Das Lob der Tugenden des heiligen Thomas von Aquin
Der 7. März ist in der überlieferten römischen Liturgie das Fest des hl. Thomas von Aquin. Auch wenn es in die Fastenzeit fällt, wird es in der Priesterbruderschaft als Fest 1. Klasse gefeiert. Das hat seinen Grund darin, dass das Hauptziel der Priesterbruderschaft die Ausbildung von Priestern ist.
In der Enzyklika „Studiorum ducem“ dieses Papstes aus dem Jahr 1923 gibt es einen Abschnitt, der als schöne Lobrede auf das Tugendleben des engelgleichen Lehrers gilt. Diese darf hier wiederholt werden.
In der Person des Aquinaten gibt es nach einem Wort Papst Pius XI. jene „wunderbare Verwandtschaft zwischen der wahren Wissenschaft und der Frömmigkeit, die jeder Tugend das Geleit gibt.“
"Da Gott die Wahrheit und die Liebe in Person ist, genügt es durchaus nicht, allein in der Rettung der Seelen die Ehre Gottes zu suchen, obgleich dies die Hauptaufgabe und eigentliche Sendung der Kirche ist. Der Diener des Heiligtums muss außer einer guten wissenschaftlichen Bildung auch die standesgemäßen Tugenden besitzen. Diese Harmonie von Wissenschaft und Frömmigkeit, von Bildung und Tugend, von Wahrheit und Liebe findet sich beim engelgleichen Lehrer in geradezu wunderbarer Weise verwirklicht. Deshalb ist die Sonne sein Sinnbild geworden. Durch das Licht der Wissenschaft hat es den Verstand erleuchtet, durch die Ausstrahlungen seiner Tugend die Herzen entflammt."1
So hat Gott, der Urquell aller Heiligkeit und Weisheit, in der Gestalt des heiligen Thomas sicher zeigen wollen, wie die eine die andere fördert, wie die Übung der Tugend zur Erfassung der Wahrheit behilflich ist und wie ihrerseits die tiefere Betrachtung der Wahrheit die Tugend zu veredeln und zu vervollkommnen vermag. Denn wie sittenreines Leben und die Meisterung der Leidenschaften durch die Tugend der Seele innere Freiheit verleiht, so ermöglicht der Aufschwung in höhere Regionen und das tiefere Eindringen in die Geheimnisse Gottes, wie der heilige Thomas selber bemerkt: „Zuerst das Leben, dann die Wissenschaft; denn das Leben führt zur Erkenntnis der Wahrheit.“2
Seinerseits ist das eifrige Studium der übernatürlichen Wahrheiten ein mächtiger Antrieb zum vollkommenen Leben; denn es kann niemand behaupten, dass Wissen um die erhabensten Dinge, deren Schönheit den Menschen zutiefst ergreift und hinreißt."
Papst Pius XI. fährt fort:
Thomas besaß alle sittlichen Tugenden im höchsten Grade, und sie waren bei ihm innig miteinander verbunden und bildeten ein einziges Strahlenbündel in der Liebe, die nach seiner Lehre „alle Tugendakte beseelt.3
Das besondere Merkmal des Heiligen ist aber seine Keuschheit, die ihm gewisse Ähnlichkeit mit den Engeln verleiht. Und da er sie in einem gefährlichen, entscheidenden Kampfe unversehrt bewahrte, wurde er für würdig befunden, von den Engeln geheimnisvoll umgürtet zu werden. 4
Diese Herzensreinheit paarte sich bei ihm mit dem Verzicht auf vergängliche Güter und mit der Geringschätzung irdischer Ehren. Es ist bekannt, dass er mit unbeugsamer Standhaftigkeit den hartnäckigen Widerstand seiner Verwandten brach, die ihn um jeden Preis zu einem bequemen Leben zwingen wollten.5 Als ihm später der Papst die bischöfliche Würde antrug, verschonte man ihn vor dieser gefürchteten Bürde einzig auf seine inständigen Bitten hin.6
Das charakteristische Wesensmerkmal der Heiligkeit des Aquinaten ist – nach einem Ausspruch des heiligen Paulus – das Wort der Weisheit.7 Dieser doppelten Weisheit, der erworbenen und der eingegossenen, geben Demut, Gebetsgeist und Gottesliebe das harmonische Geleit.
