Bischof Fellay im Interview mit Pater Alain Lorans
Wird die Priesterbruderschaft St. Pius X. die Freiheit bekommen, wirklich das „Experiment der Tradition“ zu machen?
Die Presse meldete in den letzten Wochen, daß die Priesterbruderschaft St. Pius X. vom Papst in den Rang einer Personalprälatur erhoben werden soll. Die Einigung der Erben von Erzbischof Marcel Lefebvre und dem Heiligen Stuhl wären an ein Ende gekommen. Wenn auch der Msgr. Bernard Fellay diese Erwartung dämpfte, halten sich diese Gerüchte hartnäckig.
Die Monatszeitschrift „Kirchliche Umschau“ übersetzte ein Radio-Interview, daß der Generalobere der Priesterbruderschaft St. Pius X. am 26. Januar 2017 in Radio Courtoisie gegeben hat. In diesem Gespräch äußert er sich zu einer Reihe „heißer Themen“ im Leben der Kirche. Die Fragen stellte Pater Alain Lorans aus Paris.
Frage: Exzellenz, Sie sind seit über 20 Jahren Generaloberer der Priesterbruderschaft St. Pius X. Hat es in diesem Zeitraum in der Kirche, in der Bruderschaft oder in der Welt, die Sie immer wieder durchreisen, Veränderungen gegeben? – Sie kommen gerade aus Südamerika zurück, wohin führten Ihre letzten Reisen?
Weihbischof Bernard Fellay: Die letzten Reisen? Nun, das war vor allem die Reise in die Vereinigten Staaten wegen der Einweihung des dortigen Seminars. Ich habe auch an einem Kongreß an der Westküste der Vereinigten Staaten teilgenommen. Und dann hatten wir im Dezember die Weihen in Argentinien, die Gelegenheit habe ich genutzt, um nach Peru zu reisen, um zu sehen, wie die Dinge sich bei Lima entwickeln; dort haben wir auch eine Kapelle. Das waren die beiden großen Reisen des vergangenen Jahres.
Frage: Welche Entwicklungen haben Sie in den letzten 20 Jahren feststellen können?
Weihbischof Bernard Fellay: Es braucht Zeit, bis man sieht, ob sich wirklich etwas verändert. Es gibt schon eine gewisse Entwicklung, aber die geht nur schrittweise voran. Es sind sehr kleine Schritte, oft sind sie unmerklich. Ich meine, es gibt trotzdem gewisse Veränderungen, aber der Kern des Kampfes – darauf kommen wir wohl später noch zurück –, der Kern des Kampfes ist immer dieselbe. Es gibt neue Gegebenheiten, und der Kampf der Ideen selbst ist unverändert. Was sich geändert hat, das sind die Menschen, genauer gesagt: eine Generation ist vergangen. Die Kämpfer der ersten Stunde sind schon im Jenseits – nicht alle, aber ein großer Teil. Die ältesten von ihnen – man könnte sagen, unsere Generation, die wir damals in unseren Zwanziger-Jahren waren –, also die ältesten lebten in einem viel aggressiveren Klima als heute.
Nun kommt allerdings eine neue Aggressivität auf uns zu, und die kommt diesmal nicht von der Kirche – die Kirche ist fast völlig verfallen, von dort gibt es keine neue Aggressivität, sondern es sind immer dieselben Geschichten. Auf der Ebene der Staaten allerdings gibt es so etwas wie eine globale Ideologie, die sich weltweit etabliert; sie ist sehr links, und sie setzt sich durch, sie will sich durchsetzen. Das, so meine ich, ist neu. Die Ideen sind immer dieselben, aber sie werden aggressiver.
Neue Aggressivität der Staaten gegen das Naturrecht
Frage: Sehen Sie das, was wir in Frankreich mit der „Ehe für alle“, der „Homoehe“ oder mit der „Gendertheorie“ gesehen haben, auch überall in der Welt?
Weihbischof Bernard Fellay: Ja. Das gibt es überall.
Frage: Und treten die traditionsverbundenen Katholiken gegen diese Ideologien auf, kämpfen sie dagegen?
