Erzbischof Marcel Lefebvre Die unmögliche Vereinigung von Wahrheit und Irrtum
Erzbischof Lefebvre bei einer Audienz mit Papst Pius XII.
Aus einem Sonderrundschreiben an die Wohltäter vom 19. Juli 1975
Der Protestantismus hat mit Hilfe seiner liberalen Theorien in allen Bereichen eine totale Revolution gegen die auf den Prinzipien der gesunden Philosophie und des katholischen Glaubens beruhende Christenheit ausgelöst.
Die in den drei Worten „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ zusammengefassten Theorien sind gegen die Autorität Gottes und gegen jede Autorität gerichtet. Sie haben den Ruin der katholischen bürgerlichen Gesellschaft, den Ruin der Wirtschaftsordnung und nach und nach den Laizismus des Staates mit allen unmoralischen Folgen erreicht und widersprechen dem Gesetz Gottes und der Kirche.
Die verhängnisvollen Mythen des Liberalismus haben die sentimentalen Katholiken seit langem zu einem wenig erleuchteten Glauben verführt. Auch die liberalen Philosophien und die revolutionären Organisationen übten eine starke Anziehungskraft auf die Kreise der Intelligenz und des entchristlichten Volkes aus.
Diese liberale Atmosphäre gewann auf dem Weg über die Universitäten, die schlechten Theologen und die katholischen Organisationen auch einen zunehmenden Einfluss auf die Kirche. Sie machte sich in den Seminaren breit, im Klerus und bei den Bischöfen, bis hin zu den höchsten kirchlichen Kreisen Roms. Man denke nur an den Sillon,1 an Emmanuel Mounier,2 an Jacques Maritain3 und schließlich an Teilhard de Chardin.4
Mit zäher Ausdauer strebt der Liberalismus die unmögliche Vereinigung von Wahrheit und Irrtum, von Tugend und Laster, von Licht und Finsternis, die Vereinigung der katholischen Kirche mit der Welt und all ihren Entgleisungen an. Bis zu Johannes XXIII. haben die Päpste das durchschaut, und wenn der eine oder andere gelegentlich dem Druck der Liberalen nachgegeben hat, wie beispielsweise Leo XIII. und Pius XI., so haben sie es sehr bald bereut, und ihre Nachfolger haben versucht, die begangenen Fehler wiedergutzumachen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Zweite Vatikanische Konzil den liberalen Ideen in der Kirche Bürgerrecht verliehen hat. Die Ideen über die Freiheit, über den Vorrang des Gewissens, über die Verbrüderung mit dem Irrtum des Ökumenismus, über die religiöse Freiheit und den Laizismus der Staaten können sich auf den allgemeinen Geist des Konzils stützen.
Man lese das Konzilstagebuch von Fesquet5 und man wird verstehen, warum die Freimaurer, die Protestanten und sogar die Kommunisten den Tendenzen dieses Konzils beigepflichtet haben.
Die Durchführung der Konzilsbeschlüsse ist überdies ein klarer Beweis für diesen liberalen Einfluss. Der Ökumenismus ist das Leitmotiv der Reformen.
Für die Liberalen ist es charakteristisch, dass sie die These bejahen, aber nach der Hypothese handeln, ohne sich der bejahten These noch zu erinnern: Daher das doppelte Gesicht der Rechtgläubigkeit und der Irrlehre! Auf diese Weise haben die Liberalen in der Praxis keine Feinde bei den Vertretern der Irrlehre und bekämpfen dann hartnäckig diejenigen, die die Rechtgläubigkeit bewahren und in Übereinstimmung mit den katholischen Grundsätzen handeln.
Das erklärt uns, warum Ecône und alle wahren Katholiken unerbittlich von jenem Rom, das von den Liberalen besetzt ist, verfolgt werden.
1 Bewegung und Vereinigung französischer Katholiken, seit 1899 unter Marc Sagnier geeint und von Leo XIII. und Pius X. gelobt, seit 1907 als „Plus grand sillon“ eindeutiger kirchenunabhängiger Vorläufer des Modernismus-Ökumenismus, am 25. August 1910 von Pius X. mit dem Brief „Notre charge apostolique“ verworfen. (Seite 271)
2 Emmanuel Mounier, französischer Philosoph und Kulturkritiker (1905–1950), Mitbegründer und Schriftleiter der Zeitschrift „Esprit“;
3 Jacques Maritain (1882–1973), weithin bekannter französischer Philosoph und Schriftsteller; konvertierte 1906; zunächst Thomist, dann seit etwa 1930 Liberaler und Modernist, vor allem mit seinem Werk „Die Zukunft des Christentums“; Vater der konziliaren Religionsfreiheit.
4 Pierre Teilhard de Chardin SJ (1881–1955), französischer Theologe, Philosoph und Anthropologe und Forschungsreisender in China und Afrika. Er sucht in seinen Schriften eine Synthese aus der christlichen Schöpfungslehre und der anthropologisch verstandenen Evolutionstheorie herzustellen. Mit Monitum vom 30. Juni 1962 erklärte das Heilige Offizium: „Seine nach dem Tod veröffentlichten und von nicht wenigen geschätzten Werke sind hinsichtlich der positiven Wissenschaften in philosophischer und theologischer Hinsicht offenkundig voll von derartigen Zweideutigkeiten, ja sogar auch von derartigen Irrtümern, dass man zu dem Urteil kommen muss: sie verstoßen gegen die katholische Lehre. Deshalb werden alle geistlichen Autoritäten aufgefordert, die Seelen, insbesondere der Jugend, vor den Gefahren der Werke des P. Teilhard de Chardin und seiner Anhänger wirksam zu schützen.“
5 Henry Fesquet, liberaler katholischer Journalist der Tageszeitung „Le Monde“. Sein persönliches Tagebuch für „Le Monde“ ist 1966 als „Journal du Concile“ beim Verlag Morel erschienen.