Dreifache Diaspora: Irakische Katholiken in Schweden

Die Nachrichtenagentur „Fides“ der Vatikanischen Kongregation für die Evangelisierung der Völker hat vor kurzem ein Interview mit dem chaldäisch-katholischen Pfarrer Rayan Atto veröffentlicht, der als Seelsorger der mit Rom unierten, meist aus dem Irak stammenden Katholiken in Schweden tätig ist. Seine Ausführungen geben Einblicke in die schwierige Situation von Katholiken in einer dreifachen – kulturellen, konfessionellen und rituellen – Diaspora.
Die chaldäisch-katholische Kirche entstammt der sog. ost-syrischen liturgischen Tradition, die ihren Ursprung und ihr Zentrum außerhalb der Grenzen des römischen Reiches, im Zweistromland besaß und ab dem 5. Jahrhundert in die Wirren der nestorianischen Häresie hineingezogen wurde.
Im 16. Jahrhundert gab es im heutigen Gebiet des Irak eine Hinwendung zur kirchlichen Einheit unter dem Nachfolger Petri und die Wiedererrichtung der katholischen Hierarchie für die Chaldäer. Der aktuelle Patriarch – Louis Raphael Kardinal Sako – hat seinen Sitz in Bagdad. Durch die Kriege im Nahen Osten lebt aktuell die Hälfte der 500.000 Katholiken dieses Ritus im Exil. Sie feiern die – überlieferte, wenn auch in den letzten Jahren in nicht geringem Maße ‚modernisierte‘ – Liturgie teilweise in der syrisch-aramäischen Sprache, die der gesprochenen aramäischen Sprache, die unser Herr Jesus Christus während seines Erdenlebens sprach, nahekommt.
Das kirchliche Leben im Irak blutet aus. Ein Beispiel: Noch 1990 besuchten mehr Katholiken sonntags in Bagdad die Messe als in jeder deutschen Großstadt.
Schweden ist heute für viele Immigranten ein erstrebtes Ziel. Dazu gehören auch die irakischen Katholiken, die – trotz der Aufrufe der Kirche, dort zu blieben – keine Zukunft in ihrer Heimat für ihre Familien mehr sehen.
Schweden ist bei allem Wohlstand allerding spirituell eines der ärmsten Länder der Welt. Die Mehrheit der 10 Millionen-Bevölkerung bezeichnet sich als religionslos.
Die Katholiken in Schweden waren vor der Massenimmigration der letzten Jahre eine verschwindende Minderheit von einigen hundert Seelen. Nach der Reformation im 16. Jahrhundert wurde in Schweden für das Bekenntnis des „papistischen“ Glaubens die Todesstrafe verhängt. Erst ab 1781 war es Katholiken wieder erlaubt, ihre heilige Religion öffentlich zu praktizieren und erst 1953 konnte das einzige Bistum errichtet werden, welches das ganze Land (ca. 450.000 Quadratkilometer) umfasst.
Insgesamt leben heute ca. 120.000 Katholiken unter der Hirtensorge des aus dem Orden der unbeschuhten Karmeliten stammenden Erzbischofs Anders Kardinal Arborelius, eines schwedischen Konvertiten. Die meisten haben einen Einwanderungs-Hintergrund.
- Ca. 25.000 Katholiken gehören zu verschiedenen ostkirchlichen Riten,
- davon wiederum sind die meisten – 20.000 - Chaldäer.
- In Schweden gibt es etwa 25 ostkirchliche katholische Priester, davon 7 Chaldäer.
In dem genannten Fides-Interview schildert der chaldäisch-katholische Priester Rayan Atto zuerst die Geschichte der irakischen Katholiken in Schweden:
Die erste Einwanderung fand in den 1970er Jahren statt, es waren türkische Chaldäer.
Nach dem iranisch-irakischen Krieg flohen viele junge Menschen, um nicht an die Front zu müssen, und in den 1980er Jahren kamen viele von ihnen hierher.
Die dritte Welle kam Anfang der 1990er Jahre nach dem ersten Golfkrieg oder nach der Teilung des Nordiraks und der Gründung Kurdistans als autonome Einheit: Aus Ankara, der historischen Heimat der Christen in der Hauptstadt Erbil, sowie aus anderen Gebieten kamen Hunderte von Menschen an der Grenze zwischen der Türkei und dem Irak an, beantragten Asyl in Schweden und erhielten es. Die meisten von ihnen waren junge, unverheiratete Männer. Die schwedische Regierung gewährte die Möglichkeit der Zusammenführung mit anderen Familienmitgliedern, bis zu zehn, und die jungen Männer kehrten in den Irak zurück, um zu heiraten und sich dann mit Ehefrauen und später mit Kindern in Schweden niederzulassen. Auf diese Weise konnte die chaldäische Gemeinschaft innerhalb von 20 Jahren ihre Präsenz erheblich steigern.Nach dem Sturz von Saddam Hussein im Jahr 2003 gab es eine weitere starke Welle. Seit 2008 haben sich die Regeln für die Aufnahme von Einwanderern und Asylbewerbern in Schweden jedoch etwas geändert, da Stockholm die Lage im Irak als normalisiert ansah und die später eingetroffenen Chaldäer immer noch in der Schwebe sind und auf ihre Legalisierung warten.
