Geschichte der FSSPX: Das erste Haus der Priesterbruderschaft. Ein Interview
Erinnerungen von Frau Getrud Steiner
Wie haben Sie Erzbischof Lefebvre kennengelernt?
Am 1. November 1971, Allerheiligen, schrieb Mgr. Lefebvre seinen ersten „Brief an die Freunde und Wohltäter“, der durch einen alten Chef meines Mannes auch in unsere Hände kam. Gott sei Dank, es gab einen treuen Bischof! Das war der erste Lichtblick seit dem Konzil für alle Katholiken, die ihrem Glauben treu bleiben wollten. Mein Mann besuchte den Erzbischof so bald wie möglich, um mit ihm die Situation der Kirche zu besprechen.
Bald darauf machten wir mit unseren zwei kleinen Mädchen Ferien in der Nähe von Ecône, um dort jeden Tag der heiligen Messe beiwohnen zu können. Von da an blieben wir in Kontakt mit Ecône.
Wie kam es, dass Sie das Haus in der Rue de la Vignettaz in Fribourg (das erste „Seminar“) von Erzbischof Lefebvre übernommen haben?
Oh, da hat die göttliche Vorsehung mitgespielt.
Anfang 1974 wohnten wir noch in Zürich und suchten eifrig nach einer Wohnung im katholischen Fribourg, weil mein Mann bereits seit einem halben Jahr in Bern arbeitete. Er wohnte unter der Woche in einem Zimmer, nahe beim Bahnhof Fribourg, und konnte so jeden Morgen vor der Arbeit die hl. Messe im Haus des Erzbischofs besuchen.
Eines Tages nach einer erneut enttäuschenden Wohnungsbesichtigung entschlossen wir uns schweren Herzens, nun auch im protestantischen Bern zu suchen. Da wir gerade in der Nähe der Rue de la Vignettaz waren, wollte mir mein Mann zeigen, wo er morgens in die Messe gehe. Eine liebe, ältere Dame, die das Nötigste im Haushalt besorgte, öffnete uns. Wir staunten – sie war normalerweise nur bis am frühen Nachmittag dort. Nach einem Gebet in der Kapelle kamen wir mit ihr ins Plaudern und erzählten, dass wir auf Wohnungssuche seien. Ganz spontan sagte sie: „Oh, kommt doch hier ins Haus, es wird bald leer.“ Wir glaubten, nicht recht gehört zu haben. „Doch, doch, Mgr. Lefebvre hat mir gekündigt, aber er ist unglücklich, weil er nicht weiß, was mit dem Haus geschehen soll – er möchte es nicht verkaufen.“
Am nächsten Tag fuhr mein Mann nach Ecône und fragte den Erzbischof, ob er uns einen Teil des Hauses vermieten würde. „Sie schickt mir der Himmel!“, war seine Antwort.
So trafen wir uns am Pfingstmontag im Maison St-Pie X in Fribourg. Nach der Besichtigung des Hauses, beim Mittagessen, sagte Mgr. Lefebvre, er würde das oberste Stockwerk gerne für sich behalten, mit der Absicht, sich dort gelegentlich ein paar Tage auszuruhen. Er fragte, ob wir bereit wären, das Haus mit allem Drum und Dran zu verwalten.
Also zogen wir am 1. Oktober 1974 ins Maison St-Pie X ein.
Bald wurde es eine Art Zweigstelle von Ecône. Priester, die von ihren Bischöfen auf die Straße gestellt wurden, weil sie der tridentinischen Messe treu bleiben wollten, fanden für kurz oder lang ein Daheim bei uns. Auch Priester, welche von weither auf dem Weg nach Ecône waren, klopften auf der Durchreise bei uns an. Manchmal schickte uns auch der Erzbischof Priester, die dringend Erholung brauchten; immer unter der Bedingung, dass mir ein weiterer Gast nicht zu viel würde nebst meiner Familie.
8 ½ Jahre wohnten wir im Haus an der Rue de la Vignettaz, bis es dann doch verkauft werden musste. Es war eine strenge, aber schöne Zeit. Nie in meinem Leben habe ich mich so wohl und daheim gefühlt, wie in diesem Haus mit dem Heiland im Tabernakel unter einem Dach.
Erzbischof Lefebvre war später immer wieder zu Gast bei Ihrer Familie. Was bewog ihn dazu?
Das Haus an der Rue de la Vignettaz war das Lieblingshaus des Erzbischofs. Er sagte, er schlafe an keinem Ort so gut wie dort. Außerdem konnten wir so alle Fragen, die das Haus betrafen (etwa allfällige Reparaturen), besprechen.
Gerne spazierte er im Garten, der mittlerweile von einer Wildnis zum kleinen Paradies geworden war.
Manchmal reichte seine Zeit nur für ein paar Stunden auf der Durchreise. Auch dann hatte man das Gefühl, dass es für ihn ein „Heimkommen“, eine Erholung war.
Hatte Erzbischof Lefebvre bestimmte Wünsche oder Vorlieben?
