Die kirchliche Gesinnung

Quelle: Distrikt Deutschland

Das ewige Rom

Von Pater Matthias Gaudron

Die Krise der Kirche hat einige Unordnung im Leben der Kirche verursacht. Während normalerweise die Kompetenzen der Hirten in den verschiedenen Rängen der Hierarchie sowie die Pflichten und Rechte der Gläubigen durch das kirchliche Recht geregelt sind, bringt es das Versagen der Hierarchie mit sich, das niedere Autoritäten Aufgaben übernehmen müssen, die ihnen sonst nicht zustehen. Auch die Gläubigen, die normalerweise ihren Hirten folgen sollen, haben ein Recht sich zu wehren, wenn diese Hirten sich selbst gegen den Glauben der Kirche stellen oder ihnen zweifelhafte, wenn nicht sogar unwürdige Gottesdienste anbieten.

Wie der Kirchenrechtler Prof. Dr. Georg May in seiner kleinen Schrift Notwehr, Widerstand und Notstand. Begriffliche Klärungen[1] gezeigt hat, gibt es auch in der Kirche ein Recht auf Notwehr und Widerstand. Das bedeutet aber nicht, dass es bei einem Notstand gar keine Regeln mehr gibt und in diesem Fall jeder tun kann, was ihm richtig erscheint. „Das Notrecht rechtfertigt lediglich jene Maßnahmen, die zur Wiederherstellung der Funktionen der Kirche erforderlich sind. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit ist zu beachten.“[2]

Das Sentire cum Ecclesia, das Denken und Fühlen mit der Kirche ist in unserer Zeit besonders wichtig, da wir in der Gefahr sind, überhaupt keine kirchliche Autorität mehr anzuerkennen.

Die göttliche Verfassung der Kirche

Die Kirche ist keine rein menschliche Gesellschaft, sondern hat ihre wesentliche Verfassung von ihrem göttlichen Gründer erhalten. Demnach ist der Papst als Stellvertreter Christi der oberste Hirte der Kirche. Aber auch die Bischöfe sind wahre Hirten und Leiter ihrer Diözesen. Den Bischöfen stehen die Priester und Diakone zur Seite, die keine selbstständigen Hirten, sondern Helfer des Bischofs sind. Bei den Orden und Kongregationen sind es die Äbte oder Generaloberen, die im Leitungsbereich für ihre Untergebenen gewissermaßen bischöfliche Funktionen innehaben.

Es ist darum gegen die göttliche Struktur der Kirche, wenn Priester sich anmaßen, unabhängig von einem höheren Oberen ihr Priestertum auszuüben. Der can. 111 §1 des Kirchenrechts von 1917 bestimmte ausdrücklich, dass jeder Kleriker entweder in einer Diözese oder in einer Ordensgemeinschaft eingeschrieben (=inkardiniert) sein muss, und dass ein ungebundener Kleriker (ein sog. vagus, das Wort Vagant bzw. Vagabund kommt daher) keinesfalls zugelassen werden darf.[3]

Ein Priester, dem es in der heutigen Glaubens- und Kirchenkrise nicht mehr möglich ist, unter seinem Bischof oder Ordensoberen weiterzuarbeiten, ohne Dinge zu tun, die er mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, muss sich also eine andere kirchliche Gemeinschaft suchen, der er sich anschließen kann.

Die Priesterbruderschaft St. Pius X.

Erzbischof Lefebvre war es immer sehr wichtig, dass die Priesterbruderschaft St. Pius X. mit der Zustimmung der kirchlichen Autoritäten gegründet worden war und ihre Statuten sogar vom Präfekten der Kleruskongregation, Kardinal John Wright, eine Belobigung erhalten hatten. Er sah darin den Segen der Kirche für seine Gründung. Die Aufhebung der Priesterbruderschaft betrachtete er dagegen als null und nichtig, da der einzige Grund dieser Aufhebung das Festhalten der Bruderschaft am überlieferten Glauben und der Liturgie der Kirche war. Das Akzeptieren der Aufhebung hätte bedeutet, die Seminaristen an die offiziellen Seminare zu schicken, wo seit dem Konzil offen Häresien gelehrt wurden und wo die Kandidaten nicht mehr in eine priesterliche Spiritualität eingeführt wurden. Es hätte auch bedeutet, die Gläubigen, die sich um die Kapellen der Bruderschaft geschart hatten, in ihre Pfarreien zurückzuschicken, die sie ja gerade verlassen hatten, weil sie dort kein katholisches Glaubensleben mehr fanden.

