Erzbischof Marcel Lefebvre: Der Liberalismus
Aus dem Rundbrief (Nr. 9) an die Freunde und Wohltäter (3. September 1975)
Prinzipien des Liberalismus
Zunächst sei in kurzen Worten eine Definition des Liberalismus gegeben, dessen typischstes historisches Beispiel der Protestantismus ist: Der Liberalismus will den Menschen von jeglichem Zwang, den er nicht will, oder nicht aus sich selbst bejaht, befreien.
Die erste Befreiung ist diejenige, die die Intelligenz von jeglicher objektiven, auferlegten Wahrheit befreit. Die Wahrheit sei unterschiedlich anzunehmen je nach den Individuen oder Gruppen von Individuen, sie ist also notwendig geteilt. Die Wahrheit wird gemacht und gesucht ohne Ende. Niemand könne behaupten, er habe sie ausschließlich und zur Gänze. – Man ahnt, wie sehr das gegen unseren Herrn Jesus Christus und gegen seine Kirche gerichtet ist.
Die zweite Befreiung ist jene von einem Glauben, der uns Dogmen aufzwingt, die endgültig verbindlich definiert sind und denen sich die Intelligenz und der Wille unterwerfen müssen. Nach der liberalen Lehre müssen die Dogmen der Prüfung durch die Vernunft und durch die Wissenschaft unterworfen werden, und das immer von neuem angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts. Es sei deshalb unmöglich, eine für alle Zeiten definierte Offenbarungswahrheit zuzulassen. – Man beachte den Gegensatz dieses Prinzips zur Offenbarung unseres Herrn und zu seiner göttlichen Autorität.
Die dritte Befreiung schließlich ist jene vom Gesetz. Nach der liberalen Lehre schränkt das Gesetz die Freiheit ein und legt ihr zuerst einen moralischen und schließlich einen physischen Zwang auf. Das Gesetz und seine Zwänge seien gegen die Menschenwürde und gegen die Würde des Gewissens. Das Gewissen sei das höchste Gesetz.
Der Liberale verwechselt Freiheit und Freizügigkeit. Unser Herr Jesus Christus ist das lebendige Gesetz, da er das Wort Gottes ist. — Man ermesse nur, wie tiefgehend der Gegensatz des Liberalen zu unserem Herrn ist.
Konsequenzen des Liberalismus
Die liberalen Prinzipien haben die Zerstörung der Seinsphilosophie und die Zurückweisung jeglicher genauen Bestimmung der seienden Dinge zur Folge, um sich in den Nominalismus oder den Existenzialismus und den Evolutionismus einzuschließen. Alles sei der Veränderung, dem Wechsel unterworfen.
Eine zweite, gleich schwere, wenn nicht schwerere Konsequenz ist die Leugnung des Übernatürlichen, die Leugnung der Erbsünde, der Rechtfertigung durch die Gnade, des wahren Beweggrundes für die Menschwerdung, die Leugnung des Kreuzesopfers, der Kirche und des Priestertums. Alles im Werk, das unser Herr vollbracht hat, wird verfälscht und zeigt sich in einer protestantischen Auffassung von der Liturgie des heiligen Messopfers und der Sakramente, die nicht mehr die Anwendung der Erlösung auf die Seelen, auf jede einzelne Seele zum Ziel haben, um ihr die Gnade des göttlichen Lebens zu verleihen und sie durch die Zugehörigkeit zum mystischen Leib unseres Herrn auf das ewige Leben vorzubereiten. Anstelle dieses Zieles gilt vielmehr von jetzt ab als Zentrum und Beweggrund die Zugehörigkeit zu einer menschlichen Gemeinschaft. Die gesamte Liturgiereform hat den Charakter dieser Richtung.
Eine dritte Konsequenz ist die Leugnung jeglicher persönlichen Autorität, obwohl diese immer Teilhabe an der Autorität Gottes ist. Die Menschenwürde verlange, dass der Mensch nur dem unterworfen sei, dem er zustimmt. Da jedoch eine Autorität für das Leben der Gesellschaft unabdingbar ist, wird nur eine Autorität anerkannt, die durch die Mehrheit genehmigt wurde, denn sie bedeutet die Übertragung der Autorität der zahlenmäßig meisten Individuen auf eine Person oder eine bezeichnete Gruppe, welche Autorität aber immer nur von der Majorität delegiert bleibt.
Diese Prinzipien und ihre Folgen, die die Freiheit des Denkens, die Freiheit der Lehre, die Freiheit des Gewissens, die Freiheit der Wahl der Religion, alle jene falschen Freiheiten fordern und die den bloß weltlichen Charakter (die Laizität) des Staates, die Trennung von Kirche und Staat voraussetzen, sind seit dem Konzil von Trient ohne Unterlass von den Nachfolgern Petri und schon vom Konzil von Trient selbst verurteilt worden.
Die Verurteilung des Liberalismus durch das Lehramt der Kirche
Der Verteidigungskampf der Kirche gegen den protestantischen Liberalismus hat zum Konzil von Trient geführt. Daraus ergibt sich die gewaltige Bedeutung dieses dogmatischen Konzils für den Kampf gegen die liberalen Irrtümer, für die Verteidigung der Wahrheit und des Glaubens insbesondere durch die Kodifikation der Liturgie des heiligen Messopfers und der Sakramente und durch die Definitionen, die die Rechtfertigung durch die Gnade betreffen.
Wir wollen hier einige der wichtigsten Dokumente aufzählen, die diese Lehre des Konzils von Trient vervollkommnet und bestätigt haben:
- die Bulle „Auctorem fidei“ von Pius VI. gegen das Konzil von Pistoia,
- die Enzyklika „Mirari vos“ von Gregor XVI. gegen Lamennais,
- die Enzyklika „Quanta Cura“ und der Syllabus von Pius IX. (Dieser „Syllabus Pius IX.“ verwirft 80 Thesen.)
- die Enzyklika „Immortale Dei“ von Leo XIII., die das sogenannte Neue Recht verurteilt,
- die Erklärung des hl. Pius X. gegen den Sillon und den Modernismus und insbesondere das Dekret „Lamentabili“ (dieser „Syllabus Pius’ X.“ verwirft 65 Sätze) und der Antimodernisteneid,
- die Enzyklika „Divini Redemptoris“ von Pius XI. gegen den Kommunismus und
- die Enzyklika „Humani Generis“ von Pius XII.
So sind der Liberalismus und der liberale Katholizismus durch die Nachfolger Petri im Namen des Evangeliums und der apostolischen Tradition immer verurteilt worden.
Die sich daraus ergebende Schlussfolgerung ist von erstrangiger Wichtigkeit, um unsere Haltung zu bestimmen und unsere unwandelbare Treue zum Lehramt der Kirche und zu den Nachfolgern Petri zu zeigen. Niemand ist dem heute regierenden Nachfolger Petri, wenn er sich zum Echo der apostolischen Traditionen und der Lehren aller seiner Vorgänger macht, mehr verbunden als wir. Denn das beinhaltet ja die Definition des Nachfolgers Petri, dass er das Glaubensgut bewahrt und weitergibt. Pius IX. verkündet diesbezüglich in seiner Enzyklika „Pastor aeternus“:
„Der Heilige Geist wurde ja den Nachfolgern Petri nicht zugesichert, um ihnen zu erlauben, nach seinen Offenbarungen eine neue Lehre zu veröffentlichen, vielmehr um die Offenbarungen, die durch die Apostel weitergegeben wurden, d. h. das Glaubensgut, mit seiner Hilfe streng zu bewahren und getreu darzulegen.“