Kleine Schule des Gebetes: Das mündliche Gebet
Unter mündlichem Gebet wollen wir hier das Gebet nach vorformulierten Texten verstehen, die wir zumindest im Geist aussprechen. Solche Gebete gibt es viele. Die wichtigsten und grundlegendsten sind das Vaterunser, das Christus selbst uns gelehrt hat (vgl. Mt 6,9–13), das Gegrüßet seist du, Maria und das Ehre sei dem Vater.
Das hl. Messopfer ist von vielen mündlichen Gebeten umgeben, und ohne das mündliche Gebet könnte es gar kein öffentliches und gemeinschaftliches Gebet geben. Die Kirche legt ihren Priestern und Ordensleuten unter strenger Pflicht das tägliche Breviergebet auf, dessen Hauptanteil die Psalmen des Alten Testaments sind. Dieses Gebet wird ein „Opfer des Lobes“ (Ps 49,23) genannt, das von den Lippen der Gottgeweihten täglich mehrmals zu Gott emporsteigt. Die Heilige Schrift enthält dazu noch viele andere Gebete wie z. B. das Magnifikat der Muttergottes (Lk 1,46–55) oder das Nunc dimittis des greisen Simeon (Lk 2,29–32). Auch die Päpste, Heiligen und geistlichen Schriftsteller haben viele schöne Gebete verfasst, die uns helfen, Gott in angemessener Weise zu ehren und um das Rechte zu bitten. Wenn wir bei diesen Gebeten etwas abwechseln, geben sie unserem Geist immer wieder neue Gedanken, womit der Überdruss verhindert wird, der sich leicht einstellt, wenn man immer dasselbe betet.
Beim mündlichen Gebet unterscheidet man eine dreifache Aufmerksamkeit, nämlich auf die Worte, auf den Sinn der Worte und auf Gott. Die Aufmerksamkeit nur auf das richtige Aussprechen der Worte zu richten, ohne auf deren Sinn zu achten, genügt für ein gutes Gebet selbstverständlich nicht. Man muss allerdings auch nicht immer auf den Sinn jedes einzelnen Wortes achten, sondern es genügt, den allgemeinen Sinn eines Gebets vor Augen zu haben. Beim Rosenkranz ist es z. B. nicht nötig, auf die Worte jedes einzelnen Ave-Maria zu achten, sondern man denkt an das jeweilige Geheimnis. So wird der Rosenkranz schon zu einem betrachtenden Gebet. Man kann die Aufmerksamkeit auch einfach nur auf Gott richten. So kann z. B. jemand, der des Lateinischen nicht mächtig ist, trotzdem in einer guten Weise die Gebete der Messe oder die Psalmen des Breviers mitsprechen, wenn er damit Gott loben will und versucht, seine Gedanken auf ihn zu richten.
Das mündliche Gebet hat, wie erwähnt, den Vorteil, dass man es in der Gemeinschaft verrichten kann. Um den Wert des gemeinschaftlichen Gebets hervorzuheben, führt Papst Leo XIII. in seiner Enzyklika Fidentem piumque das Wort Christi an: „Wenn zwei von euch auf Erden um irgendetwas einmütig bitten, wird es ihnen von meinem himmlischen Vater zuteilwerden. Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,19 f.). Auf dieses Wort gestützt schreibt Tertullian: „Wir treten zu einem Bund zusammen und halten gemeinschaftliche Versammlung ab, um, gleichsam ein Heer bildend, Gott mit Bitten zu bestürmen. Eine solche Gewalttätigkeit ist Gott wohlgefällig.“[1] Thomas v. Aquin schreibt sogar: „Es ist unmöglich, dass das Gebet von vielen unerhört bleibt, wenn aus den Bitten der vielen gleichsam ein Gebet wird.“[2] Es ist also gut, wenn wir uns bemühen, nicht nur alleine, sondern auch mit anderen zu beten, vor allem in der Familie und in der Gemeinde oder wenn wir uns zu Gebetsgruppen zusammenschließen.
Das veräußerlichte mündliche Gebet
Die große Gefahr beim mündlichen Gebet besteht darin, die Gebetstexte gedankenlos herunterzusagen. In diesem Sinn geht beim Propheten Isaias der Vorwurf Gottes an Israel: „Dieses Volk … ehrt mich nur mit seinen Lippen, doch sein Herz ist weit von mir“ (Is 29,13; vgl. Mt 15,8).
Der hl. Bernhard von Clairvaux sah eines Tages beim Chorgebet die Schutzengel seiner Mitbrüder. Jeder Engel schrieb mit, was der Mönch betete. Dabei schrieben einige Engel mit Gold, andere mit Silber, andere mit Tinte und wieder andere mit Wasser; einige Engel schließlich schrieben gar nichts. Dabei sollte das Gold die Inbrunst des Gebets bedeuten, das Silber dagegen eine gewisse Nachlässigkeit. Die Tinte deutete an, dass der Mönch die Worte zwar deutlich, aber ohne Andacht aussprach, und das Wasser, dass man die Worte nachlässig aussprach und kaum auf den Inhalt achtete. Die Engel, die nichts schrieben, zeigten an, dass ihr Schutzbefohlener sich ganz freiwilligen Zerstreuungen überließ.
