Ideologie oder Anti-Ideologie? Über das Motu proprio Traditionis Custodes

Quelle: Distrikt Deutschland

Am 16. Juli 2021 erließ Papst Franziskus sein Motu proprio „Traditionis Custodes“, einen Versuch der weitgehenden Unterdrückung der römischen Messe. Die päpstliche Entscheidung hat eine Fülle von Kommentaren hervorgerufen, nicht zuletzt vom Generaloberen der Priesterbruderschaft St. Pius X., der die einfache Frage stellte: „Aber warum ist diese Messe sogar im Innern der Kirche zum Zeichen des Widerspruchs geworden?“

Das Mitteilungsblatt sprach mit einem guten Kenner der kirchlichen Lage in den USA, Herrn James Vogel, dem Pressesprecher der Bruderschaft in den USA.

Mitteilungsblatt: Haben Sie mit einem Verbot der alten Messe gerechnet?

James Vogel: Wir wussten schon sehr früh, dass Traditionis Custodes kommen würde – oder, genauer gesagt, dass etwas in dieser Richtung kommen würde. Wir wurden von Kurienmitarbeitern gewarnt. Die Glaubenskongregation hatte dem Weltepiskopat im März 2021 einen Fragekatalog mit neun Punkten zugesandt, um zu erfahren, wie Summorum Pontificum aufgenommen und umgesetzt wurde. Dieser Fragebogen und, was bemerkenswert ist, seine Ergebnisse wurden nicht veröffentlicht. Ab Mai 2021 verbreiteten sich Gerüchte, vor allem nach einem Treffen des Papstes mit der italienischen Bischofskonferenz, bei dem Spekulationen aufkamen, dass Einschränkungen für die überlieferte Messe eingeführt würden. Interessant ist, dass Kardinal Ladaria als erste Frist für die Beantwortung der Umfrage Ende Juli angesetzt hatte, Traditionis Custodes aber schon Mitte Juli veröffentlicht wurde. Benedikt XVI. hatte die Bischöfe schon 2007 aufgefordert, einen Bericht über ihre Erfahrungen bis 2010 zu übermitteln, was jedoch nicht geschehen war.

Der Brief, den der Heilige Vater mit Traditionis Custodes veröffentlicht hat, offenbart seine Beweggründe: „Eine von Johannes Paul II. und mit noch weiterem Großmut von Benedikt XVI. gewährte Möglichkeit, um die Einheit der Kirche unter Achtung der verschiedenen liturgischen Sensibilitäten wiederherzustellen, ist dazu verwendet worden, die Abstände zu vergrößern, die Unterschiede zu verhärten, Gegensätze aufzubauen, welche die Kirche verletzen und sie in ihrem Weg hemmen, indem sie sie der Gefahr der Spaltung aussetzen.“

Man geht davon aus, dass bald Ausführungsbestimmungen das Bild noch klarer machen werden.

Mitteilungsblatt: Der Papst hat sich mehrfach zu seinem Motiv für das Motu proprio geäußert, sowohl in einem längeren Brief an die Bischöfe als auch in zwei Ansprachen an französische Bischöfe.

James Vogel: Indirekt auch in anderen Zusammenhängen. Ich denke an die Ansprache an Jesuiten, an ein Interview mit einem Sender der spanischen Bischofskonferenz oder in der Pressekonferenz auf dem Rückflug nach Rom von seiner Pastoralreise in die Slowakei. Man könnte noch andere Ansprachen zitieren, um einen roten Faden zu finden.

Um dem Papst gerecht zu werden, sollte Traditionis Custodes so ausgelegt werden, wie er es gemeint hat.

In einem Interview, das am 1. September 2021 in dem von den spanischen Bischöfen unterhaltenen Radionetzwerk Cope ausgestrahlt wurde, verneinte der Papst, „hart auf den Tisch geschlagen“ zu haben: „Ich bin nicht der Typ, der auf den Tisch schlägt … Ich bin eher schüchtern“, versicherte er. Er lobte den Papst-Emeritus: „Dies schien mir eine der schönsten und menschlichsten pastoralen Handlungen von Benedikt XVI. zu sein, der ein Mann von außerordentlicher Menschlichkeit ist“, lobte er – scheinbar – seinen Vorgänger.

Dann führte er an, dass vor kurzem eine weltweite Umfrage bei den Bischöfen durchgeführt worden sei. Diese wurde allerdings nicht veröffentlicht und war nach unseren Informationen bei zwei Dritteln der Bischöfe eher positiv.

Es habe sich gezeigt, so der Papst, dass das, was getan wurde, um denjenigen „seelsorgerisch zu helfen“, sich in eine „Ideologie umgewandelt“ habe. „Wir mussten also mit klaren Normen reagieren.“

Liebe Leser, achten Sie auf das Wort „Ideologie“.

