„Das WORT ist Fleisch geworden“

Quelle: Distrikt Deutschland

„Das WORT ist Fleisch geworden." Die göttliche Natur, rein und heilig, trat als erneuerndes Prinzip in die befleckten Geschlechterreihen der Kinder Adams ein, ohne jedoch von der Verderbnis angesteckt zu werden. Durch die Geburt aus der Jungfrau griff Jesus Christus in die Geschichte der Menschen ein, ohne indes dem Bösen im Menschen unterworfen zu werden.

Und das WORT ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt:

und wir sahen seine Herrlichkeit, seine Herrlichkeit als die des Eingeborenen des Vaters,

voll Gnade und Wahrheit.         Jo 1, 14

Bethlehem wurde Bindeglied zwischen Himmel und Erde; Gott und Mensch trafen sich hier und schauten einander an. Der Vater bereitete die Annahme der menschlichen Natur vor, der Heilige Geist bildete sie im Schoß Mariens, und der Sohn nahm sie an.

Er, im Schoß des Vaters seit Ewigkeit gezeugt, wird nun in der Zeit empfangen. Er, der in Bethlehem geboren wurde, ist gekommen, um in den Herzen der Menschen geboren zu werden. Denn was nützte es, würde er auch tausendmal in Bethlehem geboren, wenn er nicht wiedergeboren wird im Menschen?

Allen, die ihn aufgenommen haben, verlieh er die Macht,

Kinder  Gottes zu  werden.        Jo 1, 12

Jetzt braucht sich der Mensch nicht mehr vor Gott zu verstecken wie Adam; denn jetzt wird Gott in der menschlichen Natur Christi sichtbar. Christus gewann keine einzige Vollkommenheit hinzu, als er Mensch wurde, aber er verlor auch nichts von dem, was er als Gott besaß. Wenn er seinen Arm bewegte, dann geschah das in der Allmacht Gottes. Die unendliche Liebe Gottes schlug in einem menschlichen Herzen, und das unermeßliche Erbarmen Gottes zu den Sündern leuchtete aus seinen Augen. Gott hat sich jetzt im Fleische geoffenbart: das ist das innerste Wesen der Menschwerdung. Die ganze Rangordnung der göttlichen Eigenschaften, seine Macht und Güte, seine Gerechtigkeit, Liebe und Schönheit war in ihm. Und wenn unser göttlicher Herr und Meister handelte und sprach, dann wurde Gott in seiner vollkommenen Natur jenen kund, die ihn sahen und hörten und berührten . Es war wirklich so, wie er später zu Philippus sagte:

Wer mich sieht, sieht den Vater.           Jo 14, 9

Niemand kann irgendetwas lieben, solange er es nicht greifbar umfassen kann, und dazu ist die Welt doch zu groß und zu weit. Als aber Gott ein kleines Kind wurde und in Windeln eingewickelt in der Krippe lag, da konnten die Menschen  sagen: „Das ist der Emmanuel; das ist der ,Gott-mit-uns'." Nun reichte er hinab bis zur gebrechlichen Menschennatur und erhob sie zu einer unvergleichlichen Vorrangstellung: bis zur Vereinigung mit sich selbst, und verlieh ihr damit ihre Würde. Diese Vereinigung ist so wirklich, daß alle seine Handlungen und Worte, alle seine Ängste und Tränen, alle seine Gedanken und Urteile, alle seine Entschlüsse und Bewegungen im wahren Sinn menschliche, zugleich aber auch die Handlungen und Worte, die Ängste und Tränen, die Gedanken und Urteile, die Entschlüsse und Bewegungen des ewigen Sohnes Gottes sind. Unter  der  Menschwerdung  Christi  verstehen  wir  die  Vereinigung zweier Naturen, der göttlichen und der menschlichen, in einer einzigen Person, die beide beherrscht, nämlich in der Person des ewigen Wortes. Das ist nicht schwer zu begreifen; denn was ist der einzelne Mensch anderes als ein Abbild dieser Vereinigung auf einer unvergleichlich niedrigeren Ebene: nämlich zweier völlig verschiedener Substanzen - einer stofflichen und einer unstofflichen, einer Vereinigung von Leib und Seele, unter der Herrschaft einer einzelnen menschlichen Person. Was liegt weiter auseinander als die Kräfte, Anlagen und Fähigkeiten von Fleisch und Geist? Welche Schwierigkeiten träten da auf, wenn sich jemand, bloß einen Augenblick lang, darüber Gedanken machen wollte, was der Vereinigung eines Leibes mit einer Seele zu einer einzigen menschlichen Person vorausgehen muß! Daß die beiden so vereinigt sind, ist eine Erfahrung, die jedem Sterblichen selbstverständlich ist. Und doch ist es eine Erfahrung, über die sich der Mensch ihrer Alltäglichkeit wegen nicht wundert. Gott, der Leib und Seele zu einer einzigen menschlichen Person, ungeachtet des Unterschiedes beider Naturen, vereinigt, konnte sicherlich auch die Vereinigung eines menschlichen Leibes und einer menschlichen Seele mit seiner Gottheit unter der Führung der zweiten ewigen göttlichen Person zustande bringen! Und das drücken die Worte aus:

Und das WORT ist Fleisch geworden

und hat unter uns gewohnt.                    Jo  1, 14

Jene Person, die die menschliche Natur annahm, war kein Geschöpf wie alle anderen Menschen. Diese Person war das präexistierende Wort oder der Logos. Seine menschliche Natur hingegen stammte von der wunderbaren Empfängnis im Schoße der Jungfrau Maria. Dabei haben der überschattende Heilige Geist und das menschliche Fiat, nämlich die Zustimmung einer Jungfrau, unübertrefflich schön zusammengewirkt. Damit ist der Beginn  der neuen Menschheit  begründet,  die nichts mehr  mit dem durch die Sünde befleckten Stoff der gefallenen Rasse gemeinsam hat. Als das Wort Fleisch wurde, unterlag das göttliche Wort nicht der geringsten Veränderung.  Das Wort  Gottes, vom  Vater  gezeugt,  verließ  den Vater nicht. Was vor sich ging, war keineswegs die Verwandlung der Gottheit in das Fleisch, vielmehr die Aufnahme einer menschlichen Natur in Gott. Durch die menschliche Natur, die Jesus im reinsten Schoß der Jungfrau Maria angenommen  hat, blieb die ununterbrochene  Verbindung mit  der gefallenen Menschennatur gewahrt. Dadurch aber, daß die Person Christi der  präexistierende  Logos  ist,  entsteht  etwas  Neues.  Christus  wird  so buchstäblich der zweite Adam, der göttliche Mensch, durch den das Menschengeschlecht eigentlich erst seinen Anfang nimmt. Sein Ziel ist die Eingliederung der Menschen  in sich selbst, und diese soll sein eine Nachbildung seiner Vereinigung als des ewigen Wortes mit der menschlichen Natur, die er aus Maria angenommen hat.

Es fällt uns Menschen schwer, die Verdemütigung zu begreifen, die darin liegt, daß das Wort Fleisch geworden ist. Wir wollen ein Bild zu Hilfe nehmen. Angenommen, es sei möglich, daß eine menschliche Seele aus ihrem eigenen Körper heraus- und in den Körper einer Schlange einträte, dann würde das eine zweifache Verdemütigung bedeuten. Erstens müßte sie die Begrenzungen eines Schlangenorganismus auf sich nehmen, obwohl sie dabei genau wüßte, daß sie der Schlange geistig weit überlegen ist, die ja keinen einzigen Begriff bilden kann, weil sie keinen Verstand hat; auch könnten die Giftzähne keineswegs jene Gedanken entsprechend herausbringen, die eine Schlange ja auch nie denken kann. Zweitens müßte sie als unabwendbare Folge dieser Selbstentäußerung in der Gesellschaft der Schlangen leben. Doch all das wäre nichts im Vergleich mit der Selbstentäußerung Gottes, bei der der Sohn Knechtsgestalt annahm und  zugleich die Beschränkungen des Menschen (wie Hunger und Verfolgungen) auf sich nahm. Und erst welche Zumutung für die Weisheit Gottes, ein Gemeinschaftsleben mit armen, ungebildeten Fischern zu führen! Aber auf diese erste Verdemütigung bei seiner Empfängnis in Nazareth im Schoß der Jungfrau Maria folgten  unzählige andere, bis zur letzten in seinem Tod am Kreuz. Und sie alle zusammen vereitelten die stolzen Pläne der Menschen. Ohne Krippe kein Kreuz, ohne Stroh keine Nägel! Was hätte es genützt, hätte er bloß gelehrt, daß das Kreuz die Strafe für die Sünde ist? Er mußte es auf sich nehmen! Gott Vater schonte seines Sohnes nicht - so sehr liebte er uns Menschen. Das ist das Geheimnis des in Windeln eingewickelten Gottessohnes!

Aus:

Fulton Sheen

Das Leben Jesu

Sarto Verlag

Predigt zum Weihnachtsfest am 25. Dezember 2016