Weihbischof Bernard Fellay: Die Katholiken der Tradition sind nicht zahlreich genug, um eine politische Gruppierung, eine Bewegung zu bilden. Eine Bewegung der Ideen, ja. Es gibt andere, die Konservativen, die sich mehr oder weniger mobilisieren, je nach Land ist das unterschiedlich. Auch wir versuchen, sie zu unterstützen oder auch teilzunehmen, aber auch das ist von Land zu Land verschieden. Wir stehen im Kampf, aber vielleicht nicht immer in der vordersten Linie. Von unserem Standpunkt aus natürlich, ja, denn wir machen immer ein wenig Lärm, aber da besteht auch die Gefahr, daß man immer nur sich selbst sieht. Wenn man es vom Ganzen her betrachtet, dann sind wir doch recht wenige. Zahlenmäßig fallen wir nicht ins Gewicht, aber sehr wohl, was die Ideen betrifft. Auf der Ebene des Ringens der Ideen, ja, da stellen wir etwas sehr Solides, Festes dar, und ich denke, daß wir deshalb gefürchtet werden.
Frage: Aber von wem? Wer fürchtet uns? Wer hat Angst vor der Tradition?
Weihbischof Bernard Fellay: Oh, sehr viele! Ich glaube, daß das sehr verbreitet ist. Das sind nicht nur die, welche man früher die Progressisten nannte, oder jene klerikale Welt, welche die Kirche mit dem II. Vatikanischen Konzil über den Haufen werfen wollte. Die sind da, sie sind immer noch da, und der Kampf geht weiter. Aber dann gibt es da auch die, welche diese Änderungen in der Kirche teilweise angeregt haben oder versucht haben, sie ganz behutsam in der Kirche einzuführen. Und die sind genauso virulent, vielleicht sogar noch wirksamer. Ganz deutlich lenkt die Bewegung der Freimaurer dieses moderne Denken. Die Homosexuellen-Lobby ist so etwas Neues, das man vor dreißig oder fünfzig Jahren nicht kannte. Damals war das recht unbekannt, es war selten, man sprach noch nicht einmal darüber, so wenig bekannt war das alles. Und plötzlich tauchten sie auf, wie eine Welle, und sie wollen uns glauben machen, sie seien eine Mehrheit. Ich glaube das nicht, aber ihnen stehen alle Mittel zur Verfügung, um diese für die Gesellschaft zerstörerischen Gesetze durchzusetzen, welche die Gesetze jeder Gesellschaft zerstören, das Naturrecht. Wenn das so weitergeht, dann stirbt die Welt an Unfruchtbarkeit.
Frage: Weil es dann keine Kinder mehr gibt?
Weihbischof Bernard Fellay: Es wird keine Kinder mehr geben. Es gibt ein Streben nach persönlichem Glück, den Verlust des Sinnes für das Gemeinwohl, also für ein dem Menschen übergeordnetes Gut, zu dem jeder Mensch beitragen muß – das eben deshalb „Gemeinwohl“ genannt wird – und von dem jeder profitiert, was aber voraussetzt, daß auch alle dazu beitragen. Von dem Augenblick an, in dem man das persönliche Wohl in den Vordergrund stellt, zerstört man letztendlich die Gesellschaft, und genau das geschieht auf eine erschreckende Weise vor unseren Augen. Das, so meine ich, das ist neu. Begonnen hat es vor zwanzig Jahren. Wohl nicht vor vierzig Jahren. Ich meine, 1968 war der Anfang, aber diese Bewegung gegen die Natur war noch nicht wahrnehmbar. Das kam später, ich denke, so etwa vor dem Jahr 2000, in den achtziger und neunziger Jahren, zusammen mit dem, was man das „New Age“ nennt. In genau diesem Augenblick tauchen die neuen und zerstörerischen Vorstellungen auf.