Am 10. September 2021 empfing der Heilige Vater eine Gruppe von südfranzösischen Bischöfen zu ihrem Ad-limina-Besuch. Er sprach auch über Traditionis Custodes: Die Feier des alten Ritus dürfe kein Vorwand für die Ablehnung des Zweiten Vatikanischen Konzils sein. „Wir müssen eine Grenze ziehen und basta“, betonte er vor den französischen Prälaten, damit eine liturgische Anziehungskraft nicht als Deckmantel für eine „ideologische Haltung“ diene.

Eine zweite Gruppe französischer Bischöfe traf den Papst am 23. September 2021, darunter der Primas-Erzbischof von Lyon, Msgr. Olivier de Germay, und der Noch-nicht-Kardinal von Paris, Msgr. Michel Aupetit. Ein Thema war auch hier Traditionis Custodes. Erzbischof Aupetit sagte über die Audienz, der Papst wolle die „Einheit der Kirche wiederherstellen“, indem er gegen die „Ideologie“ vorgehe.

Mitteilungsblatt: Was ist nun diese „Ideologie“, von der gesprochen wird?

James Vogel: Der Pariser Weihbischof Denis Jachiet sagte gegenüber Radio Vatikan zum Treffen mit dem Papst: „Ich glaube wirklich, dass er versucht hat, uns den Grund für dieses Motu proprio zu erklären. Seine tiefe Sorge um das Verständnis der Messe ist offensichtlich. Es geht ihm um die Einheit der Kirche und um die Gemeinschaft aller. Und doch spürt man, dass er die Sorge der Gläubigen, die sich an die alte Form gebunden fühlen, ernst nimmt. Deshalb ist sein Wunsch nicht, die Feiern des alten Messritus abrupt zu beenden, sondern die offizielle Möglichkeit zu geben, dass sie im Geiste von Amoris laetitia gefeiert werden. Es ist dem Papst ein Anliegen, den Gläubigen klarzumachen, dass es ihm nicht um Verbote oder die Hinderung an der Teilnahme an bestimmten Feiern geht, sondern dass es Seelsorgern bedarf, die ihnen helfen, zu verstehen – um im Geiste des Zweiten Vatikanischen Konzils zu feiern.“

Sie sehen: Es geht um „das“ Konzil in der Optik von Papst Franziskus. Das II. Vatikanum und seine Rezeption ist der tiefere Grund für diese neue liturgische Gesetzgebung.

Man darf fragen: Wer ist hier der „Ideologe“? Wer will hier seine „Ideen“ durchsetzen? Sind Traditionalisten „Ideologen“, die sich zufällig eine Form der Messe „kapern“, oder ist es die Messe, die gegen die nachkonziliare Ideologie imprägniert? Was meine ich damit: Dieses „Alles muß sich ändern“, was der Papst jetzt immer und immer wieder beschwört.

Dies wurde von dem progressiven US-amerikanischen Kirchenhistoriker Shaun Blanchard in der Zeitschrift Church Life Journal der Universität Notre Dame so formuliert:

„Das Oberthema ist das Zweite Vatikanische Konzil. Wenn die lex orandi (das Gesetz des Betens) die lex credendi (das Gesetz des Glaubens) ist, wie das ehrwürdige alte Sprichwort sagt, dann sollten wir nicht überrascht sein, dass direkt unter der Oberfläche dieses liturgischen Dekrets das wahre Anliegen von Franziskus' bemerkenswerter Entscheidung liegt: das Erbe des Zweiten Vatikanischen Konzils und die umstrittene lex credendi der katholischen Kirche. Viel mehr als ein Dekret zur Regelung der Liturgie ist Traditionis Custodes ein entscheidender Moment in der Geschichte der päpstlichen Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils. … Franziskus’ Motu proprio – ja, sein ganzes Pontifikat – ist unerklärlich, wenn man nicht sein Verständnis von Lehrentwicklung berücksichtigt. Ich würde behaupten, dass es eine integrale Verbindung zwischen Traditionis Custodes und einer Reihe von anderen Akten des Pontifikats von Franziskus gibt, einschließlich Amoris Laetitia und der Änderung des Katechismus bezüglich der Todesstrafe. Der Rückgriff auf den Begriff der Lehrentwicklung – ursprünglich und unter anderem als ultramontane Waffe gegen Jansenisten und Gallikaner geschmiedet – wird nun vom Papsttum ausdrücklich nicht nur zur rückwirkenden Verteidigung des Konzils, sondern auch als Vorhut zur Rechtfertigung neuer Lehren oder Reformen eingesetzt.“  Der Begriff „ultramontane Waffe“ ist natürlich polemisch. Es gibt die katholische Dogmenentwicklung im Sinne des I. Vatikanums und Kardinals Newmans: Vom Impliziten zum Expliziten, aber immer im gleichen Sinn. Und des gibt die falsche Dogmenentwicklung der Progressisten, in der sich die kirchliche Lehre ändern, einen anderen, sogar gegenteiligen Sinn annehmen könne. Dagegen hat Erzbischof Lefebvre seine Stimme erhoben

