Das Motiv der Menschwerdung und die Vorbereitung der Welt
Von Pater Matthias Gaudron
Nachdem wir in der ersten Folge gesehen haben, dass die Menschwerdung zwar nicht absolut notwendig, aber höchst angemessen für unsere Erlösung war, stellt sich nun noch die Frage, ob Gott auch ohne den Sündenfall Mensch geworden wäre.
Das Motiv der Menschwerdung
Gemäß der Lehre der Kirche und der Hl. Schrift war die Menschwerdung Gottes das Heilmittel für den Sündenfall der Menschen. Im Glaubensbekenntnis beten wir nämlich: „Für uns Menschen und um unsres Heils willen ist er vom Himmel herabgestiegen“, und im Exsultet der Osternacht heißt es: „O glückliche Schuld, die verdiente, einen so erhabenen und großen Erlöser zu haben.“ Auch das Evangelium sagt: „Der Menschensohn ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren war“ (Lk 19,10). Der Name Jesus, der dem Messias nach dem Gebot des Erzengels Gabriel gegeben wird (Lk 1,31; Mt 1,21), bedeutet gerade Erlöser oder Retter. Demnach scheint es, dass Gott nicht Mensch geworden wäre, wenn Adam die Prüfung bestanden hätte. So sagen es auch mehrere Kirchenväter, z. B. der hl. Cyrill von Alexandrien: „Wenn wir nicht gesündigt hätten, wäre der Sohn Gottes nicht uns ähnlich geworden.“[1] Oder Augustinus: „Wenn der Mensch nicht gesündigt hätte, wäre der Menschensohn nicht gekommen.“[2]
Seit dem Mittelalter gibt es aber auch eine ganze Reihe von Theologen, die der Meinung sind, Gott habe unabhängig vom Sündenfall beschlossen, das Schöpfungswerk durch den Gottmenschen zu krönen. Dies vertritt z. B. der hl. Franz von Sales, der schreibt:
„Von Ewigkeit her erkannte Gott, dass es in seiner Macht steht, zahllose Geschöpfe verschiedener Eigenschaften und Vollkommenheiten zu erschaffen, denen er sich mitteilen könnte. Er erwog nun, dass unter allen Möglichkeiten, sich mitzuteilen, es keine so innige und erhabene gäbe, als sich so mit einer geschaffenen Natur zu vereinigen, dass diese förmlich auf die Gottheit gepfropft und ihr einverleibt und so mit ihr eine einzige Person würde. Daher beschloss die göttliche Güte, die von selber und durch sich selbst zur Mitteilung drängt, eine solche Vereinigung mit einem Geschöpf einzugehen.“[3]
Ohne den Sündenfall wäre der Gottmensch allerdings nicht als leidensfähiger Erlöser, sondern von Anfang an in verklärter Gestalt erschienen.
Wenn Christus von Paulus „Erstgeborener aller Schöpfung“ genannt wird, durch den und auf den hin alles geschaffen wurde (Kol 1,15 f.), so kann man dies vielleicht auch auf Christus als Mensch beziehen. Eher aber ist die beständige Anwendung einiger Aussagen der Weisheitsbücher auf Maria durch die Liturgie der Kirche ein Traditionsargument für diese These, denn wenn Aussagen wie „der Herr besaß mich am Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf von Anbeginn her … noch standen nicht die Berge fest in gewaltiger Wucht, vor den Hügeln ward ich geboren, ehe er noch die Erde geschaffen …“ (Spr 8,22 ff.) auf Maria angewendet werden können, kann das eigentlich nur bedeuten, dass Gott von Anfang an und vor aller Schöpfung den Plan gefasst hat, den Gottmenschen und seine Mutter zu schaffen, und er die übrige Schöpfung gewissermaßen nach ihrem Bild und für sie ins Werk setzte.
Die Kirche hat zu dieser Frage keine Entscheidung gefällt, weswegen sie als unentschieden gelten muss.