Im Grunde ist es immer derselbe Kampf: eben der Kampf jener, die gegen Gott sind, jener, die jedes Gesetz ablehnen, das nicht einzig von den Menschen ausgeht – der „Gesellschaftsvertrag“ … Da muß man nicht lange nachdenken, um festzustellen, daß es überall Gesetze gibt. Nehmen wir einmal die Naturgesetze, da sind es auch nicht die Menschen, welche der Natur diese Gesetze gegeben haben. Das gleiche gilt für die menschliche Natur: es gibt Gesetze, die man befolgen muß, damit die menschliche Natur sich ganz normal entfalten und entwickeln kann. Es gibt da überhaupt keinen Zweifel: wenn man sie nicht respektieren will, dann gilt das, was für jedes Gesetz gilt, für jedes Handbuch, jede Gebrauchsanweisung – wenn Sie die Gebrauchsanweisung Ihrer Waschmaschine nicht beachten wollen, nun gut, dann machen Sie Ihre Maschine kaputt –, und hier zerstört man das Funktionieren des Menschen, und zwar sowohl des Individuums als auch der Person, der Gesellschaft.
Wir leben tatsächlich in einem recht besonderen Zeitalter, einem Zeitalter der Dissoziierung, der Auflösung. Es gibt so etwas wie die Auflösung der Gesellschaft, einen Verlust des Gemeinwohls, ein Aufgeben der Aussicht, daß es ein Ziel gibt – jede Gesellschaft verfolgt ein Ziel. Und auch die Vorstellung einer Autorität geht verloren, die Vorstellung, daß es notwendigerweise eine Autorität gibt, welche die verschiedenen Willensvorstellungen vereint, um dieses Ziel zu erreichen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit der Unterwerfung unter diese Autorität, und eben auch die Notwendigkeit, daß diese Autorität objektiv bleibt und jede Willkür vermeidet. Wenn man sieht, wie Regierungen sich heute verhalten, dann hat man den Eindruck, daß sehr, sehr viele grundlegende Werte zugunsten des Individuums vergessen sind, oder zugunsten dessen, der persönliche Macht erlangen oder erhalten will. Das findet man sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kirche. Denn auch in der Kirche – und das ist neu – sind wir Zeugen einer Periode der Auflösung der Kirche. Es gibt momentan einen absolut verblüffenden Verlust der kirchlichen Einheit.
Eine Unfruchtbarkeit, von der auch die Kirche selbst betroffen ist.
Frage: Sie sprechen davon, daß die Gesellschaft von Unfruchtbarkeit geprägt ist, und zwar in der vollen Bedeutung des Wortes: keine Kinder, keine Fruchtbarkeit; und das ist auch eine Art des Selbstmords. Und Sie gehen so weit, zu sagen, daß auch die Kirche betroffen ist? Riskiert auch die Kirche den Selbstmord durch Unfruchtbarkeit? Insbesondere, weil es keine Berufungen mehr gibt?
Weihbischof Bernard Fellay: Ja, ganz genau. Man sieht, daß die Übernahme der modernen Ideen, des modernen Geistes durch das Konzil – diese Ideen waren auch vorher schon zumindest latent vorhanden, und das Konzil hat sie mehr oder weniger integriert, und dann sind sie schließlich mit und dank dem Konzil in die Kirche eingedrungen – diese Vorstellungen der modernen Welt, diese modernen Vorstellungen haben dieselben Folgen. Es ist vielleicht weniger sichtbar, aber das Ergebnis ist da: leere Seminare, leere Kirchen, Konvente und religiöse Gemeinschaften vor dem Aussterben oder bereits ausgestorben, und vieles weitere mehr. Das ist eine ganz aktuelle Erscheinung, und sie verläuft parallel zur Entwicklung in der Gesellschaft. Es scheint so, daß die Kirche mehr oder minder scheu, manchmal aber auch kraftvoll die Angriffe auf das Naturrecht pariert. Es gibt also einen Kampf zwischen Kirche und Welt. Es gibt ihn noch, somit ist es nicht ganz das gleiche, aber es gibt da einen gewissen parallelen Verlauf. Und wir stehen nicht an, zu sagen, daß die Früchte, die schlechten Früchte letztlich aus eben diesem Geist kommen, welcher der Geist der Welt ist.