Nein. Er war so einfach, so bescheiden und hatte nie Extra-Wünsche. Er passte sich einfach unserem Familienalltag an.
Ach, da fällt mir ein Wunsch ein, der aber seine liebenswürdige Dankbarkeit zeigt. Wir hatten uns gerade zum Essen um den Tisch versammelt, da erblickte er unsere Nachbarin in ihrem Garten und sagte spontan: „Oh, ich sehe Frau Kern, ich möchte sie gerne begrüßen. Sie hat immer mein Haus gehütet, wenn wir in den Ferien waren. Können wir so lange warten mit dem Essen?“
Wie reagierten Ihre Kinder auf die Anwesenheit des hohen Gastes?
Oh, sie liebten ihn. Sie waren wie kleine Engel, wenn er bei uns war. Sie wollten möglichst nah bei ihm sitzen, warteten auf jedes Wort von ihm. Obwohl er nur sehr wenig deutsch sprach, versuchte er es für die Kinder.
Es war, als würden sie sich auch ohne Worte verstehen. Er fand auch immer etwas, um sie zu verwöhnen. Ein Beispiel: Als ich nach dem Essen den Kaffee servierte, fragten die Mädchen, ob sie auch davon bekämen. Ich bedauerte, dazu seien sie noch zu klein. Da winkte er sie zu sich, tunkte einen Würfelzucker kurz in seinem Kaffee und gab jedem einen. Alles wirkte so vertraut.
Ich sah dann immer das Bild vom Heiland in der Bibel vor mir: „Lasset die Kleinen zu mir kommen.“
Hat Erzbischof Lefebvre von seiner Zeit in Afrika erzählt?
Nicht sehr viel, oder ich habe es vergessen. Wir hatten so viel über die Lage der Kirche und die Sorgen der ratlosen Katholiken zu besprechen.
Hat Erzbischof Lefebvre von seinen Sorgen erzählt?
Er hat nicht direkt über seine Sorgen geklagt, aber sie kamen in allen Gesprächen über die Lage der Kirche zum Ausdruck. Trotzdem gelang es ihm, die aufgewühlten Gemüter der enttäuschten Gläubigen zu beruhigen. Er hatte ein unerschütterliches Gottvertrauen. Seine Devise war: Wir müssen alles, was in unserer Macht steht, für die Erhaltung des Glaubens tun. Alles andere müssen wir der göttlichen Vorsehung überlassen.
Welche Erinnerungen haben Sie an Erzbischof Lefebvres Humor?
Oh ja, er hatte Humor. Mit ihm konnte man so herzhaft lachen. Trotz aller Tragik der Selbstzerstörung der Kirche gab es manche Situationskomik, über die man nur lachen konnte.
Welches war Ihre schönste Erfahrung mit Erzbischof Lefebvre?
Wohl die Taufe unserer dritten Tochter und die Firmung der zwei älteren Mädchen in der kleinen Hauskapelle mit dem anschließenden Familienfest. Er zeigte seine Freude an einem schön gedeckten Tisch, einem Festmahl und fröhlichem Beisammensein. Er war wirklich ein dankbarer Gast.
Wie würden Sie Erzbischof Lefebvre charakterisieren?
Er war so einfach, bescheiden, liebenswürdig und dankbar. In seiner Gegenwart fühlte ich mich schon fast wie im Himmel. Ich kann ihn nur mit dem hl. Franz von Sales vergleichen.
Was hat Sie persönlich an Erzbischof Lefebvre am meisten beeindruckt?
Er war eine gebildete, edle Persönlichkeit in hohem Amt. Und trotzdem begegnete er auch einfachen Leuten mit liebenswürdiger Anteilnahme. Auch staune ich, wie er in aller Stille und Demut dieses große Werk aufbauen konnte, zur Erhaltung des Glaubens, der hl. Messe und des wahren katholischen Priestertums. Vergelt’s Gott, Mgr. Lefebvre.
Was hat die Menschen, nach Ihrer Ansicht, an Erzbischof Lefebvre am meisten beeindruckt?
Sein unerschrockener Kampf für die wahrhaft heilige Messe und den wahren katholischen Glauben.
Gibt es noch eine Anekdote, die Sie gerne mit unseren Lesern teilen möchten?
Wenn der Erzbischof wieder abreiste, begleiteten wir ihn alle bis zum Auto unten an der Straße. Einmal vermissten wir dabei unsere kleine Gabriela (ca. 5 Jahre alt). Ich suchte sie und fand sie im Gartenhäuschen, bitterlich weinend. „Warum weinst du? Komm doch, der Erzbischof wartet auf dich.“ Sie schluchzte: „Ich kann ihm nicht Adieu sagen. Es ist so traurig, wenn er geht, es ist, als würde die Sonne untergehen.“ Ja, die kleine Seele hatte es gespürt. Der Erzbischof strahlte wirklich ein übernatürliches Licht aus. Er war eben ein Heiliger.