Die kirchliche Jurisdiktion

Quelle: Distrikt Deutschland

Priesterseminar der FSSPX in den USA

Von Pater Matthias Gaudron

Darf ein Priester nach eigenem Gutdünken eine Kapelle eröffnen, dort Seelsorge betreiben und den Gläubigen, die sich an ihn wenden, die Sakramente spenden? Darf ein Gläubiger aus eigenem Antrieb eine Internetplattform aufmachen, um dort den Glauben zu verkünden und die kirchliche Lage zu kommentieren? – Wir berühren hier Fragen, die in den Bereich der kirchlichen Jurisdiktion oder Hirtengewalt fallen.

Das Wort Jurisdiktion bedeutet eigentlich „Rechtsprechung“ und bezeichnet damit zunächst die Gerichtsgewalt. Im kirchlichen Recht hat dieser Begriff jedoch eine Sinnerweiterung erfahren und bezeichnet hier die gesamte Leitungs- bzw. Hirtengewalt, zu der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung gehören. Die ordentlichen Träger der kirchlichen Jurisdiktion sind der Papst für die Gesamtkirche und die Bischöfe für ihre Diözese. In einer uneigentlichen Weise spricht man auch von der Jurisdiktion der Pfarrer für ihre Pfarrei und meint damit die besonderen Rechte des Pfarrers. Dieser hat z. B. das Recht, die Kinder seiner Pfarrei zu taufen und die Ehen einzusegnen. Nach Maßgabe des Rechts kann er diese Vollmacht aber auch an einen anderen Priester delegieren.

Die Leitungsgewalt ist also von der Weihegewalt zu unterscheiden. Kraft seiner Weihe kann der Bischof oder Priester die Messe feiern und die Sakramente spenden, für die die Bischofs- oder Priesterweihe erforderlich ist. Kraft der Leitungsgewalt wird er aber der Hirte eines kirchlichen Gebiets, denn jede menschliche Gemeinschaft braucht eine ordnende Autorität. Man kann daher die Weihegewalt das Lebensprinzip der Kirche nennen, die Hirtengewalt dagegen ihr Ordnungsprinzip. Die Weihegewalt ist unverlierbar, weil der Weihecharakter unzerstörbar ist; die Leitungsgewalt kann einem Hirten aber von der zuständigen Obrigkeit entzogen werden. So verliert ein Bischof jegliche Leitungsgewalt über seine Diözese, wenn der Papst ihn absetzt oder seinen Rücktritt annimmt.

Die Jurisdiktion in Krisenzeiten

Befände sich die Kirche in einer normalen Lage, so wäre es ganz und gar gegen das kirchliche Recht, wenn eine Gemeinschaft gegen den Willen Roms Priesterseminare unterhält, Priester weiht, in verschiedenen Diözesen gegen den Willen der Ortsbischöfe Quasi-Pfarreien errichtet und dort Seelsorge ausübt, wie es die Priesterbruderschaft St. Pius X. tut. Die Handlungsweise der Priesterbruderschaft ist einzig und allein durch den kirchlichen Notstand gerechtfertigt. Wer diesen nicht anerkennt, kann auch das Handeln der Priesterbruderschaft nicht verstehen.

Allerdings wird der Notstand in der Kirche angesichts der Eskapaden von Papst Franziskus und des offenen Glaubensabfalls vieler Bischöfe, wie er sich in Deutschland z. B. im Synodalen Weg zeigt, von Tag zu Tag offensichtlicher. Beim Ausbruch der Corona-Epidemie waren zudem in vielen Gegenden der Welt die Bischöfe die ersten, die die Kirchen ihrer Diözesen schließen ließen, während die Priesterbruderschaft sich weiterhin bemühte, den Gläubigen die Möglichkeit zum Sakramentenempfang zu geben. Darum wenden sich ja auch immer mehr Gläubige aus ursprünglich anderen Gemeinden der Priesterbruderschaft zu.

Erzbischof Lefebvre schrieb am 27. April 1987 in einem Brief an die Mitglieder in Bezug auf die besondere Situation der Priesterbruderschaft:„Da wir keinen kanonischen Auftrag besitzen, haben wir keine Jurisdiktion aufgrund eines Auftrags. Doch die Kirche gewährt uns die Jurisdiktion aufgrund des Rechtes, nämlich in Anbetracht der Pflicht der Gläubigen, sich durch die Gnade der Sakramente zu heiligen, welche sie nur schwer und vielleicht ungültig empfangen könnten, wenn sie sie nicht von uns empfingen. Wir erhalten also die Jurisdiktion von Fall zu Fall, um Seelen, die in Bedrängnis sind, zu Hilfe zu kommen.

Das Kirchenrecht schreibt im Kanon 682 des alten Kodex den Gläubigen ein wahres Recht zu, vom Klerus geistliche Güter zu empfangen, vor allem diejenigen Hilfen, die zum Heil notwendig sind. Auch das neue Recht sagt im Kanon 213:

Die Gläubigen haben das Recht, aus den geistlichen Gütern der Kirche, insbesondere dem Wort Gottes und den Sakramenten, Hilfe von den geistlichen Hirten zu empfangen.

Wenn die ordentlichen Hirten also versagen, indem sie den Gläubigen nicht die unverfälschte katholische Lehre verkünden und die Messe sowie die Sakramente nur in einer unwürdigen und zweifelhaften Weise spenden, haben andere Priester das Recht, diesen Gläubigen zu Hilfe zu kommen, und empfangen in diesem Fall von der Kirche selbst die dazu notwendige Jurisdiktion. So sagte auch Pater Franz Schmidberger als Generaloberer beim Requiem für Erzbischof Lefebvre:

Was die Jurisdiktion gegenüber den Laien anbetrifft, so ist diese eine außerordentliche, supplierte [von der Kirche ergänzte], die wegen der Schwäche oder des Ausfallens der Autorität um des Heiles der Seelen willen zum Tragen kommt.