Es ist dies ein Geist der Unabhängigkeit von Gott, ein Geist, der sich vom Joch des Gesetzes Gottes freimachen will, von dem, was angeblich zu hart oder zu schwer ist. Man will diesen Opfergeist nicht mehr, das ist einer der neuen Töne der modernen Kirche. Man entfernt übrigens den Gekreuzigten von den Kreuzen, der Herr ist nicht mehr am Kreuz, man hat ihn abgenommen: man will diesen Schmerzensmann nicht mehr sehen. Man hat ihn gewissermaßen „auferstanden“, und dann: Alleluja! Aber die Welt, in der wir leben, die bleibt eine Welt des Leidens, und wie sehr brauchen wir jenes Wissen, daß Gott selbst unser Leiden geteilt hat, nicht nur, um unser Leiden zu erleichtern, sondern um uns zu erlösen, um diesem Leiden einen Wert für die Erlösung zu geben! Das alles hat man entfernt, und man hat es durch eine Art neuer Mystik ersetzt, durch die Mystik des „Ostergeheimnisses“, was in Wirklichkeit eine Mystifikation ist. Früher war es einfach, da gab es den Karfreitag, an dem der Herr für uns gestorben ist, zu unserem Heil gestorben ist, und dann ist er wieder auferstanden, weil er Gott ist. Er war wahrer Mensch, er ist gestorben. Er ist wahrer Gott, er kann nicht sterben, und er ist wieder auferstanden, weil er Gott ist. Und nun will man den Tod vergessen, man will diese Notwendigkeit vergessen, durch den Tod, durch das Leiden hindurchzugehen. Das wird vergessen.
Frage: Man will also direkt zum Ostersonntag, ohne den Weg über den Karfreitag zu gehen?
Weihbischof Bernard Fellay: Das Interessante ist, daß wir – der Heilsökonomie folgend, das heißt den Regeln, denen wir unterworfen sind – sterben müssen, um zum Heil zu gelangen, also zum ewigen Leben. Und genau das will man nicht mehr. Man will zum Leben eingehen, ohne sterben zu müssen.
Frage: „Wenn das Weizenkorn nicht stirbt“ – das soll also nicht mehr gelten?
Weihbischof Bernard Fellay: Genau das. Ganz genau. Das ist das Problem der modernen Kirche.
Frage: Und dann bleibt das Weizenkorn allein, es trägt keine Frucht. Es wird unfruchtbar.
Weihbischof Bernard Fellay: Genau. Sie bringen keine Früchte mehr, und sie sind unfruchtbar. Das ist alles. Sobald ein konservativer Bischof ein Seminar eröffnet, in das er ein wenig Ordnung hineinbringt, sobald er ein wenig Disziplin verlangt, dann füllt sich dieses Seminar. Die Bischöfe, die das begriffen haben, sind aber nur sehr wenige. Die anderen wollen nicht, sie wollen in ihrer Unfruchtbarkeit verharren. Und ich bin überzeugt, daß sie gar nicht wissen, warum das nicht funktioniert. Wir allerdings verstehen die Gründe dafür sehr wohl.
Frage: Wie Sie sagen, gibt es eine Ablehnung des Opfergedankens, man hat aber doch aus Anlaß der letzten Synode viel über die Familie gesprochen. Liegt die postsynodale Exhortation „Amoris laetitia“ auf derselben Linie: Ablehnung der Disziplin, der Autorität, der Lehre Christi und des Opfergedankens?
