Erzbischof Marcel Lefebvre: Warum gibt es das Gesetz?
Aus einer Predigt am 21. August 1977 in Ecône
Wenn wir es im Geiste Gottes betrachten, im Geiste des Schöpfergottes, ist das Gesetz der Weg, der zum Ziel führt und der uns von Gott vorgeschrieben wurde. Wir sind ja für ein Ziel geschaffen, für ein sehr bestimmtes Ziel. Unsere Existenz ist auf ein Ziel gerichtet, dem wir dienen sollen. Dieses Ziel ist die Verherrlichung Gottes, ist unsere Glückseligkeit, ist unsere Vollkommenheit, ist das ewige Leben. Und wenn wir die ganze Schöpfung Gottes betrachten, so werden wir gewahr, dass alle Geschöpfe, die Geschöpfe ohne Vernunft ebenso wie die vernunftbegabten, von Gott für ein ganz bestimmtes Ziel geschaffen wurden, das sie erreichen sollen. Daher haben auch alle Geschöpfe ihre Gesetze. Sie können nicht ohne Gesetze sein. Wir kennen diese Gesetze, zumindest teilweise. Die Gelehrten erforschen sie, diese Gesetze, die man in der Natur findet. Für die Materie werden es die Gesetze der Schwerkraft sein, des Gewichtes, der Anziehungskraft usw. Für die Pflanzen sind es Gesetze der Vegetation, die ihr Leben regeln, die sie zu ihrem Ziel führen. Die Tiere haben ihren Instinkt. Ihr Instinkt ist das Gesetz, dem sie unterworfen sind.
Und wir, die vernunftbegabten Wesen, haben ein Gesetz, das die nicht vernunftbegabten Geschöpfe nicht kennen, das wir aber kennen. Wir kennen das Gesetz, wir kennen den Weg, der uns zu unserer Bestimmung, zu unserem Ziel führt. Und ebenso, wie es unvorstellbar ist, dass man an sein Ziel gelangt, ohne den Weg zu gehen, der dorthin führt, ist es unvorstellbar, dass ein Mensch hoffen kann, das ewige Leben zu erlangen, wenn er nicht die Gesetze Gottes erfüllt. Das ist ganz einfach, das sagt einem schon der gesunde Menschenverstand. Ein Tier, das nicht seinem Instinkt folgen würde, der es dazu treibt, sich zu ernähren, um zu leben und sich seine Nahrung zu suchen, um zu leben, würde zweifellos nicht überleben.
Wir müssen diese Gesetze befolgen, wenn wir an unser Ziel gelangen wollen. Das Besondere an uns aber ist, dass wir die Vernunft, den Willen und alle Fähigkeiten unserer Seele eben gerade dazu haben, dieses Ziel, das uns der liebe Gott vorgeschrieben hat, zu erreichen. Und wenn wir vielleicht zu unserem Unglück dieses Gesetz nicht befolgen und dem Gesetz des Todes folgen statt dem Gesetz des Lebens, dann ist das nicht der gottgewollte Gebrauch unserer Freiheit, sondern vielmehr ein Missbrauch unserer Freiheit. Denn der liebe Gott hat uns die Freiheit gegeben, damit wir unser Ziel erreichen und nicht, damit wir uns von ihm entfernen, also damit wir das Gesetz erfüllen und nicht, damit wir vom Gesetz abweichen. Und welches ist dieses Gesetz? Unser Herr hat es uns in den Zehn Geboten geoffenbart und hat es selbst im Evangelium zusammengefasst: Jenem Mann, der zu Ihm kommt und Ihn fragt: „Was soll ich tun, dass ich das ewige Leben erlange?“ (Mk 10,17) antwortet Er: „Halte die Gebote“ (Mt 19,17). Und auf die Frage: Welches sind die Gebote? antwortet Er: „Gott lieben und seinen Nächsten lieben.“ Sehr einfach, wenn wir es nur ein wenig überlegen: Gott ist die Barmherzigkeit. Gott ist die Liebe. Wie sollte uns Gott ein anderes Gesetz geben als das, von dem Er selbst bestimmt wird? Er ist vom Gesetz der Liebe bestimmt. Dieses Gesetz wurde Ihm nicht auferlegt. Es ist Sein eigenstes Wesen. Gott ist, weil Er ist, Liebe. Das ist ein großes Geheimnis für uns, aber es ist so. Gott ist die Liebe. Und alle Gesetze, selbst die Gesetze, die die nicht vernunftbegabten Wesen regieren, alle diese Gesetze sind Ausdruck der Liebe. Man kann sagen, ein Vogel, der fliegt, ein Tier, das seine Nahrung sucht, folgt dem Gesetz, das Gott ihm auferlegt hat, und drückt in gewisser Weise analog, symbolisch, die Liebe Gottes aus. Und auch bei uns soll es die Liebe sein, die uns dazu bewegt, unser Ziel zu suchen und zu erreichen. Das ist die Erhabenheit unseres Gesetzes, die Liebe, die uns schließlich mit Gott und mit unserem Nächsten in Ewigkeit vereinen soll. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Nächsten, unser ganzes Leben und unsere Ewigkeit lassen sich in diese Worte zusammenfassen. Wie wunderbar ist das!
Wir dürfen nicht vergessen, dass wir übernatürliche Wesen sind. Das heißt, dass für uns sozusagen zwei Gesetze gelten: ein fundamentales Gesetz, ein Naturgesetz, das wir befolgen müssen, das ist der Dekalog. Unser Herr hat nicht gesagt, dass die Zehn Gebote durch Sein Kommen geändert würden, dass Er ein anderes Gesetz geben werde. Im Gegenteil, Er hat gesagt: „Ich bin nicht gekommen, um das Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Es wird bis auf das letzte Jota erfüllt werden. Das Gesetz, das Ich der Natur auferlegt habe, wird erfüllt werden. Aber das Gesetz, das Ich euch jetzt gebe, ist noch vollkommener als die Zehn Gebote. Es erfüllt die Zehn Gebote auf eine noch vollkommenere Weise. Und dieses Gesetz ist die Bergpredigt Unseres Herrn, die Predigt von den Seligkeiten. Wir müssen unsere Feinde lieben. Wir müssen leiden um der Gerechtigkeit willen. Wir müssen bereit sein, viel mehr zu tun als nur, was uns als Gebot auferlegt ist, um unsere Liebe zu unserem Nächsten zu beweisen. Wir müssen den Willen Gottes annehmen und uns in die Hand Gottes legen. Denn Unser Herr hat gesagt, alle Haare unseres Hauptes sind gezählt. Und Gott sorgt für uns. Sorgen wir uns nicht zu viel um morgen. Legen wir unsere Wünsche in die Hände Gottes. Das sind die Räte, die Unser Herr uns gibt und Er schließt sie mit dem schönen Gebet des Vaterunser ab, das die Zusammenfassung des neuen Gesetzes ist. Es ist nicht ein Gesetz, das den Zehn Geboten widerspricht, ganz im Gegenteil, es erfüllt sie auf eine noch vollkommenere Weise.
Denn unser Ziel, das Ziel, das uns der liebe Gott vorgeschrieben hat, weil Er uns an Seiner Gottheit teilhaben lassen will, ist ein unendlich höheres Ziel als jenes, das unserer bloßen Natur entsprechen würde.