Die Angemessenheit einer Vorbereitung auf das Kommen des Erlösers
Die Erlösung wurde gleich nach dem Sündenfall in den Worten Gottes an die Schlange angekündigt: „Feindschaft will ich setzen zwischen dir und der Frau, zwischen deinem Samen und ihrem Samen. Er wird dir den Kopf zertreten, und du wirst nach seiner Ferse schnappen“ (Gen 3,25). Hier wird dem Teufel ein neues Menschenpaar angekündigt, das er nicht wie Adam und Eva besiegen kann, sondern durch das er besiegt werden wird. In diesem neuen Menschenpaar sieht man zu Recht Maria und Christus, die neue Eva und den neuen Adam, vorausgesagt.
Der Erlöser wurde nun aber nicht sogleich gesandt. Das war auch nicht nötig, denn die Menschen vor Christus konnten durch den Glauben an den kommenden Erlöser bereits mit dem Erlösungswerk in Verbindung treten und die rettende Gnade erhalten. Nach dem hl. Thomas von Aquin war es auch nicht angemessen, dass Gott den Erlöser sofort sandte, denn die Sünde Adams war eine Sünde des Stolzes. Wäre er sofort erlöst worden, wäre der Mensch vielleicht in noch größeren Stolz verfallen, da er geglaubt hätte, er sei so wichtig, dass Gott ihn sogleich erlösen musste. Durch das lange Warten auf die Erlösung wurden die Menschen stattdessen gedemütigt und mussten einsehen, dass die Erlösung eine unverdiente Gnade ist. Da die Menschen zudem weitgehend ihren natürlichen Kräften überlassen wurden, konnten sie ihre sittliche Schwäche erkennen. Zudem sollte Christus wie ein durch viele Herolde angekündigter König erscheinen.[4]
Andererseits wäre es aber auch nicht angemessen gewesen, die Menschwerdung bis ans Ende der Welt zu verschieben, denn dann hätte es nicht die Kirche, das Gottesreich auf Erden, gegeben, es hätte nicht die christlichen Heiligen gegeben, die mit Hilfe der Gnade des Erlösers eine so große Vollkommenheit erreichten.[5] Christus kam also „in der Fülle der Zeit“ (Gal 4,4), d. h. zu dem Zeitpunkt, den Gott in seiner Weisheit dafür auserwählt hatte.
Die Vorbereitung des Volkes Israel
Unter allen Völkern wählte Gott ein Volk aus, um es ganz speziell auf die Ankunft des Erlösers vorzubereiten, der aus ihm hervorgehen sollte. Dieses Volk war inmitten der in Vielgötterei lebenden Völker ein Hort des Glaubens an den einen Gott, und ihm wurden die Züge und das Werk des kommenden Erlösers im Laufe der der Zeit immer klarer und deutlicher geoffenbart.
So wurde Abraham, dem Stammvater des jüdischen Volkes, verheißen, dass in ihm alle Geschlechter der Erde gesegnet werden würden (Gen 12,3), der alte Fluch also aufgehoben werde. Die Psalmen verkündeten die Geburt des Erlösers aus Gott (Ps 2), sein Priestertum nach der Ordnung des Melchisedech (Ps 109) und sein Leiden, besonders der Ps 21, der die Verlassenheit Christi, die Durchbohrung seiner Hände und Füße sowie die Verteilung seiner Kleider nennt. Sie besingen aber auch sein Königtum, wie z. B. der Ps 71, der die Universalität seiner Herrschaft bis an die Grenzen der Erde nennt.
Unter den Propheten kündigt Isaias die Geburt des Messias aus einer Jungfrau an (Is 7,14), beschreibt aber in den Kapiteln 52 und 53 auch ausführlich und sehr klar sein stellvertretendes Sühneleiden. „Doch ob unserer Sünden ward er verwundet, ob unserer Frevel zerschlagen. Zu unserem Heil lag Strafe auf ihm – durch seine Striemen wurden wir geheilt“, heißt es z. B. in Is 53,5. Etwa zur gleichen Zeit verkündet der Prophet Michäas die Geburt des Messias in Bethlehem (5,2).
