Das Gebet – Erlebnis oder Herausforderung?

Quelle: Distrikt Deutschland

Von Pater Stefan Pfluger

Lieber Leser, bevor Sie diesen Artikel lesen, bitte ich Sie, für zwei Minuten innezuhalten und die folgende „Übung“ zu machen: Stellen Sie sich eine Beschäftigung oder eine Sache vor, die Sie selber so fasziniert und Ihre Aufmerksamkeit so „gefangen“ nimmt, dass Sie gar nicht mehr merken, wie die Zeit verfliegt.

Lesen Sie hier erst weiter, wenn Sie etwas gefunden haben, das Sie ganz „gefangen“ nimmt. Was Sie nun gefunden haben, ist für Sie etwas sehr Faszinierendes. Stellen Sie sich nun die Frage, warum Sie davon so fasziniert sind. – Sie werden sicher sagen, es sei eben sehr interessant oder spannend, Sie würden es sehr gerne tun. Mit anderen Worten: Sie sind ganz dabei. Nicht nur Ihr Leib ist betroffen, sondern auch (und vor allem!) Ihr Gemüt ist stark in Anspruch genommen. Ihre Person ist ganz „im Bann“ dieser bestimmten Sache oder Tätigkeit.

Dieses „Erlebnis“ ist bei allen das gleiche. Und doch werden die Einzelnen ganz unterschiedliche Dinge gefunden haben, die zu diesem „Erlebnis“ führen: Vielleicht ist es das Lesen eines spannenden Buchs, vielleicht das Wandern in Gottes freier Natur oder das Erleben eines Sonnenuntergangs am Meer oder auf einem Berg, vielleicht das Musizieren, eventuell ein interessantes Spiel, ein Puzzle, ein Film, ein Hobby oder sonst etwas. Was auch immer: die unterschiedlichsten Dinge – das gleiche „Erlebnis“!

Wenn Sie einen Mönch fragen würden, würde er Ihnen vielleicht zur Antwort geben, für ihn sei das bei der Betrachtung oder bei der hl. Messe der Fall. Wenn Sie einen lasterhaften Menschen fragen würden, würde er Ihnen sehr schlechte Dinge nennen! Also noch andere Dinge, aber das gleiche „Erlebnis“!

Niemand von Ihnen würde behaupten, dass alle die verschiedenen Dinge oder Tätigkeiten genau gleichwertig seien! Sie sind nicht alle gleich wichtig, denn sie führen den Menschen nicht gleich schnell zu seinem Ziel, ja teilweise sogar davon weg! Und dennoch verschaffen sie das gleiche „Erlebnis“, sie lassen uns alles andere vergessen! Daraus können und müssen wir eine wichtige Lehre ziehen: Die Wichtigkeit und Richtigkeit einer Sache haben nichts zu tun mit ihrer unmittelbaren Wirkung auf unser Gemüt. Die Wichtigkeit und Richtigkeit einer Sache bemessen sich nicht nach dem „Erlebnis“!

Für diejenigen von Ihnen, die mit den täglichen Gebeten etwas Mühe haben oder denen die Betrachtung noch Schwierigkeit bereitet, besteht meines Erachtens hier eine Hauptgefahr: Die Auffassung, die wirkliche Wahrheit liege in dem, was wir „erleben“ und „fühlen“, ist sehr weit verbreitet. Von allen Seiten werden wir ermutigt, unsere wichtigen Entscheidungen nach unserem „Bauchgefühl“ zu treffen. Das verstandesmäßige (analytische) Denken und Urteilen wird geringgeschätzt. Es werde, so sagt man, dem Menschen in seiner Ganzheit nicht gerecht, weil es ihn auf seine Vernunft reduziere und so einen wichtigen Teil der menschlichen Wirklichkeit außer Acht lasse.

Dabei lässt aber gerade diese moderne Haltung einen entscheidenden Teil der Wirklichkeit außer Acht, nämlich die Tatsache, dass es eine Erbsünde gibt und dass wir alle sehr unter ihren Folgen zu leiden haben. Eine der schlimmsten Folgen der Erbsünde ist die Neigung zum Schlechten: Das Innere des Menschen ist in Unordnung, die Gefühlswelt und die Leidenschaften beherrschen den Menschen – und der Verstand, der eigentlich die Leitung innehaben sollte, ist geschwächt.

