wenn unser Gesicht vor Liebe strahlt und unser Leib durch die Keuschheit… Wenn ihr nach dem Gebet ein verdrießliches und ärgerliches Gesicht macht, sieht man zur Genüge, daß ihr nicht so gebetet habt, wie ihr sollt!
Die Apostel sahen, wie Mose und Elija mit Unserem Herrn über den Ausgang sprachen, den Er in Jerusalem vollenden mußte. Seht ihr, während der Verklärung wird von der Passion gesprochen; denn dieser Ausgang ist nichts anderes als die Passion… Die Liebe nährt sich nicht so, wie wir denken. Unser Herr spricht also von Seinem Leiden und von Seinem Tod, weil das die höchste Tat seiner Liebe ist…
Lieben wir die Tröstungen Gottes oder den Gott der Tröstungen?
Man muß auf den Berg Tabor steigen, um getröstet zu werden, werdet ihr sagen, denn das drängt und führt die schwachen Seelen voran, die nicht den Mut haben, das Gute zu tun, ohne dass sie dabei eine Befriedigung finden. Aber glaubt mir, die wahre Frömmigkeit erwirbt man nicht inmitten des Trostes. Seht ihr das nicht im heutigen Geheimnis? Obwohl die drei Apostel die Herrlichkeit Unseres Herrn gesehen hatten, verließen sie Ihn später in seinem Leiden, und der hl. Petrus, der stets so kühne Reden führte, beging doch eine schwere Sünde, indem er seinen Meister verleugnete. Vom Berg Tabor steigt man als Sünder herab, vom Kalvarienberg dagegen gerechtfertigt. Das gilt dann, wenn man sich dort fest am Fuß des Kreuzes hält wie Unsere liebe Frau, der Ausbund alles Schönen und Vorzüglichen im Himmel und auf Erden. Der hl. Johannes harrte dort treu zu Füßen seines Meisters aus, und man sieht ihn nie mehr eine Sünde begehen. In der Tröstung ist man wahrhaftig sehr in Sorge, denn man weiß nicht, ob man die Tröstungen Gottes liebt oder vielmehr den Gott der Tröstungen. In der Trübsal dagegen gibt es nichts zu befürchten, wenn man treu ist, weil es da nichts Liebliches gibt.
Die Stimme des ewigen Vaters spricht: Dieser ist mein vielgeliebter Sohn: auf Ihn sollt ihr hören. Man muß also dem ewigen Vater gehorchen, indem man Unserem Herrn folgt, um Sein Wort zu hören. Daher werden wir belehrt, daß alle, in welchem Stand immer, bitten und beten müssen, denn vorzüglich im Gebet spricht der göttliche Meister zu uns. Ich sage nicht, daß wir alle gleichviele Gebete verrichten müßten; denn es wäre nicht angebracht, wenn jene, die viel Arbeit haben, ebensoviel Zeit im Gebet verbrächten wie die Ordensleute. Ich sage aber sehr wohl: wenn ihr eure Pflicht gut erfüllen wollt, müßt ihr Gott im Gebet bitten, daß wir gut zu tun lernen, was wir tun…
Es würde aber nichts nützen, auf Ihn zu hören, wenn wir nicht täten, was Er sagt, indem wir getreu Seine Gebote und Seinen Willen befolgen. Viele sind ja gern bereit, ihn zu hören; viele möchten Ihm auf den Berg Tabor folgen, sehr wenige aber auf den Kalvarienberg. Trotzdem ist das eine vorteilhafter als das andere. Ebenso bringt es mehr Nutzen, den Willen Gottes zu erfüllen oder Ihn zu lieben in einem Ereignis, das uns widerstrebt, als Unseren Herrn sprechen zu hören in der Tröstung, die man manchmal im Gebet erfährt.
Als sich die Apostel aufrichteten (sie waren ja auf ihr Angesicht niedergefallen, als sie die Stimme des ewigen Vaters vernahmen), da sahen sie niemand als Jesus allein. Das ist die höchste Stufe der Vollkommenheit, in allem, was wir tun, nichts zu sehen als Unseren Herrn. Viele hüten sich wohl, die Menschen und die Dinge dieser Welt anzusehen, aber es ist äußerst selten, dass sie nicht auf sich selbst schauen. Sogar sehr geistlich Gesinnte suchen und wählen unter den Übungen der Frömmigkeit jene, die mehr nach ihrem Geschmack sind und ihren Neigungen mehr entsprechen. Man darf indes nur Gott sehen, nur Ihn suchen, nur Ihn lieben, dann werden wir glücklich sein. Jene Seelen, die diese Stufe der Vollkommenheit erreicht haben, sind mit besonderer Sorgfalt darauf bedacht, auf den gekreuzigten Herrn auf dem Kalvarienberg zu schauen und sich bei Ihm aufzuhalten; denn hier finden sie Ihn eher allein als irgendwo anders. Amen.
Auszug aus einer Predigt des hl. Franz von Sales zum 2. Fastensonntag, Annecy/Frankreich, 23. Februar 1614
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