Nun weiß allerdings jeder, der sich um ein gutes Gebetsleben bemüht, wie schwer es oft ist, sich gegen die Zerstreuungen zu wehren. Niemand kann Zerstreuungen völlig meiden, und darum haben selbst die Heiligen solche gehabt. Das hängt mit der Schwachheit unserer menschlichen Natur zusammen, und selbstverständlich kann man auch annehmen, dass die Dämonen durch Einflüsterungen und Vorspiegelungen versuchen, uns besonders beim Gebet zu stören. Aus der Zeit der Wüstenväter wird erzählt, dass eines Nachts, als sie sich für den Psalmengesang erhoben, einer von ihnen, nämlich der Abt Marcellus in Scythi, ein Trompetensignal hörte, wie zum Angriff in einer Schlacht. Verwirrt fragte er sich, woher dieser Schall komme, da es in der Wüste weder Soldaten noch Krieg gab. Da erschien ihm der Teufel und sagte zu ihm: „Du meinst, es gebe keine Schlacht, aber es gibt doch eine, und das Trompetensignal hörtest du, weil die Teufel sie den Mönchen liefern sollen.“ Wenn die Gläubigen sich zum Gebet versammeln, versammeln sich also auch die Dämonen, um zu versuchen, dem Gebet durch Zerstreuungen den Wert zu nehmen. So sehr hassen sie das eifrige Gebet.
Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen unfreiwilligen und freiwilligen Zerstreuungen. Wer das Gebet mit einer guten Gesinnung beginnt und dann, ohne es zu merken, im Geist abschweift, betet trotzdem gut, denn die gute Absicht des Anfangs wirkt weiter fort. So lehrt z. B. der hl. Thomas v. Aquin.[3] Die freiwillige Zerstreuung dagegen mindert den Wert des Gebets. Wer also merkt, dass er zerstreut ist, muss versuchen, seine Aufmerksamkeit wieder auf das Gebet zu richten. Mag er auch immer wieder in Zerstreuung fallen; wenn er nur, sobald er es merkt, wieder zum Gebet zurückkehrt, so ist sein Gebet gut und verdienstlich, mag es auch mühsam sein. Ein solches Gebet ist vor Gott wahrscheinlich sogar wertvoller als das eines anderen, der unter dem Einfluss einer besonderen Gnade mühelos die Andacht bewahrt, wenn man nur den Kampf gegen die Zerstreuungen nicht aufgibt. Wer sich dagegen den Zerstreuungen freiwillig überlässt und nicht gegen sie kämpft, sündigt – wenn auch normalerweise nur lässlich –, da es eine Unehrerbietigkeit ist, sich gegenüber Gott so nachlässig und unaufmerksam zu verhalten. Man stelle sich nur vor, jemand würde einem höhergestellten Menschen gegenüber einige Huldigungsformeln oder Bitten ablesen, ohne diesen dabei anzuschauen und ohne auf den Sinn dessen, was er herunterliest, zu achten.
Hilfen gegen die Zerstreuungen
Wenn es auch unmöglich ist, alle Zerstreuungen zu vermeiden, so kann man doch etwas tun, um diese wenigstens zu vermindern. Das erste Mittel besteht darin, sich zu Beginn des Gebetes kurz zu sammeln. Wer aus dem Alltag kommend sich nur schnell hinkniet und sofort damit beginnt, seine Gebete zu sprechen, wird fast sicher zerstreut sein. Er wird sich in seinem Inneren noch mit dem beschäftigen, was er gerade erlebt hat, und seine Gedanken vielleicht auch schon auf das richten, was er als Nächstes tun will. Wir müssen uns also zuerst die Gegenwart Gottes bewusst machen: Gott ist überall, und wenn wir im Stand der Gnade sind, wohnt er sogar als unser Freund in unserem Herzen. Vergegenwärtigen wir uns also, dass Gott da ist, dass er uns sieht und hört, dass nichts, was wir ihm anvertrauen, bei ihm vergessen ist. Wenn wir in einer Kirche beten, wohnt Christus auch in seiner Menschheit im Tabernakel, denn in der Eucharistie ist er als Gott und Mensch, mit Leib und Seele, Fleisch und Blut gegenwärtig. Wir können daher so vertrauensvoll an ihn herantreten, wie es die Menschen vor zweitausend Jahren taten, als er in sichtbarer Gestalt auf der Erde lebte.
Ein weiteres Hilfsmittel gegen die Zerstreuungen ist es, sich ein schönes Kreuz oder Bild des Heilands bzw. der Muttergottes vor Augen zu halten. Bei uns Menschen läuft alle Erkenntnis über die Sinne, und sinnliche Vorstellungen begleiten selbst unser abstraktes Denken. Diese sinnlichen Vorstellungen und Assoziationen ziehen uns auch immer wieder vom Gebet weg. Wenn wir unserem Vorstellungvermögen dagegen ein Bild bieten, können wir uns daran gewissermaßen festhalten, damit unsere Aufmerksamkeit nicht auf andere Dinge gezogen wird, oder wenigstens können wir immer wieder zu dem Bild zurückkehren und damit zur Andacht zurückfinden.
Schließlich hat auch die äußere Haltung beim Gebet einen Einfluss auf die Aufmerksamkeit. Wer sich allzu nachlässig hält, wird meist auch nur nachlässig beten. Die beste Haltung beim Gebet ist sicherlich das Knien oder auch das Stehen, wobei man die Hände faltet. Damit wird auch der Leib in das Lob Gottes miteinbezogen. Natürlich kann man aufgrund von Müdigkeit oder Gebrechlichkeit auch im Sitzen oder in einer anderen Stellung beten, muss dann aber doch versuchen, auch hierbei der Ehrfurcht gegenüber Gott irgendwie Ausdruck zu verleihen.
Den 1. Teil der "Kleinen Schule des Gebetes" zur Notwendigkeit des Gebetes finden Sie hier
Anmerkungen
[1] Apologeticum, c. 39; PL 1,468.
[2] In Matth. Evang. 18.
[3] Vgl. II-II q.83 a.13 c, ad 3.