Kleine Schule des Gebetes: 5. Das Leben in der Gegenwart Gottes
Das innere Leben ist, wie wir schon gesehen haben, nach der hl. Theresa v. Avila nichts anderes als „ein freundschaftlicher Austausch“ mit Gott,[1] eine vertraute Unterhaltung mit ihm. Nun führt jeder Mensch, sobald er alleine ist und sich nicht mit äußeren Dingen beschäftigt, die seine ganze Aufmerksamkeit erfordern, ein inneres Gespräch mit sich selbst. Dies geschieht sogar auf der belebten Straße einer Großstadt, beim Autofahren oder im Zug.
Der Mensch spricht mit sich selbst über seine Pläne, seine Schwierigkeiten, seine Hoffnungen, letztlich über alles, was ihn irgendwie beschäftigt. Oft nimmt diese Unterhaltung auch die Form eines fiktiven Zwiegesprächs mit einer anderen Person an, die man sich vorstellt. Man bespricht sich mit einem Freund, legt einem Kollegen seine Pläne dar usw. Dies zeigt schon, dass der Mensch nicht allein sein will, sondern ein Gegenüber sucht. „Mein Herz … erträgt den Schauder der einsamsten Einsamkeit nicht und zwingt mich zu reden, als ob ich Zwei wäre“, schreibt Nietzsche in einem Fragment.[1]
Wir sind nie allein
Nun sagt der Glaube uns, dass wir nie wirklich allein sind, weil Gott allgegenwärtig ist. Schon im AT betet der Psalmist:
„Wohin soll ich gehen vor Deinem Geist, wohin fliehen vor Deinem Antlitz?
Stiege ich zum Himmel hinauf: Du bist dort. Läge ich drunten in der Unterwelt: siehe, da bist Du.
Nähme ich mir des Morgenrots Schwingen und ließe mich nieder am Ende des Meeres,
so würde auch dort Deine Hand mich geleiten, mich fassen Deine Rechte.“
(Ps 138 [139],7 ff.)
Im NT sagt der hl. Paulus in seiner Rede vor dem Areopag in Athen: „In ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“ (Apg 17,28), und unter den Kirchenvätern schreibt der hl. Ambrosius: „Gott erfüllt alles, durchdringt alles und ist überall ganz und gleichzeitig im Himmel, auf Erden und in den Tiefen des Meeres gegenwärtig.“[2] Gott ist allen Dingen tief innerlich gegenwärtig, da er sie ihm Sein erhält, denn da die Welt aus dem Nichts geschaffen wurde, würde sie sofort wieder ins Nichts zurückfallen, wenn Gott ihr seine seinserhaltende Tätigkeit entziehen würde.
Neben dieser natürlichen Allgegenwart Gottes gibt es nach der Lehre der Heiligen Schrift aber noch eine besondere Gegenwart Gottes in der Seele eines Menschen, der ein Kind Gottes ist, also im Stand der heiligmachenden Gnade lebt. So sagt Christus zu seinen Aposteln im Abendmahlssaal: „Wenn jemand mich liebt, wird er mein Wort bewahren, und mein Vater wird ihn lieben und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen“ (Joh 14,23). Auch der hl. Paulus betont diese Gegenwart Gottes im Christen: „Wisst ihr nicht, dass ihr ein Tempel Gottes seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1 Kor 3,16) „Ihr seid der Tempel des lebendigen Gottes“ (2 Kor 6,16). Der hl. Ignatius von Antiochien († 107) nennt die Christen darum Theophoroi, d. h. Gottesträger.