Mitteilungsblatt: Der Erzbischof von Paris bestätigte Gerüchte, wonach der Papst mit den Maßnahmen auf bestimmte Länder abziele, und berichtete, Franziskus habe von Risiken „insbesondere in den Vereinigten Staaten, der Schweiz und ein wenig in Frankreich“ gesprochen.

James Vogel: Ich kann nicht viel über die Schweiz sagen, aber die Präsenz der traditionellen Messe und ihrer Besucher und Unterstützer in Frankreich ist bekannt. Einige Studien zeigen, dass dort fast ein Drittel der Priesterberufungen auf Institute entfallen, die die alte Messe anbieten. Angesichts des Rückgangs der Berufungen von Diözesen und Ordensleuten in Frankreich wird die Zukunft stark auf die Tradition ausgerichtet sein, auch ohne Traditionis Custodes.

In den Vereinigten Staaten wird der katholische Glaube im Allgemeinen wie ein Selbstbedienungsladen behandelt, wo der Glaube eher als kulturelles Erbstück behandelt wird.

Man denke nur an Präsident Joe Biden, der den durchschnittlichen Katholiken in den USA repräsentieren dürfte. Gleichzeitig gibt es die Haltung einer gewissen „Toleranz“, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Kirche, die es der traditionellen Messe indirekt ermöglicht hat, hier zu florieren, insbesondere seit Summorum Pontificum. Eine kürzlich durchgeführte Untersuchung ergab, dass es mehr als 650 Orte gibt, an denen man an der alten Messe teilnehmen kann, und das schließt nur von den Bischöfen „zugelassene“ Orte ein, nicht etwa Kapellen der FSSPX – zum Beispiel –, die in Amerika mit 120 Priestern tätig ist.

Davon abgesehen gibt es in Amerika eine hörbare Minderheit konservativer Gläubiger, die sich um Persönlichkeiten wie Raymond Kardinal Burke oder Mediennetzwerke wie EWTN, gegründet von Mutter Angelica, scharen. Neben der beeindruckenden Blüte der Tradition, die sich im Alltag vieler, insbesondere junger Katholiken zeigt, bestimmen in unserem Land wenige aber machtvolle Medienkanale das Bild der Kirche.  Unter den amerikanischen Katholiken besteht die Gefahr, die Kirche durch die Brille der Parteipolitik zu betrachten.

Mitteilungsblatt: Papst Franziskus behauptete, viel mit „vernünftigen Traditionalisten“ zusammengearbeitet zu haben. Wen meint er?

James Vogel: Hier kann man nur spekulieren. Zum einen bezieht er sich auf seine Zeit in Buenos Aires. Dort gab es einige bekannte „Traditionalisten“, die ihre Beziehung zur Priesterbruderschaft St. Pius X. nicht verbargen, und für die Diözese im juristischen und kanonistischen Bereich tätig waren. Er erinnert vielleicht auch an die Kontakte, die Pater Christian Bouchacourt, damals Distriktoberer in Buenos Aires und heute Zweiter Generalassistent, mit Msgr. Bergoglio hatte. Erinnern wir uns daran, dass der spätere Papst der Bruderschaft in einer schwierigen Situation geholfen hat, wofür wir mehr als dankbar sein müssen. Ohne ihn wäre die Bruderschaft in Argentinien empfindlich getroffen worden. Denken wir aber auch an den Nutzen für die Gläubigen, der in der ordentlichen Beichtjurisdiktion und in der Ermöglichung der ordentlichen Fakultäten für die Eheschließung liegt. Bischof Vitus Huonder berichtete kürzlich in einem Interview, dass der Papst ihm gegenüber sehr positiv auf die Bruderschaft reagiert habe.

Einige werden fragen: Warum? Es scheint ein Rätsel. Aber wenn man bedenkt, dass die Priesterbruderschaft „an der Peripherie“ arbeitet, dass ihre Kleriker eindeutig nicht nach weltlichem Zielen oder kirchlichen Titeln streben – alles Dinge, die Franziskus ablehnt –, dann ist er vielleicht bereit, über andere „Probleme“ hinwegzusehen. Er ist ein Mann der „Praxis“. Auch hier kann man nur spekulieren.

Mitteilungsblatt: Danke für das Gespräch