Erzbischof Marcel Lefebvre Die Liturgie – Schule des Gebets

Quelle: Distrikt Deutschland

Wir müssen zu Gott hingehen auf den Wegen der Kirche – das sind die sichersten Wege! –, und nicht auf unseren persönlichen Wegen. Dass wir unsere ganze Hingabe an den lieben Gott ausdrücken in unserem inneren Gebet und in unseren persönlichen Gebeten, mit unserem ganzen Herzen und unserer ganzen Seele, ist sehr gut, aber wir werden es umso besser tun, als wir uns die ganze Frömmigkeit der Kirche zu eigen gemacht haben. Denn wir werden nie das Maß der Frömmigkeit der Kirche erreichen können. Die Kirche ist die mystische Braut unseres Herrn Jesus Christus, und die Gesänge der Braut sind unnachahmlich. Der bloße gregorianische Choral ist wirklich eine Leiter, um zum Himmel emporzusteigen, um zu Gott emporzusteigen.

Schlagen wir daher diese Wege ein, um Gott besser zu erkennen, um ihn zu erkennen, wie die Kirche ihn uns kennenlernen lassen will. Denken wir nicht, dass wir besser seien als die anderen, dass wir fähig seien, neue Wege zu wählen. Wandeln wir im Gegenteil auf den Wegen, die uns die Kirche vorgezeichnet hat, und lieben wir dabei aus unserem ganzen Herzen diese hohe Schule, welche die Liturgie der Kirche ist![1]

Ziehen Sie bei der Betrachtung der liturgischen Offizien besonders Nutzen aus den Gebeten, welche die Kirche im Propriumsteil der Messe zusammengestellt hat, zusätzlich natürlich zum Communeteil. Der Propriumsteil enthält immer eine besondere Lesung zum Fest. Und diese Orationen – so kurz, aber so schön – liefern uns jedes Mal einen wahrhaftigen Betrachtungsgegenstand. Sei es die Oration, die Sekret oder die Postkommunion, wir sind überrascht, ihre Tiefe zu sehen und die Glaubenswahrheiten, welche die Kirche uns zur Verfügung stellt.

Wir staunen angesichts der Schätze der Liturgie. Nehmen wir auch die Introiten oder die Gradualien her. Was für tiefe und bewegende Dinge in diesen Gradualien, diesen Anrufen an die Barmherzigkeit, an die Güte Gottes, diesen Aufrufen zum Lob Gottes! Wir finden in diesen Gebeten der Kirche immer einen der vier Zwecke des Messopfers wieder: Anbetung, Dank, Sühne, Bitte. Und wir werden uns bewusst, dass wir alle Texte der Liturgie auf den einen oder anderen dieser Zwecke zurückführen können. Bald herrscht die Anbetung vor, bald die Danksagung, bald die Darlegung unseres Elends, unserer Sünden, der Anruf an die Barmherzigkeit des lieben Gottes, und sodann ist da schließlich die Bitte um die Gnaden, deren wir bedürfen.[2]

Sie haben die Psalmen, wie den Psalm Miserere, welcher der Ruf der Seele ist, die unter der Wirkung der Gnade das Böse wiedergutmacht, das sie begangen hat. Die Seele erscheint vor Gott als Sünderin. So sind wir einerseits Sünder, andererseits sind wir Kinder Gottes, was es uns möglich macht, das Lob Gottes zu singen unter dem Wirken der Gnade, die uns erhebt.

Es gibt immer diese beiden Aspekte in der Liturgie, die großartig ausgeglichen sind. Die Kirche begnügt sich nicht damit, von uns zu verlangen, zerknirscht zu sein, unsere Sünden zu beweinen, Buße zu tun. In gewissen Augenblicken betont sie diesen Aspekt, besonders in Zeiten wie dem Advent oder der Fastenzeit. In anderen Augenblicken, in ihren Hymnen, im Te Deum und in zahlreichen Psalmen, mehrt sie die Akte des Lobes und der Danksagung, sie lässt uns die Größe Gottes und seine Wohltaten besingen, sie lässt uns in Gott leben, sie lässt uns schon ein klein wenig teilnehmen am ewigen Loblied, das die Heiligen im Himmel singen: Sanctus, sanctus, sanctus.[3]

All das ist mit solcher Kunstfertigkeit gemacht, mit solch mütterlicher Sorge der Kirche, in unseren Herzen diese Gesinnungen gegenüber unserem Herrn zu erwecken, dass die Liturgie ein wahres Wunder ist. Dom Guéranger hat diese außerordentliche Gnadenquelle, welche die Liturgie ist – Hauptquelle des Lebens der Kirche – gegen all die Abirrungen schützen wollen. Die Abirrungen finden sich jetzt leider überall. Darum ersticken viele Gläubige geistigerweise, weil man ihnen nicht mehr diese liturgischen Offizien gibt. Sie haben nicht mehr die Gnaden, auf die sie ein Recht hätten und die ihnen notwendig sind.

Sie sehen, dass die Liturgie uns immer durch unseren Herrn Jesus Christus, mit unserem Herrn Jesus Christus, in unserem Herrn Jesus Christus beten lässt. Die Kirche hütet sich wohl, uns eine Religion zu geben, in der unser Herr nicht vorkommen würde. Für sie ist unser Herr alles, er ist ihr mystischer Gemahl. Sie hütet sich wohl, das zu vergessen. Darum schließen unsere Gebete jedes Mal mit den Worten: per Christum Dominum nostrum, durch Jesus Christus, unseren Herrn. Daran sieht man, dass man außerhalb unseres Herrn Jesus Christus keine Gnade erhalten kann.[4]

 

Anmerkungen

[1] Exerzitien für die Schwestern der Bruderschaft, Saint-Michel-en-Brenne, Weißer Sonntag 1986, 3. Vortrag.

[2] Geistlicher Vortrag, Ecône, 16. Januar 1978.

[3] Geistlicher Vortrag, Ecône, 18. Dezember 1980.

[4] Geistlicher Vortrag, Ecône, 16. Januar 1978.