Dagegen stürzt der Atheismus den Menschen, der nicht nur an der Oberfläche lebt, sondern tiefer nachdenkt, in einen Abgrund der Sinnlosigkeit und Einsamkeit, von dem Nietzsche schreibt: „Zuletzt gab es für alle die, welche irgendwie einen ‚Gott‘ zur Gesellschaft hatten, noch gar nicht das, was ich als ‚Einsamkeit‘ kenne.“[3]
Da Gott nicht so in die Seele eines Menschen kommen kann, als wäre er vorher gar nicht da gewesen – dann wäre er ja nicht allgegenwärtig –, kann diese neue Gegenwart nur in einer neuen Beziehung bestehen, die Gott mit der Seele eingeht. So sagt der hl. Thomas v. Aquin, die Gnade bewirke, dass Gott in der Seele als Erkannter im Erkennenden und als Geliebter im Liebenden gegenwärtig werde:
„Es gibt eine allgemeine Weise, in der Gott in allen Dingen ist … wie die Ursache in den Wirkungen … Über diese allgemeine Weise hinaus gibt es aber noch eine spezielle, die nur den vernunftbegabten Geschöpfen zukommt, kraft derer man sagt, Gott sei als Erkannter im Erkennenden und als Geliebter im Liebenden. Und weil das vernunftbegabte Geschöpf, indem es erkennt und liebt, durch sein Wirken Gott selbst erreicht, sagt man, dass Gott gemäß dieser besonderen Weise nicht nur im vernunftbegabten Geschöpf anwesend ist, sondern in ihm wie in seinem Tempel wohnt.“ (S Th I q.43, a.3)
Es ist also eine Beziehung der Freundschaft, des gegenseitigen Kennens und Liebens, die durch die Gnade ermöglicht wird. Darum wird ein wirklich innerliches Leben mit Gott erst durch die heiligmachende Gnade möglich. Der Sünder kann zwar auch zu Gott beten und ihn um seine Barmherzigkeit anflehen, aber solange er den Gnadenstand nicht wiedererlangt hat, kann er in keiner Beziehung der Freundschaft und des vertrauten Umgangs mit Gott leben.
Wenn Gott also in unserer Seele wohnt, und zwar nicht nur als unser Herr, sondern sogar als unser Freund, dann müssen wir uns auch bemühen, an diesen göttlichen Gast zu denken und mit ihm zu sprechen. Das Gespräch, das wir mit uns selber führen, sollte also zu einem Gespräch mit Gott werden. Tatsächlich berauben wir uns einer der größten Quellen der Kraft und des Trostes, wenn wir den göttlichen Freund in unserer Seele vergessen. Versuchen wir stattdessen, sobald wir allein sind, mit unserem Herrn zu reden. Wir können ihm unsere Sorgen anvertrauen, ihn um Hilfe bei unseren Arbeiten bitten und ihm danken für die Freuden, die er uns schenkt. Wenn wir zur Sünde versucht werden, denken wir an seine Gegenwart und bitten ihn um seinen Beistand. Wenn uns eine Aufgabe oder ein Opfer zu schwer erscheint, bitten wir um seine Kraft. Auf diese Weise erfüllen wir das Wort Christi: „Man muss allezeit beten und darf nicht nachlassen“ (Lk 18,1).
Im Alltag mit seinen vielen Zerstreuungen ist es allerdings nicht einfach, die Gegenwart Gottes nicht zu vergessen. Darum ist es gut, sich den häufigen Gebrauch von Stoßgebeten anzugewöhnen. Wenn es noch nicht gelingt, ständig bei Gott zu sein, kann man wenigstens immer wieder sein Herz zu ihm erheben und ein Stoßgebet an ihn richten. Bei den Christen des Ostens gibt es die Übung des sog. Herzensgebets. Dabei wird ein Stoßgebet wie z. B. „Jesus, Sohn Gottes, erbarme dich meiner“ beständig wiederholt, bis es so selbstverständlich wird wie das Atmen. Auch auf diese Weise kann man dahin gelangen, beständig in der Gegenwart Gottes zu leben.
