Das Herz der Kirche kennenlernen
Einen Menschen kennen wir erst dann gut, wenn wir sein Herz kennen und zu ihm gesprochen haben. Wir können erst dann die Bedeutung der Kirche verstehen, wenn wir ihr Herz kennen. Beginnen wir mit dem Gebet Mariens.
Sie ist die Vermittlerin aller Gnaden.[1] Alle Gnaden, die Gott den Menschen schenkt, gibt er auf die Fürbitte Mariens. Das heisst, dass auch alle Gnaden in den Herzen der Christen durch ihr Gebet geschenkt sind. Alles Leben in den Gliedern der Kirche ist die Wirkung ihrer Fürbitte. Damit ist die Jungfrau Maria in gewisser Weise das Herz der Kirche. So wie ein menschliches Herz dem ganzen Körper Leben verleiht, belebt das Gebet Mariens die ganze Kirche.
Wenn man unter dem Himmel steht, kann man einen Blick in die Vergangenheit werfen. Das Licht braucht von der Sonne zur Erde acht Minuten. Wir sehen also, wie die Sonne vor acht Minuten aussah. Ein Blick auf den Mond zeigt, wie der Mond vor einer Sekunde anzusehen war. Das Licht anderer Sterne braucht noch viel länger, mancher Stern hat vor Jahrmillionen sein Licht ausgesendet, das wir heute sehen. So gibt uns der Blick in den Sternenhimmel einen eigenartigen Blick in die Vergangenheit der Schöpfung.
Betrachten wir nun den Himmel der Heiligen. Dort gibt es eine Vielzahl von Menschen, die niemand zählen kann.[2] Sie haben zu ganz verschiedenen Zeiten gelebt. Jeder dieser Heiligen strahlt in einem anderen Licht, aber all dieses Licht ist die Wirkung des Gebetes Mariens. So erzählt uns die Welt der Heiligen, wie vielfältig und reich das Gebet Mariens in seinen Wirkungen ist. Die Heiligen sagen uns, um welche Gaben Maria gebeten hat. Sie hat dem hl. Don Bosco sein Herz gegeben, das «weit ist wie der Strand am Meer».[3] Sie hat den Märtyrern die überraschende Kraft gegeben, alles für Jesus hinzugeben und ihren Feinden zu verzeihen. Sie hat den Missionaren den Mut gegeben, für die Rettung der Menschen die grössten Todesgefahren auf sich zu nehmen. Sie hat Müttern und Vätern die Kraft gegeben, eine gute Ehe zu führen. Man müsste das Leben von unzähligen Menschen durchgehen, um eine Ahnung zu bekommen, wie herrlich das Gebet Mariens ist. Alles Leben der Kirche kommt aus dem Gebet des Unbefleckten Herzens Mariens. Die brennende Liebe, die wir in so vielen Herzen finden, spricht laut vom Gebet Mariens. Sie trägt zu Recht den Titel «Mutter der schönen Liebe»[4].
Man kann die Welt der Heiligen auch als ein gigantisches Mosaik verstehen, wobei jeder Heilige ein einzelner Stein im Ganzen ist. Spricht dieses Mosaik nicht auch über die Vielfältigkeit und Schönheit des Herzens der Kirche, Maria? Da ist nichts von Enge oder Einseitigkeit zu sehen, nichts von neurotischer Verkrampfung oder Lebensferne. Jeder Mensch in diesem Mosaik des Gebetes Mariens ist einmalig und unwiederholbar. Er hat seinen eigenen persönlichen Glanz, der durch das Gebet Mariens hervorgehoben wird.
Dieses Himmelsmosaik gibt uns auch Auskunft über das, worum Maria am meisten betet: brennende Liebe zu Gott, aufrichtige Liebe des Nächsten, Hoffnung, Geduld, Freundlichkeit, Einheit des Herzens und des Geistes, Reinheit, Bescheidenheit, Glaube, Gehorsam, Milde, Barmherzigkeit, Vertrauen und Hingabe. Maria sagt uns wie der hl. Paulus: «Im übrigen, Brüder, seid auf das bedacht, was wahr, was ehrbar, was recht, was lauter, was liebenswert, was anziehend, was tugendhaft und was lobwürdig ist. Was ihr gelernt und übernommen, was ihr gehört und an mir gesehen habt, das tut! Und der Gott des Friedens wird mit euch sein.»[5]
Das Unbefleckte Herz Mariens ist aber nicht nur Kanal aller Gnaden im Leib der Kirche, sie fasst auch die Liebe aller Heiligen zusammen. Das lässt sich leicht erklären: Wenn Maria heute für uns betet, tut sie das in der liebevollen Absicht, dass wir all das Gute verwirklichen, das sie so sehr liebt. Ihre Liebe steht hinter jeder Gnade, die wir erhalten und bejaht und ersehnt alles Gute, das sie für uns erbittet. Auch wenn wir mit einer Gnade nicht mitarbeiten und versagen, geht sie nicht verloren, sondern findet in der Danksagung und Liebe des Herzens Mariens ihren Sinn. Wir mögen versagen, dieses Herz aber gibt dem Herrn die Dankbarkeit und Gegenliebe, die seinen Gaben entspricht.