Daher verhält es sich beim Gebet oft ganz anders als bei der eingangs erwähnten Beschäftigung. Das Gebet nimmt Sie wahrscheinlich nicht so „gefangen“, dass Sie alles andere um sich herum vergessen (zu Ihrem Trost: es geht auch uns Priestern oft so!). Wenn Sie beten, empfinden Sie vielleicht nichts Schönes oder Positives oder haben sogar mit starken Zerstreuungen zu kämpfen. Sie empfinden das Gebet möglicherweise als mühsame Last oder lästige Pflicht. Es könnte sein, dass Sie sich nach wiederholten, ernsthaften Versuchen sagen: „Es bringt nichts. Ich kann so nicht beten. Es hat keinen Wert.“

Und gerade dann tappen Sie in eine Falle, in die „Bauchgefühl“-Falle: Sie halten Ihren gefühlsmäßigen Eindruck von Wirksamkeit und Nutzen Ihres Gebetes für die Wirklichkeit. Aber dieser Eindruck ist eine gewaltige Täuschung! Die Wirksamkeit des Gebetes bemisst sich nicht nach dem „Erlebnis“!

Jedes Gebet, das aus einem aufrichtigen, sich bemühenden Herzen zu Gott emporsteigt, ist wirksam! Denken wir immer daran: Was uns besser macht und heiligt, ist nicht unsere Anstrengung, sondern das Wirken Gottes! Beim Gebet halten wir sozusagen Gott unsere Seele hin, damit er darin wirkt, unsere Wunden heilt, unsere Fehler behebt, uns mit Tugenden erfüllt. Auch wenn wir dabei nichts spüren, wenn wir kurzfristig keine positive Veränderung an uns bemerken, Gott wirkt trotzdem! Das sagt uns der vom Glauben erleuchtete Verstand.

Insofern ist das Gebet eine wirkliche Herausforderung. Wenn negative „Erlebnisse“ bzw. Gemütsbewegungen uns nahelegen, das Gebet zu unterlassen oder abzubrechen, gilt es, fest zu bleiben. Halten wir mutig und tapfer an unseren täglichen Gebeten fest und, wenn irgendwie möglich, an einer kurzen Betrachtung! Ja, es braucht Mut und Tapferkeit, um auch dann im Gebet treu zu sein, wenn die spürbaren Erfahrungen und positiven Gefühle ausbleiben.

Diesen Mut und diese Tapferkeit haben wir nicht aus uns selbst, Gott gibt sie uns. Er lässt uns nicht im Stich, wir sind ja seine Kinder: „Vergisst eine Frau ihren Säugling, eine Mutter den Sohn ihres Leibes? Mögen selbst diese vergessen, ich aber vergesse dich nicht!“ (Is 49.15) Weil Gott weiß, wie schwach wir sind, hat er uns seinen Hl. Geist gesandt, damit er uns zu beten lehre: „Ihr habt den Geist der Kindschaft empfangen, in dem wir rufen: ‚Abba! Vater!‘ Der Geist Gottes bezeugt es selbst mit unserem Geist zusammen, dass wir Kinder Gottes sind“ (Röm 8,15 f.).

Wie der Hl. Geist am Pfingstfest die Apostel umgewandelt und ihnen seine Stärke verliehen hat, so kann er auch uns umwandeln. Er ist Gott, er ist allmächtig! Er wird uns den Geist des Gebets geben, unseren Willen stärken und uns helfen treu zu sein. Allerdings ist unsere Mitwirkung gefordert. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott.“ – Dieser Satz trifft hier zu. Nehmen wir uns also Zeit für das persönliche Gebet.

Die Heilige Schrift kann für uns eine sprudelnde Quelle werden, wenn wir sie nicht nur lesen, sondern betrachten. So viele einzelne Geschehnisse aus den Evangelien laden uns ein, darüber nachzudenken und mit Gott darüber zu sprechen. (So einfach ist Betrachtung!) Also Mut zum Gebet!

Sehr geeignet für dieses Bemühen um ein betrachtendes und persönliches Gebet sind außer den Evangelien Bücher wie „Das Leben Jesu“ von Prosper Baudot, „Kreuz und Bergpredigt“ und „Das Leben Jesu“ von Fulton Sheen, „Das Leben Jesu nach dem Evangelisten Johannes“ von Matthias Gaudron, oder „Meditationen zum gesamten Kirchenjahr“ von Ludwig de Ponte.

Der liebe Gott schaut nicht auf unseren Erfolg, sondern auf unser Bemühen. Lassen wir uns also nicht entmutigen von Schwierigkeiten und Hindernissen. Schenken wir Gott unser Herz – jeden Tag wenigstens einige Minuten lang ganz bewusst.

Komm, Heiliger Geist, erfülle die Herzen Deiner Gläubigen, und entzünde in ihnen das Feuer Deiner Liebe und den Geist des Gebets!