Schwester Elisabeth von der Dreifaltigkeit
Ein Mensch, der ganz von der Wahrheit der Einwohnung Gottes in unserer Seele durchdrungen war, war die Karmelitin Elisabeth von der Dreifaltigkeit (1880–1906).[4] Sie machte aus ihrem Ordensnamen das Programm ihres geistlichen Lebens: Der Glaube, dass der dreifaltige Gott in ihr lebte, bewegte sie dazu, beständig an die drei göttlichen Personen zu denken und mit ihnen zu leben:
„Meine einzige Übung besteht darin, in mein Inneres einzukehren und mich in diejenigen zu verlieren, die dort sind.“
„Die Heiligste Dreifaltigkeit, das ist unsere Wohnung, unser zu Hause, das Vaterhaus, das wir nicht verlassen sollen. … Mir kommt vor, ich habe meinen Himmel auf Erden gefunden, denn der Himmel ist Gott und Gott ist in meiner Seele. An dem Tag, an dem ich das verstanden habe, ist alles in mir licht geworden.“
In ihrem berühmten Gebet heißt es:
„Schenke Frieden meiner Seele, mach sie zu Deinem Himmel, zu Deiner geliebten Wohnung und zum Ort Deiner Ruhe. Gib, dass ich Dich dort nie allein lasse, sondern ganz da bin, ganz wach in meinem Glauben, ganz anbetend, ganz ausgeliefert an Dein schöpferisches Handeln.“
Das Vorbild dafür fand sie in der „Jungfrau von der Menschwerdung“, in der allerseligsten Jungfrau Maria, die das göttliche Kind empfangen hat, es in ihrem Schoß trägt und ganz in seine Anbetung versunken ist:
„Mir scheint, dass das Verhalten der seligsten Jungfrau während der Monate zwischen der Verkündigung und der Geburt des Herrn das Vorbild für die innerlichen Seelen ist. … In welchem Frieden, in welcher Sammlung begann und vollzog Maria alles! Wie wurden auch die alltäglichsten Handlungen durch sie vergöttlicht, denn bei allem blieb die Jungfrau die Anbeterin der Gabe Gottes. Das hinderte sie nicht, nach außen tätig zu sein, wenn es galt, die Liebe zu üben. Das Evangelium sagt uns, dass Maria ‚in Eile über die Berge Judäas ging, um ihre Base Elisabeth aufzusuchen‘ (Lk 1,39). Nie nahm die Liebe nach außen ab durch die unaussprechliche Schau, in die sie versunken war.“
Schwester Elisabeth erkannte aber auch das große Hindernis für dieses Leben in der beständigen Gegenwart Gottes. Es ist die ungeordnete Eigenliebe, die uns zu sehr um uns selber kreisen lässt und die in den Geschöpfen ihre Befriedigung sucht. Um ganz in und für Gott leben zu können, muss man sich von der Anhänglichkeit an die Geschöpfe befreien und sogar von sich selber leer werden. Darum schreibt sie in ihrem Gebet: „Hilf mir, mich ganz zu vergessen, um in Dir zu wohnen, regungslos und friedvoll, so als weilte meine Seele bereits in der Ewigkeit.“
Am Ende ihres Lebens konnte sie schreiben:
„Daran zu glauben, dass ein Wesen, das sich die Liebe nennt, in uns in jedem Augenblick des Tages und der Nacht wohnt und dass es von uns verlangt, in Gesellschaft mit ihm zu leben, das ist es, was aus meinem Leben einen vorweggenommenen Himmel gemacht hat.“[5]
Bitten wir die hl. Schwester Elisabeth, uns zu helfen, zu einer ähnlichen Gottverbundenheit zu gelangen.
Anmerkungen
[1] Leben 8,5.
[2] Kritische Studienausgabe 7, S. 460 f.
[3] De fide ad Gratianum I, 16, 106; PL 16, 537.
[4] Brief an Franz Overbeck, 2. Juli 1885; KSB 7,63.
[5] Mit bürgerlichem Namen Elisabeth Catez. Sie lebte in Frankreich im Karmel von Dijon.
[6] Die Zitate sind dem Buch von P. Michel Philipon O.P.: Die geistliche Lehre Schwester Elisabeths (Wien 1948) entnommen.