Ein Abbé in Soutane geht durch Berlin
Bilder vom Besuch des Priesterseminars im Priorat Berlin
Von Ingo Langner
Noch in den 1960er Jahren war die Soutane das Erkennungszeichen für katholische Priester schlechthin. Sie gehörten zum Stadtbild wie alle anderen Einwohner auch.
Rund zehn Jahre später sah man die Soutane nur noch ausnahmsweise und in den Neunzigern gar nicht mehr, oder nur noch in Rom. Im Zweiten Vatikanischen Konzil hatte die Kirche beschlossen, modern zu werden, und dazu gehörte es wohl, dass zumindest die Priester westlich des Eisernen Vorhangs die angeblich unzeitgemäß gewordene Soutane ablegten, um mit den Menschen außerhalb ihrer Kirchen zu verschmelzen und in der Menge unsichtbar zu werden.
Doch trotz dieses elementaren Kulturbruchs ist das schwarze knöchellange Obergewand aus dem kollektiven Gedächtnis der Menschen noch nicht gelöscht worden. Nicht einmal in Berlin. Das konnte ich am Samstag vor dem zweiten Ostersonntag erleben, als ich mit einem Seminaristen der traditionellen Priesterbruderschaft Pius X. in der deutschen Hauptstadt unterwegs war.
Schon gleich nach seiner Ankunft am Freitagabend mit dem Zug aus Prag zog der hochgewachsene Abbé K. die Blicke auf sich. Normalerweise fahre ich dort die Rolltreppen bis nach ganz oben zur S-Bahn als Anonymus hinauf. Doch mit dem Soutanenträger an meiner Seite war jetzt auch ich zum Blickfang geworden. Wie das wohl erst morgen bei unserem Stadtrundgang werden würde, fragte ich mich. Um es gleich vorwegzunehmen: Es war, alles in allem genommen, erstaunlich positiv.
Der griechische Wirt, der den Bürgersteig vor seinem Restaurant fegte, blickte auf, stutzte, grüßte dann freundlich und wollte wissen, ob der Abbé katholisch oder orthodox sei. Als er es wusste, machte er zwar zunächst eine bedauernde Handbewegung. Doch dann schaute er zum Himmel hinauf und murmelte sinngemäß, dass Gottes Wege dunkel und für uns Menschenkinder nicht immer leicht zu deuten seien.
Die türkischen Kellner in einem eleganten Wilmersdorfer Restaurant, in dem Minister, Bestsellerautoren, Hollywoodstars und eine weltbekannte Feministin zu den Stammgästen gehören und auch wir zwei unseren Kaffee nahmen, bedienten Abbé K. geradezu andächtig. Einer von ihnen, ein zur türkischen Minderheit gehörender und multilingualer Bulgare, wechselte sogleich ins Tschechische, als Abbé K. ihm seine Herkunft verriet.
Der zum Auswärtsspiel seines VFB angereiste und schon am späten Vormittag angetrunken Kampflieder grölende blutjunge Stuttgarter Fußballfan auf dem U-Bahnhof Wittenbergplatz verstummte, als sein Blick auf Abbé K. fiel. Vorsichtig kam er näher. „Bist du Priester?“, fragte er. Nach der Antwort, man sei auf dem Weg dahin, zog er sich, wie nach einer Audienz bei einem König, ohne den Rücken zu wenden, schrittweise respektvoll zurück.
Bald darauf dann Unter den Linden, auf dem Weg vom Brandenburger Tor zum neuerbauten Schloss, zog Abbé K. die Blicke der dort flanierenden Touristen aus aller Herren Länder wie ein Magnet auf sich. Direkt angesprochen wurde er erst wieder auf dem Heimweg in der S-Bahn von einer Dame, die in ihm den Seminaristen erkannte. Bei der gemeinsamen Fahrt zum Bahnhof Zoologischer Garten bedauerte sie ausdrücklich, dass die Soutane aus dem Stadtbild verschwunden sei. „In Italien würde man Sie jetzt bitten, für die kranke Großmutter zu beten“, meinte sie. „Doch in Berlin ist das wohl eher nicht zu erwarten.“
Was mich besonders verblüfft hat: In keinem der vielen Gesichter, die auf Abbé K. reagierten, war auch nur ein Hauch von Aggression oder Abscheu auszumachen. Niemand schien diesen jungen Soutanenträger mit jenen Skandalen innerhalb der katholischen Kirche gleichzusetzen, die derzeit in aller Munde sind. An diesem Tag in Berliner repräsentierte er schlicht und einfach jene Kirche, die sich seit zweitausend Jahren um die Seelen der Menschen sorgt.