An diesem Punkt klärt sich auch eine Frage unserer Zeit. In Fatima hat Maria gesagt, dass Gott die Verehrung ihres Unbefleckten Herzens in der Welt einführen will und wir deshalb Wiedergutmachung leisten sollen für die Beleidigungen dieses Herzens. Da entsteht die Frage, wo Mariens Herz in der heutigen Welt überhaupt ein Thema ist. Wer spricht denn heute von diesem unbefleckten Herzen? Wenn man aber so wenig von ihr spricht, dann sind die Beleidigungen dieses Herzens noch seltener. Wir sollen also Wiedergutmachung leisten für etwas, das so gut wie nie vorkommt?
Das oben beschriebene Gebet für die Glieder der Kirche ist ein grosser Teil des Lebenswerkes Mariens. Jedes Versagen der Glieder der Kirche ist eine Vereitelung ihres Gebets. Statt des Guten, das Maria beabsichtigte, tun die Menschen vielfach ihren eigenen Willen und sündigen. Stellen wir uns ein Orchester mit Dirigenten vor, in dem jeder Geiger vor sich hin spielt, jeder Flötist Tiraden bläst, jeder Pauker erratische Schläge produziert. Wie fühlt sich der Dirigent? Bevor das Konzert beginnen kann, braucht es eine Versöhnung des Orchesters mit dem Dirigenten. Das bedeutet für unser Thema: Es braucht eine Wiedergutmachung gegenüber dem Herzen Mariens, das so viel Gutes in unserem Leben wirken wollte.
Die Notwendigkeit der Wiedergutmachung gegenüber dem Unbefleckten Herzen Mariens erscheint aber auch von einer anderen Seite her dringend. Nehmen wir an, ein Mensch wird herabgesetzt, indem man ihm Beleidigungen an den Kopf wirft. Muss man da nicht sagen, dass diese Beleidigungen das Herz des Menschen treffen? Wenn aber Maria mit ihrem Gebet das Herz der Kirche bildet, bedeutet jede Herabsetzung, Verwundung, Entstellung und Verfolgung der Kirche eine Verwundung und einen Schmerz des Unbefleckten Herzens Mariens. Alles, was die Kirche erleidet, trifft das Unbefleckte Herz Mariens. Bedenken wir einmal den Schmerz, den die Sünden und Irrtümer, die Fehler und Nachlässigkeiten der Katholiken diesem Herzen bereiten. Wenn wir an die heutigen Verirrungen wie Handkommunion, Synodaler Weg, falscher Ökumenismus, falsche Toleranz, offene Gutheissung von widernatürlicher Unzucht, Gleichgültigkeit gegenüber den Sakramenten, Verfälschung der Lehre der Kirche, Leugnung des Opferwertes der hl. Messe, mangelhafte Glaubensunterweisung der Kinder und Jugendlichen usw. denken, dann sollten wir vor allem an das Herz denken, das von diesen Verwundungen der Kirche schwer getroffen ist. Dürfen wir daran vorbeigehen? Nein, wir müssen diesen Schmerz mitempfinden und trösten.
Viele Katholiken leiden schwer unter der heutigen Krise. Sie mussten ihre Pfarreien verlassen und anderswo Asyl suchen. Die täglich neuen Nachrichten von Verirrungen und Skandalen in der Kirche treffen schwer. Von dieser Zeit hat Maria angekündigt: «Am Ende wird mein Unbeflecktes Herz triumphieren.» Es ist ja notwendig, dass das Böse unserer Tage und das Leid der Katholiken gewendet werden. Wenn auch der Blick auf die Kirche heute tiefe Traurigkeit hervorruft, erwarten wir doch den Tag, an dem das innerste Wesen der heiligen Kirche aufleuchten wird. Im Triumph dieses Herzens – des Herzens der Kirche – wird die Heiligkeit der Kirche aufstrahlen, ihr Antlitz soll wiederhergestellt werden. Jeder, der in diesem Anliegen den Rosenkranz betet, hilft mit, den Ruf und das Ansehen unserer heiligen Mutter, der Kirche wiederherzustellen.
Anmerkungen
[1] Mit Dekret vom 2. Januar 1921 approbierte die SC Rituum (Ritenkongregation) unter Papst Benedikt XV. die Messe zum Fest Beatae Mariae Virginis Mediatricis omnium gratiarum; ital.: MARIA VERGINE MADRE E MEDIATRICE DI GRAZIA, «Mediatrice di tutte le grazie», zu feiern am 31. Mai.
[2] Offb 7,9
[3] Missale, Introitus der Messe
[4] Sir 24,24
[5] Phil 4,8