Jeder menschliche Autoritätsträger übt seine Autorität nur in Stellvertretung Gottes aus. Wenn er seine Autorität missbraucht, um etwas gegen die göttlichen Gesetze zu befehlen, darf man ihm nicht gehorchen. Das ist so in der Familie: Wenn die Eltern ihren Kindern etwas Sündhaftes befehlen, sollen diese nicht gehorchen. Das ist so im Staat und genauso in der Kirche. Erzbischof Lefebvre sagte immer, er könne bei der Zerstörung des Glaubens, der Liturgie und der Disziplin der Kirche weder mitmachen noch tatenlos zusehen. Er wollte die Krise der Kirche nicht nur beklagen – das haben auch andere Bischöfe getan –, sondern etwas für die Bewahrung des Glaubens und der Liturgie tun.

Zu welchem Desaster das 2. Vatikanische Konzil geführt hat, ist heute noch viel klarer zu erkennen als damals, und seit dem Pontifikat von Papst Franziskus geben sogar konservative Katholiken zu, dass es Situationen geben kann, in denen man als Katholik dem Papst widerstehen muss, was sie vorher immer für unmöglich erklärt hatten.

Die Priesterbruderschaft St. Pius X. ist also nicht nur irgendein privater Verein, sondern eine wahre kirchliche Gemeinschaft. Ihre Oberen haben darum eine wahre Autorität, wenn diese ihnen auch nicht auf dem normalen Weg, sondern aufgrund des Notstands direkt von der Kirche zukommt. Auch hier gilt, dass die Kirche fehlende Leitungsgewalt ersetzt.

Erzbischof Lefebvre hat es immer abgelehnt, jemandem eine Weihe zu erteilen, der in keiner kirchlichen Gemeinschaft eingeschrieben war. Er akzeptierte jedoch Ordensgemeinschaften, die nur wegen der Treue zur überlieferten Messe und zu ihrer Ordensregel keine Anerkennung der kirchlichen Autoritäten erhielten. So sagte er z. B.:

In den schwierigen Umständen, die die Kirche erlebt, habe ich mehrmals Briefe von Personen empfangen, die mich gebeten haben, sie zum Priester zu weihen, ohne gleichfalls zu bitten, in die Bruderschaft einzutreten. Ich habe das abgelehnt. Es gibt den Fall eines Diakons, der mir sagte: „Aber ich habe alle meine Studien gemacht, ich habe meine Ausbildung abgeschlossen. Warum weihen Sie mich nicht?“ Ich habe „Nein“ gesagt, weil er Teil einer religiösen Gemeinschaft sein müsste. Wenn er Mitglied der Bruderschaft oder einer Gruppe, die normalerweise von der Kirche anerkannt wäre, dann „Ja“, aber ohne das ist es unmöglich. Das wäre absolut gegen das kanonische Recht. Aber ich will nicht gegen das kanonische Recht handeln.[4]

Beziehung zu den offiziellen Autoritäten

Wenn wir in unserer Zeit auch zu dem Urteil kommen müssen, dass viele Bischöfe und selbst Päpste schlechte Hirten sind, die den Glauben nicht verteidigen und der Kirche sowie den Seelen schaden, bleiben sie doch die offiziellen Autoritäten. Das Kirchenrecht ist hier eindeutig: Selbst wenn ein Bischof vom Glauben abfällt und häretisch wird, so bleiben seine jurisdiktionellen Akte gültig, solange er nicht offiziell für häretisch erklärt und abgesetzt wird.[5] Beim Papst gibt es keine verbindliche Lehre zu diesem Thema, aber solange jemand praktisch von der ganzen Kirche als Papst anerkannt wird, ist es m. E. sicher, dass die Akte seiner Leitungsgewalt gültig sind.

Es entspricht darum der kirchlichen Gesinnung, diesen Männern den Respekt zu erweisen, der ihnen von ihrem Amt her zukommt, und wenn möglich, das Gespräch mit ihnen zu suchen, um sie auf den Weg des Glaubens und der Tradition zurückzuführen. Wer dagegen allein schon das Gespräch mit diesen Autoritäten als Verrat an der Tradition bezeichnet, zeigt nicht eine kirchliche, sondern eine schismatische Gesinnung, denn diese zeigt sich gerade darin, mit den Hirten der Kirche keinen Kontakt haben zu wollen.

Wer von der Erlaubnis, das Bußsakrament zu spenden, die Papst Franziskus allen Priestern der Priesterbruderschaft und der befreundeten Orden gegeben hat, auf keinen Fall Gebrauch machen will, oder wer auf keinen Fall die Anerkennung einer in der Priesterbruderschaft geschlossenen Ehe durch die offiziellen Autoritäten will, hat die kirchliche Gesinnung sicher verloren.

