Gott zu lieben ohne den Nächsten zu lieben - das ist unmöglich!
Ausschnitt aus einem Fastentuch der Pfarre Weißenstein, Kärnten
Jedes Reich, das geteilt und in sich selbst nicht einig ist, wird verödet sein, sagt Unser Herr im heutigen Evangelium (vom 3. Fastensonntag Lk 11,14-28); oder umgekehrt werden alle Reiche, die in sich selbst eins sind, durch Eintracht, die keine Uneinigkeit zulassen, ohne Zweifel von Tröstungen erfüllt sein. Wenn nämlich die Voraussetzungen gegensätzlich sind, müssen es die Folgen ebenso sein. Diese Worte sind um so bedeutender und beachtenswerter, haben um so mehr Gewicht, als unser göttlicher Meister sie gesprochen hat. Deshalb haben sich die frühen Kirchenväter oft damit befaßt, davon Auslegungen abzuleiten. Sie sagen, daß es drei Arten von Einheit gibt, von denen der Heiland sprechen wollte, deren Auflösung schließlich die Trostlosigkeit folgt.
Die erste ist die Eintracht, die zwischen den Untertanen und ihrem König herrschen muß, die seinen Gesetzen unterworfen und gehorsam sind. Die zweite ist die Einheit, die wir in uns selbst haben müssen, im Königreich, das wir in unserem Inneren haben; seine Königin muß die Vernunft sein; ihr müssen alle Fähigkeiten unseres Geistes, ja selbst alle Sinne und unser Leib unbedingt unterworfen bleiben; denn ohne diesen Gehorsam und diese Unterwerfung können wir nicht vor Betrübnis und Verwirrung bewahrt werden, ebenso wie ein Königreich, wo die Untergebenen den Gesetzen des Königs nicht gehorchen.
Da es aber zu viel Zeit in Anspruch nähme, über alle Formen der Einheit zu sprechen, werde ich mich nur bei der dritten aufhalten; das ist jene, die wir untereinander haben müssen. Diese Einheit und Eintracht hat Unser Herr uns in Wort und Tat gepredigt, empfohlen und gelehrt, aber mit unvergleichlichem Nachdruck und bewundernswerten Worten, so daß es scheint, als habe Er vergessen, uns die Liebe zu empfehlen, die wir zu Ihm haben müssen, zu Seinem himmlischen Vater, um uns besser die Liebe und die Einheit einzuprägen, von der Er wollte, daß wir sie untereinander haben. Er hat sogar das Gebot der Nächstenliebe Sein Gebot genannt, gleichsam Sein liebstes. Er ist in diese Welt gekommen, um uns als ganz göttlicher Meister zu belehren, und dennoch dringt Er auf nichts so sehr und mit so klaren Worten wie auf die Befolgung dieses Gebotes der Nächstenliebe. Und das nicht ohne triftigen Grund, denn der Lieblingsjünger des Vielgeliebten, der große heilige Apostel Johannes versichert: Wenn einer sagt, er liebe Gott, und seinen Nächsten nicht liebt, ist er ein Lügner. Wer umgekehrt sagt, er liebe den Nächsten, liebe aber Gott nicht, verstößt gegen die Wahrheit, denn das kann nicht sein. Gott lieben, ohne den Nächsten zu lieben, der nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen ist, das ist unmöglich.
Wie aber muss diese Einheit und Eintracht beschaffen sein, die wir untereinander haben sollen? Wie muß sie sein? Wenn es nicht Unser Herr selbst erklärt hätte, besäße niemand die Kühnheit, es mit den gleichen Ausdrücken wie er zu tun. Als er beim letzten Abendmahl das unvergleichliche Zeugnis Seiner Liebe zu den Menschen durch die Einsetzung des allerheiligsten Sakramentes der Eucharistie gegeben hatte, sagte er: Mein teuerster Vater, ich bitte dich, daß alle eins seien, die du mir anvertraut hast, wie du, Vater, und ich eins sind. Um zu zeigen, daß er nicht nur von den Aposteln sprach, sondern von allen, hat er vorher gesagt: Ich bitte nicht nur für diese hier, sondern für alle, die auf ihr Wort hin an mich glauben.
Wer hätte es gewagt, sage ich noch einmal, einen solchen Vergleich zu machen und zu bitten, daß wir eins seien, wie es der Vater, der Sohn und der Heilige Geist untereinander sind?
Dieser Vergleich scheint sehr sonderbar zu sein, denn die Einheit der drei göttlichen Personen ist unbegreiflich und niemand, wer es auch sei, vermag sich diese einfache Einheit und diese unaussprechlich einfache Einigkeit vorzustellen. So dürfen wir auch nicht zur gleichen Einheit zu gelangen verlangen, denn das kann nicht sein, wie die frühen Väter bemerken. Wir müssen uns damit begnügen, ihr entsprechend unserer Fähigkeit so nahe als möglich zu kommen. Unser Herr beruft uns nicht zur gleichen, sondern zur gleichartigen Einheit, d. h. wir müssen einander lieben und untereinander einig sein, so rein und vollkommen als möglich.
1.Teil einer Predigt des hl. Franz von Sales zum 3. Fastensonntag, Annecy, 27. Februar 1622. Der 2. Teil folgt demnächst.