Einige Personen des AT waren auch Vorbilder Christi, insofern sich in ihrem Leben gewisse Ähnlichkeiten mit dem seinen finden: Isaak, der Sohn der Verheißung, sollte von seinem Vater Abraham auf dem Berg Moriah geopfert werden; er trug selbst das Holz für das Opfer auf den Berg und ließ sich willig binden. Weil er aber nur Vorbild war, wurde er nicht real geopfert, sondern ein Widder an seiner statt. Dieses Zurückrufen Isaaks vom Tod war nach Hebr 11,19 ein Gleichnis der Auferstehung Christi.
Der Jakobssohn Josef wurde von seinen eigenen Brüdern für 20 Silberlinge nach Ägypten verkauft, litt im Gefängnis zwischen zwei Übeltätern, von denen der eine begnadigt, der andere aber verurteilt wurde, und gelangte schließlich zur Herrschaft über Ägypten. Als Austeiler des lebensrettenden Brotes wurde er Retter seines eigenen Volks wie auch Ägyptens vor dem Hungertod.
Moses wurde als Kind vor dem Tod gerettet, führte sein Volk aus der Knechtschaft und wurde Vermittler des Alten Bundes. David und Salomon waren Vorbilder des Königtums des Messias.
Auch das Paschalamm war ein wichtiges Vorbild des Messias, denn sein Blut rettete in Ägypten die Erstgeburt der Israeliten vor dem Tod und sein Fleisch nährte die Juden bei ihrem Aufbruch zur Reise durch die Wüste ins Gelobte Land.
An diesen Prophezeiungen und Vorbildern, denen man noch viele beifügen könnte, hätten die Juden erkennen sollen, dass Jesus von Nazareth wirklich der verheißene Messias war.
Die Vorbereitung der Heiden
Die Heiden wurden nicht in spezieller Weise auf die Erlösung vorbereitet. Gott habe die Völker vor Christus „ihre eigenen Wege gehen lassen“, sagten Paulus und Barnabas in Lystra (Apg 14,16). Trotzdem waren sie nicht grundsätzlich vom Heil ausgeschlossen:
Reste der Uroffenbarung, also der Offenbarung, die an die ersten Menschen erging, blieben in vielen Völkern erhalten. Daher fand sich dort oft ein Wissen um ein ehemaliges paradiesisches Zeitalter, das durch die Schuld der Menschen verlorenging, aber auch die Ahnung von einem kommenden Erlöser. Zudem blieb dem Menschen auch nach dem Sündenfall die Stimme des Gewissens, die ihn vom Bösen abhalten und zum Guten aneifern sollte. Denjenigen, die ihrem Gewissen folgten, gab Gott dann auch die notwendige Gnade, um sich retten zu können.
Manche Heiden kamen durch die Juden sogar in einen näheren Kontakt zur Offenbarung. So waren vor allem die Babylonische Gefangenschaft und jüdische Siedlungen in verschiedenen Gegenden der Welt ein Anlass, durch den das Wort Gottes zu fremden Völkern getragen wurde. Die Weisen aus dem Morgenland, die der Stern ins Heilige Land führte, könnten auf diesem Weg bereits etwas von der Messias-Erwartung der Juden gehört haben. Zur Zeit Christi entfalteten die Juden sogar erstmals eine gewisse missionarische Tätigkeit, an die die Apostel anknüpfen konnten.
Auch das römische Weltreich half zur schnellen Ausbreitung des christlichen Glaubens. Die Völker waren in einem Reich geeint, es gab also keine Grenzen, dafür aber gute Straßen und Schiffsverbindungen. Deshalb hat man gesagt: „Der Schritt der römischen Legionäre hat Christus den Weg bereitet.“ Es ist sicher auch kein Zufall, dass die Geburt Christi in die Herrschaft des Augustus, also in die Zeit eines allgemeinen Friedens fiel.
Anmerkungen
[1] Dial. 5 de Trinitate.
[2] Sermo 174,2,2.
[3] Abhandlung über die Gottesliebe, 2. Buch, 4. Kap.
[4] Vgl. S Th III, q.1, a.5.
[5] Ebd., a.6.