Die Priorate und Kapellen der Priesterbruderschaft St. Pius X. sind normalerweise dadurch entstanden, dass Gruppen von Gläubigen den Besuch traditionstreuer Priester erbeten haben, weil die Zustände in ihren eigenen Pfarreien untragbar geworden waren. In einem Notfall hat nun ein Bischof nicht nur das Recht, sondern – soweit er die Möglichkeit dazu hat – auch die Pflicht, den unsterblichen Seelen zu Hilfe kommen und ihnen das zu geben, was sie brauchen, um ihr katholisches Leben führen zu können. Genau das hat Erzbischof Lefebvre getan, und es ist dank der Priesterbruderschaft, dass auch in unserer Zeit vielen Gläubigen die Mittel des Heils offenstehen wie in früheren Zeiten.

Trotzdem hat die Priesterbruderschaft nicht aufgehört, den Papst und die offiziellen Strukturen der Kirche anzuerkennen. Sie hat auch nie versucht, eine Parallelhierarchie aufzubauen, um die offizielle Hierarchie zu ersetzen. Erzbischof Lefebvre hat, als es auf die Bischofsweihen zuging, immer wieder betont, dass die Bischöfe der Priesterbruderschaft nur Weihbischöfe sein würden, denen kein Territorium unterstellt ist, denn dieses könnte ihnen nur der Papst anweisen. Wenn ein Bischof der Priesterbruderschaft das Amt des Generaloberen oder eines Distriktoberen innehat, so hat er dieses Amt nicht als Bischof inne, sondern weil er als Mitglied der Priesterbruderschaft dazu gewählt oder ernannt wurde.

Der Notstand rechtfertigt keine Gesetzlosigkeit

Das Kirchenrecht sieht den Notstand, in dem die Kirche sich heute befindet, nicht vor. Es bestimmt aber, wie in einem nicht vorgesehenen Fall vorzugehen ist. In einem solchen Fall solle man entsprechend den Gesetzen für ähnlich gelagerte Fälle entscheiden, indem man sie an die nicht vorgesehene Situation anpasst, sie auf sie anwendet, und sich von den allgemeinen Rechtsprinzipien leiten lassen. So bestimmen es der Kanon 20 des alten und der Kanon 19 des neuen Kirchenrechts. Das Kirchenrecht nennt auch verschiedene Fälle, in denen die Kirche fehlende Jurisdiktion ersetzt. Dies trifft z. B. bei einem Priester zu, der sich die Exkommunikation als Tatstrafe zugezogen hat, aber (noch) nicht von der zuständigen Autorität als exkommuniziert erklärt und aus seinem Amt entfernt wurde. Wenn die Kirche selbst in einem solchen Fall fehlende Jurisdiktion ersetzt, darf man folgern, dass sie es erst recht dann tut, wenn einem Priester oder einer Gemeinschaft die Jurisdiktion gerade deshalb verweigert wird, weil sie am überlieferten Glauben festhalten will.

Trotzdem muss man sich wenigstens so weit wie möglich an das Kirchenrecht halten, und das tut die Priesterbruderschaft. Sie hält sich an die Vorschriften des Rechts hinsichtlich der Spendung der Sakramente, sie akzeptiert keine vagabundierenden Priester, die sich keinem Oberen unterstellen wollen und versucht gemäß den Regeln zu leben, die gelten würden, wenn die Bruderschaft offiziell von Rom anerkannt wäre.

Darum sollten auch die Gläubigen die Priorate und Kapellen der Priesterbruderschaft als ihre Pfarreien betrachten und sich nach den Weisungen ihrer Priester richten. Wenn es zu einer Anerkennung der Bruderschaft käme, dann würden diese Priorate und Kapellen als eine Art Personalpfarreien betrachtet werden, d. h. die zuständigen Seelsorger wären dann auch ganz offiziell für diejenigen zuständig, die sich in diese Gemeinden eingeschrieben haben. Dies wurde bei den verschiedenen Gesprächen zwischen Rom und der Priesterbruderschaft immer so signalisiert.

Besonders für die Familien ist es wichtig, dass ihre Kinder in einer festen Gemeinde aufwachsen und dort die Sakramente empfangen. Die Erfahrung zeigt, dass dort, wo die Eltern zwischen alter und neuer Messe und verschiedenen Gemeinschaften hin und her pendeln, die Kinder keine religiösen Wurzeln schlagen können und später sehr oft das Glaubensleben aufgeben.

Jurisdiktion und Internet

Wer den Glauben verkünden will, benötigt dafür einen kirchlichen Auftrag. Vor allem ist dies die Aufgabe der Bischöfe, Priester und Diakone. Letztere unterstehen dabei aber dem Bischof, der ihnen die Predigtbefugnis entziehen oder sie einschränken kann. Ordensleute benötigen für die Predigt auch die Erlaubnis ihres Oberen.

Das Internet bietet heute nun jedem die Möglichkeit, seine Predigten oder Vorträge überall zu verbreiten. Priester und Ordensleute dürfen dies aber nur nach den Maßgaben tun, die ihre Oberen dafür erlassen haben. Umso mehr sollten Laien, die das Internet für die Glaubensverbreitung nutzen wollen, sich dabei einer kirchlichen Obrigkeit unterstellen, denn niemand darf sich selbst eine Sendung anmaßen. Ein Gläubiger, der ohne kirchlichen Auftrag und ohne Kontrolle predigt, Katechese oder sogar Theologie betreibt, wird nur zu leicht unausgegorene oder sogar falsche Lehren verbreiten und mehr Verwirrung als Gutes stiften.