Dass die Demut beim heiligen Thomas die Grundlage aller Tugenden war, darüber ist niemand im Zweifel, der weiß, wie gern er in den gewöhnlichsten Dingen des Alltags einem Laienbruder gehorchte. Das geht ebenso klar aus seinen Schriften hervor, die seine große Ehrfurcht gegenüber den Kirchenvätern kundtun; es hat tatsächlich den Anschein, als wäre es „seine tiefe Verehrung für die alten Lehrmeister, die ihn gewissermaßen zum Erben ihrer Einsicht gemacht hat.“8
Einen schlagenden Beweis dafür liefert uns ferner die Tatsache, dass er nicht den geringsten Teil seiner genialen Geistesfähigkeiten zu seinem eigenen Ruhm ausnützte, sondern sie einzig und allein in den Dienst der Wahrheit stellte. Während die Philosophen allzu gern nur dem Eigenlob frönen, wollte er hinter seiner Lehre zurücktreten, damit das Licht der göttlichen Wahrheit voll erstrahle.
Diese demütige Gesinnung, verbunden mit Herzensreinheit und beharrlichem Gebet, machte die Seele des heiligen Thomas gelehrig und empfänglich für die Einsprechungen und Erleuchtungen des Heiligen Geistes; darin besteht die Voraussetzung und das Wesen des beschaulichen Lebens. Um diese Gnaden vom Himmel zu erflehen, enthält er sich oft jeglicher Nahrung, bringt ganze Nächte wachend im Gebet zu und lehnt in kindlicher Frömmigkeit sein Haupt an den eucharistischen Tabernakel; ständig richtet er Auge und Herz voller Mitleid auf das Bild des Gekreuzigten. Seinem vertrauten Freunde, dem heiligen Bonaventura, hat er einmal gestanden, vornehmlich aus jenem Buche alles gelernt zu haben, was er wusste.
Man kann also auch von ihm zu Recht behaupten, was von seinem Ordensvater Dominikus berichtet wird: er habe nur mit Gott oder von Gott gesprochen.
In seiner Gewohnheit, alles auf Gott zurückzuführen, die erste Ursache und das letzte Ziel aller Dinge, war es für ihn eine Selbstverständlichkeit, sich in seinem Leben wie seiner Theologischen Summa von der doppelten Weisheit leiten zulassen, von der wir eben sprachen und die er wie folgt umschreibt: „Die Weisheit, die der Mensch durch das Studium erwirbt, ... gestattet ihm ein gesundes Urteil über die göttlichen Dinge, wenn er sich seiner Vernunft richtig bedient ... Die andere Weisheit jedoch ist eine Gabe des Himmels ..., und sie urteilt über die göttlichen Dinge kraft einer gewissen natürlichen Verwandtschaft mit ihnen. Sie ist eine Gabe des Heiligen Geistes..., die den Menschen in der übernatürlichen Ordnung vervollkommnet, so dass diese zugleich Gegenstand des Wissens und der Erfahrung wird.“9
Diese eingegossene Weisheit, die samt den anderen Gaben des Heiligen Geistes ihren Quellgrund in Gott hat, nahm bei Thomas ständig zu im gleichen Maße wie die Liebe, die Krone und Königin aller Tugenden. Es war nämlich ein unanfechtbarer Grundsatz, dass die Liebe zu Gott fortwährend wachsen muss, ‚wie es schon die Formulierung des Gebotes voraussetzt: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen - 10 aus deinem ganzen Herzen oder vollkommen, das ist in Wirklichkeit dasselbe ... Endzweck des Gebotes ist die Liebe, wie Paulus sagt.11 Nun aber lässt der Endzweck kein Maß zu, nur die Mittel zum Ziel sind abzuwägen.“12 Gerade deshalb schließt auch das Gebot die Vollkommenheit der Liebe ein; sie ist das Ziel, nach dem wir alle je nach unserem Stande streben müssen.