Nach dem Kirchenrecht sind in den lateinischen Territorien die Orientalen dem lateinischen Bischof unterstellt. Angesicht der großen Zahl von Ostkirchen in einem nur nominell „lateinischen Ritusgebiet“ gibt es Spannungen. Pfarrer Atto, der Rektor der sog. „Chaldäischen Mission“ in Göteborg ist, sagt weiter:
Natürlich folgen wir den Richtlinien der katholischen Kirche des lateinischen Ritus, und unsere nationale Referenz ist Kardinal Anders Arborelius. Er kümmert sich um alle 200 Priester in ganz Schweden, die verschiedenen Orden und die katholische Präsenz im Lande. Die orientalischen Priester sind mit ‚Missionen‘ betraut, wir haben keine eigenen Pfarreien oder Räumlichkeiten, wir sind in Missionen unter der Aufsicht des Kardinals organisiert und von den lateinischen Pfarreien abhängig. Wir Chaldäer befinden uns in einer besonderen Situation, da wir auf die Anwesenheit unseres eigenen Bischofs Saad Sirop Hanna, Apostolischer Visitator der Chaldäer, die in Europa leben, aber in Schweden wohnen, zählen können. Er leitet die Hauptkirche in Sodertalje, in der Nähe von Stockholm, wo sich die meisten unserer Gläubigen befinden, etwa 7.000 Menschen. Im Jahr 2017 weihten die Chaldäer mit Hilfe der lateinischen Diözese Stockholm dort eine Kirche für den ausschließlich chaldäischen Gottesdienst ein. Es ist der Jungfrau Maria gewidmet und hat ein Kulturzentrum, ein sehr wichtiges Zeichen für uns, denn nach jahrelanger Anwesenheit und vielen Anfragen ist es uns gelungen, einen eigenen Platz zu bekommen. Das Problem ist jedoch, dass wir hier keine besondere Identität haben, wir sind Katholiken und gehören zu diesen 120.000. Meiner Meinung nach würde es unserer Realität aber viel besser entsprechen, wenn wir eine auch nur kleine Autonomie leben könnten.
Die Entwurzelung irakischer Katholiken macht dem aus dem Irak stammenden Geistlichen Sorge. Vor allem die identitätsstiftende „Funktion“ des eigenen, bei der Taufe empfangenen Ritus fehlt. Viele Chaldäer besuchen oft die sog. „lateinischen“ Pfarreien, die diese Bezeichnung seit der Einführung des Novus Ordo kaum verdienen.
Der Pfarrer gibt in dem Fides-Interview eine herzzerreißende Einschätzung der Lage:
Schweden bietet … einen Kontext, in dem Atheismus, offizielle protestantische Kirchen und Freikirchen nebeneinander existieren, natürlich neben der schwedischen Kirche. Einige unserer Leute haben sich im Laufe der Jahre anderen Kirchen zugewandt, eben weil sie keine festen Orte und Bezugspunkte haben konnten oder auch nur, weil sie anfangs den Unterschied nicht wahrgenommen haben: Es genügte ihnen, eine Kirche betreten zu können, zu beten, sich dem Kruzifix zuzuwenden. Ich kann sagen, dass viele von denen, die in Kirchen verschiedener Konfessionen eingetreten sind, eher protestantisch, in einigen Fällen sogar fundamentalistisch geworden sind. Das sind Leute, die sehr aktiv Proselytenmacherei betreiben und uns vorwerfen, eine Kirche zu sein, die weit von der wahren christlichen Lehre entfernt ist. Einige haben sich den Zeugen Jehovas angeschlossen.
Der Pfarrer bittet daher die Hierarchie um die Errichtung eigener Rituspfarreien mit eigenen Gotteshäusern. Ein Seelsorgeproblem, das traditionstreue Katholiken gut nachempfinden können.
Ich glaube, dass die Zeit für die dritte Generation der Chaldäer in Schweden gekommen ist, ihre eigene Tradition zu lernen und den Ritus und Sakramente der chaldäischen Kirche tief zu leben. In Schweden kann die chaldäische Gemeinschaft angesichts der Vervielfältigung der Kulturen und Traditionen einen großen Reichtum darstellen und einen Beitrag zur Neuevangelisierung leisten.
Die Priesterbruderschaft St. Pius X., die in ihren Reihen zwei gebürtige Schweden hat, unterhält in Schweden zwei „Missionen“, in Stockholm und Göteborg. Mehr Informationen auf der Website ►