Schlussfolgerungen

Der kirchlichen Gesinnung entspricht es nicht, Papst und Bischöfe mit Hohn und Spott zu überschütten, selbst wenn man vieles, was sie tun, nicht gutheißen kann. Ein Christ sollte sowieso niemanden verächtlich behandeln, erst recht nicht diejenigen, die ein kirchliches Amt bekleiden. Besser ist es, für die Hirten der Kirche zu beten, denn die Kirchenkrise kann nur beendet werden, wenn sie auf den katholischen Weg zurückkehren. So schrieb Erzbischof Lefebvre:

Vermeiden wir die Verdammungen, die Beleidigungen, die ironischen Anspielungen, vermeiden wird die unfruchtbaren Polemiken, beten wir, heiligen wir uns, heiligen wir die Seelen, die immer zahlreicher zu uns kommen werden, je mehr sie das bei uns finden, wonach sie sich sehnen: nach der Gnade eines wahren Priesters …[6]

Eine kirchliche Gesinnung lassen auch diejenigen Priester und Gläubigen vermissen, die die Oberen der Priesterbruderschaft ständig kritisieren. Sicherlich sind diese Oberen nicht unfehlbar, aber sie haben immerhin die Standesgnaden für ihr Amt, die andere nicht besitzen. Die Geschichte der Bruderschaft zeigt, dass sie im Großen und Ganzen immer den richtigen Weg gegangen ist, denn sie ist die einzige traditionelle Gemeinschaft, die weltweit ein Netz von Kapellen, Seminaren und Schulen aufgebaut hat, während diejenigen, die sich von ihr abgewendet haben, entweder den Kampf gegen den Modernismus aufgegeben haben oder einem sektiererischen Geist verfallen sind. Gerade die neuesten Entscheidungen des Vatikans in Bezug auf die überlieferte Messe zeigen zudem, wie richtig die Entscheidung des Erzbischofs, Bischöfe zu weihen, gewesen ist und wie begründet das Zögern seiner Nachfolger, ein schnelles Abkommen mit Rom zu schließen.

Die kirchliche Gesinnung fehlt erst recht denjenigen, die ohne kirchlichen Auftrag und ohne jemals gründlich Theologie studiert zu haben in Internetforen oder Flugschriften zu den schwierigsten theologischen und kirchlichen Fragen ihr unerleuchtetes Urteil abgeben. Fragen, die die größten Theologen nicht zu entscheiden wagten, wie z. B. ob und wann ein Papst sein Amt verliert, lösen diese Pseudotheologen mit Leichtigkeit, und je weniger theologisches Wissen sie besitzen, desto entschiedener sind ihre Urteile. Man kann jedem Katholiken nur raten, sich von diesen fruchtlosen Diskussionen fernzuhalten.

Erzbischof Lefebvre hat den Geist, der uns in unserem Kampf für den Glauben erfüllen soll, z. B. in den folgenden Worten zusammengefasst:

Wir sind keine Schismatiker, wir sind keine Häretiker, und wir sind auch keine Rebellen. Wir widerstehen dieser Woge des Modernismus, des Laizismus und des Progressismus, die die Kirche ungerechter Weise überfallen und versucht hat, alles aus ihr verschwinden zu lassen, was es dort an Heiligem, Übernatürlichem und Göttlichem gab, um es auf die Dimension des Menschlichen zu reduzieren.

Wir widerstehen und wir werden weiter widerstehen, nicht aus einem Geist des Widerspruchs oder der Rebellion, sondern aus dem Geist der Treue zur Kirche, der Treue zu Gott, zu unserem Herrn Jesus Christus und all denjenigen, die uns in unserer heiligen Religion unterrichtet haben, aus dem Geist der Treue zu allen Päpsten, die die Tradition aufrechterhalten haben. Darum sind wir entschlossen, ganz einfach weiterzumachen, in der Tradition zu verharren, die alle Heiligen des Himmels geheiligt hat. Indem wir das tun, sind wir überzeugt, all den Gläubigen, die den Glauben bewahren und wahrhaft die Gnade unseres Herrn Jesus Christus empfangen wollen, einen unermesslichen Dienst zu erweisen.[7]

 

Anmerkungen

[1] Wien: Mediatrix 1984.

[2] Ebd., S. 25.

[3] Das Kirchenrecht von 1983 hat dieselbe Bestimmung im can. 265.

[4] Geistlicher Vortrag in Ecône am 30. Januar 1982; in: Marcel Lefebvre, Die priesterliche Heiligkeit, Bobingen: Sarto 2011, S. 73.

[5] Vgl. can. 2264 (CIC 1917); can. 1331 (CIC 1983).

[6] Richtlinien für die Seminaristen vom 24. Februar 1977; in: Damit die Kirche fortbestehe, S. 225.

[7] Predigt in Ecône am 1. November 1980.