Nun aber „bewirkt die Liebe, dass der Mensch nach Gott strebt; sie bringt seinen Willen in Einklang mit dem Willen Gottes, so dass der Mensch nicht mehr für sich, sondern für Gott lebt.“13 Und daher bewirkte diese Gottesliebe, die sich samt der doppelten Weisheit stets entfaltete, dass sich Thomas ganz und gar vergaß. Als ihn der Gekreuzigte fragte: „Thomas, du hast gut von mir geschrieben; welchen Lohn begehrst du?“, da antwortete der Heilige: „Herr, keinen andern als Dich selber.“14 Unter dem Antrieb der Liebe stellte sich Thomas vorbehaltlos in den Dienst des Nächsten; er verfasste Schriften von hohem Wert, stand seinen Mitbrüdern in ihren Arbeiten bei, beraubte sich seiner Kleider zugunsten der Armen und machte sogar die Kranken gesund. In der Peterskirche, wo er einst die Osterpredigten hielt, heilte er eine Frau von einem langjährigen Blutfluss, als sie den Saum seines Gewandes berührte.15
Welcher andere Lehrer hat das Wort der Weisheit, wie Paulus16 es nennt, besser verwirklicht als der Doctor angelicus? Er begnügt sich nicht damit, durch seine Lehre den Verstand der Menschen zu erleuchten; soweit es in seinen Kräften liegt, treibt er auch den Willen an, die Liebe des Schöpfergottes mit Liebe zu vergelten. „Gottes Liebe erfüllt die Geschöpfe mit Güte und macht sie gut“, sagt Thomas unübertrefflich.17
Und bei Behandlung der Geheimnisse wird er nicht müde, diese Ausstrahlung der göttlichen Güte hervorzuheben: „Es entspricht dem Wesen des höchsten Gutes, sich in höchst vollkommener Weise mitzuteilen; das geschieht in höchsten Maße ... durch die Menschwerdung.“18
Nirgends tut sich die Tiefe seines Geistes und der Reichtum seines Herzens so deutlich kund, wie im Festoffizium vom Allerheiligsten Altarssakrament. Die Liebe zur Eucharistie, die er zeit seines Lebens gepflegt, offenbart sich in jenem Wort, das er auf seinem Sterbebett vor dem Empfang der heiligen Wegzehrung gesprochen: „Ich empfange dich, heiliger Leib, Lösepreis meiner Seele ...; aus Liebe zu dir, o Jesus, habe ich studiert, gewacht und gearbeitet.“19
Diese knappe Darstellung der einzigartigen Tugendhaftigkeit des heiligen Thomas macht auch die Vortrefflichkeit seiner Lehre verständlich, die in der Kirche ein außerordentliches Ansehen genießt.»
- 1Vgl. Brevier der Dominikaner, Vesperhymnus zum Fest des heiligen Thomas.
- 2Thomas von Aquin, Commentarium in Evangelium S. Matthaei v.
- 3Thomas von Aquin, Sum. Theol. II-II q. 23 a. 8; I-II q. 65.
- 4Vgl. Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, Kap. X.
- 5Vgl. Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, Kap. IX.
- 6Vgl. Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, Kap. XLII.
- 71 Kor 12,8 EU.
- 8Papst Leo XIII., Rundschreiben „Aeterni patris“ vom 4. August 1879, ASS XII (1879) 108; Cajetan, Kommentar zur Summa theologica des heiligen Thomas, in II-II q. 148. a. 4.
- 9Thomas von Aquin, Summa theologica II-II q. 45 a. 1 ad 2 und a 2.
- 10Dtn 6 EU; Mt 22,37 EU; Mk 12,30 EU; Lk 10,27 EU.
- 11Vgl. 1 Tim 1,5 EU.
- 12Thomas von Aquin, Summa theologica II-II q. 184 a. 3.
- 13Thomas von Aquin, Summa theologica II-II q. 17 a. 6 ad 3.
- 14Wilhelm von Tocco, Vita S. Tbomae, Kap. XXXIV.
- 15Vgl. Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, Kap. LIII.
- 161 Kor 12,8 EU.
- 17Thomas von Aquin, Summa theologica I q. 20 a. 2.
- 18Thomas von Aquin, Summa theologica III q. 1 a. 1.
- 19Wilhelm von Tocco, Vita S. Thomae, Kap. LVIII.