Der Geist der Tradition ist voll Leben und voll Hoffnung
Vor genau 40 Jahren adressierte Erzbischof Marcel Lefebvre diesen Brief an Papst Johannes Paul II. Er erwähnt zunächst den Verfall in der Kirche. Dann schlägt er dem Papst die Lösung für eine Erneuerung vor.
Heiliger Vater!
Wie könnte man zweifeln, dass die Audienz, die Sie mir gewährt haben, nicht von Gott gewollt gewesen ist. Es war für mich ein großer Trost, in aller Offenheit die Umstände und die Motive der Existenz der Priesterbruderschaft St. Pius X. und ihrer Seminare darlegen zu können und ebenso die Gründe, die mich trotz der von Freiburg (Schweiz) und von Rom ergangenen Entscheidungen bewogen haben, das Werk fortzusetzen.
Die Flut von Neuerungen in der Kirche, von den Bischöfen angenommen und gefördert, diese Flut, die auf ihrem Weg alles verwüstet, den Glauben, die Moral, die Einrichtungen der Kirche, musste auf Hindernisse und Widerstand stoßen.
Wir hatten also die Wahl: entweder uns von diesem verheerenden Strom mitreißen zu lassen und so das Unheil zu vermehren, oder Wind und Wellen zu widerstehen, um unseren katholischen Glauben und das katholische Priestertum zu bewahren. Angesichts dieser Alternative konnte es für uns kein Zögern geben.
Seit dem 6. Mai 1975, dem Datum, an dem wir unsere Entscheidung getroffen haben, unser Werk fortzusetzen, koste es, was es wolle, sind dreieinhalb Jahre verflossen, und diese dreieinhalb Jahre geben uns recht. Der Verfall in der Kirche verschlimmert sich ständig: Der Atheismus, die Unmoral, das Aufgeben von Kirchen, das Schwinden der Ordens- und Priesterberufungen sind derartig, dass die Bischöfe unruhig zu werden beginnen und dass das Phänomen „Ecône“ ständig erörtert wird. Meinungsumfragen ergeben, dass ein großer Teil der Gläubigen, manchmal eine Mehrheit, die Haltung von Ecône befürwortet.
Für jeden unparteiischen Beobachter ist es offensichtlich, dass unser Werk eine Stätte der Heranbildung von Priestern ist, wie die Kirche sie immer gewünscht hat und wie die wahren Gläubigen sie ersehnen. Und man kann mit Recht annehmen, dass, wenn Rom diese Tatsache anerkennen und unserem Werk die Legalität verleihen würde, auf die es ein Recht hat, die Berufungen noch sehr viel zahlreicher wären.
Heiliger Vater, um der Ehre Jesu Christi, um des Wohles der Kirche und um des Heiles der Seelen willen bitten wir Sie inständig, als Nachfolger Petri, als Hirt der gesamten Kirche den Bischöfen auf der ganzen Welt ein einziges Wort, eine einzige Losung zu geben: „Lasst sie gewähren“; „Wir genehmigen die freie Ausübung dessen, was die vielhundertjährige Tradition zur Heiligung der Seelen angewendet hat“.
Welche Schwierigkeit würde eine solche Haltung mit sich bringen? Nicht die geringste. Die Bischöfe würden Orte und Zeiten festsetzen, die für diese Tradition reserviert blieben. Die Einheit würde sich augenblicklich auf der Ebene der Diözese wiederfinden. Und welche Vorteile würden für die Kirche daraus erwachsen! Es würde eine Erneuerung der Seminare und Klöster zur Folge haben, einen großen Eifer in den Pfarreien; die Bischöfe wären erstaunt, in wenigen Jahren eine Begeisterung für Frömmigkeit und Heiligung wiederzufinden, die sie für immer erloschen glaubten.
Für Ecône, seine Seminare, seine Priorate sowie für die Kongregationen der Lazaristen oder der Redemptoristen würde sich alles normalisieren ... In völliger Unterwerfung unter die Ortsbischöfe würden die Priorate den Diözesen Dienste leisten durch das Abhalten von Missionen in den Pfarreien, durch das Predigen der Exerzitien des hl. Ignatius und durch das Ausüben sonstiger pfarrlicher Funktionen.
Wie sehr würde sich die Situation der Kirche durch die Anwendung dieses Mittels Ihrerseits verbessern, dieses Mittels, das so einfach ist und so dem mütterlichen Geist der Kirche entspricht, die nichts den Seelen vorenthält, was ihnen zu Hilfe kommt, die den glimmenden Docht nicht löscht und die sich freut festzustellen, dass der Geist der Tradition voll Leben und voll Hoffnung ist!
Dieses Eurer Heiligkeit zu schreiben erschien mir angezeigt, bevor ich mich zu Sr. E. Kardinal Seper begebe. Ich hege die Befürchtung, dass die in die Länge gezogenen und spitzfindigen Diskussionen nicht zu einem befriedigenden Ergebnis führen und eine Lösung hinauszögern, die, wovon ich überzeugt bin, Ihnen als dringlich erscheinen muss.
Ohne Zweifel kann diese Lösung nicht in einem Kompromiss gefunden werden, der unser Werk praktisch zum Verschwinden bringen und so nur zur Zerstörung noch beitragen würde.
Eurer Heiligkeit zur vollständigen Verfügung verbleibend, bitte ich Sie, meine tiefe und kindliche Hochachtung in Jesus und Maria entgegenzunehmen.
Erster Brief von Sr. E. Erzbischof Marcel Lefebvre an Papst Johannes Paul II. vom 24. Dezember 1978 (Aus „Damit die Kirche fortbestehe“)