Gedanken zu Mariä Himmelfahrt von Bischof Fulton J. Sheen
Die Liebe und das Leben sind die philosophischen Säulen, auf denen der Glaube an die Himmelfahrt Mariens ruht.
1. Die Liebe: Bei seiner Untersuchung über die Auswirkungen der Liebe nennt der hl. Thomas von Aquin die Ekstase eine ihrer Folgen. In der Ekstase wird man „aus dem Leibe emporgehoben", eine Erfahrung, die Dichter, Schriftsteller und Redner in geringerer Form erlebt haben, wenn sie, in gewöhnlicher Sprache ausgedrückt, „sich von ihrem Stoff hinreissen liessen". Das auf höherer Stufe vorkommende geistige Phänomen der Levitation entsteht aus einer so starken Liebe zu Gott, daß die Heiligen buchstäblich vom Boden hochgehoben wurden. Die Liebe brennt aufwärts wie das Feuer, da sie im Grunde aus Sehnsucht besteht. Sie sucht sich immer mehr und mehr mit dem geliebten Gegenstand zu vereinen. Unsere mit den Sinnen wahrgenommenen Erfahrungen haben uns mit irdischen Gesetzen der Schwerkraft bekannt gemacht, die materielle Dinge zur Erde herabzieht. Aber ausser der Erdgravitation gibt es ein geistiges Gesetz der Anziehung, das zunimmt, je näher wir zu Gott kommen. Dieser „Zug nach aufwärts" in unserem Herzen durch den Geist Gottes ist immer vorhanden, und wir sind nur erdgebunden durch unseren widerstrebenden Willen und die Schwäche unseres Leibes als Folge der Sünde. Manche Seelen werden ungeduldig über diesen Leib. Der hl. Paulus bittet, aus diesem „Gefängnis" befreit zu werden.
Wenn Gott auf alle Seelen eine Anziehungskraft ausübt und wir die starke Liebe unseres Herrn für seine gebenedeite Mutter hier unten und die grosse Liebe Mariens zu ihrem Herrn im Himmel droben in Betracht ziehen, kann man sich vorstellen, dass Liebe in diesem Zustand so stark sein kann, dass sie „den Leib mitreisst". Ferner ist durch die Voraussetzung der Freiheit von der Erbsünde im Leibe Unserer Lieben Frau weder Zwiespalt noch Spannung, noch Gegensatz vorhanden, so wie sie bei uns zwischen Leib und Seele bestehen. Wenn der so weit entfernte Mond alle Gezeiten der Erde in Bewegung setzen kann, dann müssten die Liebe Jesu zu Maria und Mariens Liebe zu Jesus zu einer solchen Ekstase führen, dass sie „über die Welt hinausgehoben" würde.
2. Das Leben: Das Leben besteht in einer immanenten Tätigkeit. „Je höher die Lebensform, desto immanenter ist ihre Tätigkeit", sagt der hl. Thomas von Aquin. Die Pflanze lässt ihre Frucht vom Baume fallen, das Tier verlässt sein Junges, damit dieses seine Existenz allein fortsetze. Aber der geistige Verstand des Menschen zeugt die Frucht des Gedankens, die mit dem Verstand verbunden bleibt, auch wenn sie von ihm getrennt wird. Daher sind Intelligenz und Leben innig miteinander verbunden. Gott ist durch seine vollkommene innere geistige Aktivität das vollkommene Leben.
Da die Unvollkommenheit des Lebens durch die Entfremdung von der Quelle des Lebens und durch die Sünde entsteht, folgt daraus, dass das Geschöpf, das von der Erbsünde bewahrt bleibt, auch geschützt ist gegen die seelische Zersplitterung, die die Sünde erzeugt. Die unbefleckte Empfängnis gewährleistet ein höchst unberührtes und in sich geschlossenes Leben. Die Reinheit eines solchen Lebens ist dreifacher Natur: die physische Reinheit, welche die Unversehrtheit des Leibes bedeutet; die geistige Reinheit, die keinen Wunsch nach einer Teilung der Liebe kennt, die aus einer von Gott getrennten, den Geschöpfen zugewandten Liebe entstehen würde, und schließlich die seelische Reinheit, die die Freiheit von irgendwelcher Sinnlichkeit, das Zeichen und das Symbol unserer Unbeständigkeit und Zerrissenheit, bedeutet. Diese dreifache Reinheit ist das Wesen des innerlich einheitlichsten Geschöpfes, das die Welt je gesehen hat.
Hier sehen wir ein Leben, das nicht nur von der todbringenden Zwietracht befreit, sondern mit dem ewigen Leben vereint ist. Konnte Maria, der Garten, in dem die Lilie der göttlichen Sündenlosigkeit und die rote Rose der Erlösungspassion wuchsen, dem Unkraut überlassen und von dem himmlischen Gärtner vergessen werden? Musste nicht eine solch enge Verbindung, die das ganze Leben hindurch in Gnaden bewahrt blieb, durch himmlische Unsterblichkeit gekrönt werden? Gehört die, in deren Schoß die Vermählung von Ewigkeit und Zeit stattfand, nicht mehr der Ewigkeit als der Zeit an?
Kein erwachsener Mensch möchte erleben müssen, dass das Heim, in dem er aufwuchs, von der gewaltsamen Zerstörung eines Bombenangriffes betroffen wird. So hat sicher auch der Allmächtige, der sich in Maria eingeschlossen hatte, nicht zugegeben, dass sein fleischliches Heim der Verwesung des Grabes unterworfen wurde. Wenn erwachsene Männer in voller Lebensblüte gerne in das Heim ihrer Kindheit zurückkehren und sich dort erst so recht des Dankes bewusst werden, den sie ihren Müttern schulden, warum sollte dann nicht das göttliche Leben wieder seine lebendige Wiege aufsuchen, um sie zu sich in den Himmel zu nehmen?
In Maria gibt es einen dreifachen Übergang. In der Verkündigung gehen wir von der Heiligkeit des Alten Testamentes zu der Heiligkeit Christi über. Zu Pfingsten gehen wir weiter von der Heiligkeit des historischen Christus zu der Heiligkeit des Mystischen Christus oder seines Leibes, der die Kirche ist. Maria empfängt hier den Heiligen Geist zum zweiten Mal. Die erste Überschattung bewirkte die Geburt des Hauptes der Kirche; die zweite Überschattung bewirkte die Geburt seines Leibes, als Maria inmitten der Apostel im Gebet verharrte. Der dritte Übergang ist die Aufnahme Mariens in den Himmel, durch die an ihr, als der ersten menschlichen Person, über die Zeit, über den Tod und über das Letzte Gericht hinaus das Schicksal verwirklicht wurde, das allen gläubigen Gliedern des Mystischen Leibes Christi versprochen worden ist. (Text leicht gekürzt)