Weihbischof Bernard Fellay: Ich meine, das ist nicht grundsätzlich so. Was wir hier haben, das ist ein etwas spezielles Ereignis. Ich will versuchen, das zu erklären. In unserem augenblicklichen Papst Franziskus sehe ich jemanden mit einer Sorge um die Seelen, ganz besonders aber um jene Seelen, die zurückgewiesen werden, also um Seelen, die einsam und verlassen sind, die zur Seite geschoben und verachtet werden oder ganz einfach in Schwierigkeiten sind, also das, was er „Peripherien der Existenz“ nennt. Ist das nun das verlorene Schaf? Läßt Franziskus die Herde mit den 99 anderen Schafen beiseite und denkt, sie sei ja dort gut aufgehoben, wo sie ist, und nun müsse man sich um dieses verlorene Schaf kümmern? Vielleicht sind das seine Gedanken? Ich sage ganz bewußt „vielleicht“, ich gebe nicht vor, eine allgemeingültige Antwort zu haben. Sagen wir es so, daß in allem, was er gesagt hat, eine ganz umfassende Sorge mitschwingt, das heißt, daß er nicht nur auf den Glauben schaut: Da gibt es die Obdachlosen, die Migranten, die Gefängnisinsassen. Tatsächlich sind das Menschen, die von den anderen vernachlässigt, im Stich gelassen werden, aber das ist keine Sichtweise, für die der Glaube notwendig ist. Man braucht keinen Glauben, um festzustellen, daß diese Menschen Not leiden. Und dann gibt es auch die Geschiedenen. Auch diese Menschen leiden Not. Und es gibt uns, auch wir werden abgelehnt. Letztlich werden wir alle unter demselben Blickwinkel gesehen, nämlich aus dieser Perspektive, daß wir von der Gemeinschaft zurückgewiesen werden. Und um diese Seelen will er sich kümmern. Er will versuchen, etwas zu tun. Das Problem liegt darin, daß ein guter Teil dieser Seelen, die in Schwierigkeiten sind, eben deshalb in Schwierigkeiten sind, weil sie auf die eine oder andere Weise Probleme mit dem Gesetz bekommen haben.
Wir haben also einen Papst, der ein Problem mit dem Gesetz hat, welches einem Teil der Menschheit wehtut, sagen wir es einmal so, und er wird versuchen, zu sehen, ob es da nicht eine Möglichkeit gibt ... – nein, nicht das Gesetz zu kippen, ich glaube nicht, daß das seine Absicht ist –, sondern zu schauen, ob es für sie nicht trotzdem einen Weg gibt. Ich versuche, zu verstehen, was er tut, aber das ist nicht einfach.
Als die vier Kardinäle ihre Dubia zu „Amoris laetitia“ veröffentlichten, haben sie etwas für das öffentliche Wohl getan
Frage: Ja, das ist so schwierig, daß vier Kardinäle ihre Bedenken geäußert und gesagt haben, „Amoris laetitia“ verursache große doktrinale Probleme.
Weihbischof Bernard Fellay: Und sie haben recht. Schauen Sie doch, wie diese Exhortation abgefaßt ist – und genau das ist das heutige Unglück –: sie eröffnet Grauzonen! Der Papst sagt, es gebe nicht nur schwarz und weiß, es gebe auch grau, aber das Gesetz ist dazu da, die Dinge klar und eindeutig auszudrücken! Und notwendigerweise wird es zwischen schwarz und weiß unterscheiden, zwischen ja und nein. Sicher, man weiß, daß im täglichen Leben Sonderfälle vorkommen, jedenfalls wenn es sich um kirchliche Gesetze handelt – da muß man ganz genau das Gesetz des lieben Gottes vom Gesetz der Kirche unterscheiden, denn der liebe Gott hat alles vorgesehen, wenn er ein Gesetz aufstellt, dann kennt er alle Umstände, alle Situationen, in denen Menschen sich befinden können, und so gibt es bei diesem Gesetz keine Ausnahmen: es gibt keine Ausnahmen von Gottes Gesetz, von seinen Geboten. Im Bereich der menschlichen Gesetze hingegen, selbst bei den kirchlichen Gesetzen, anders gesagt bei den Gesetzen, die von der Kirche gemacht wurden, weiß die Kirche, weil ja der Mensch nicht Gottes Weisheit besitzt, daß es Umstände geben kann, in denen die Anwendung des Gesetzes den Seelen zum Schaden sein könnte, und das ist dann die Ausnahme: man kann sagen, das ist dann der Grauton in dieser schwarz-weißen Situation. Wenn es sich um kirchliche Gesetze handelt, ist die Kirche auf eine sehr weite Art – und es ist ganz wunderbar, wie weit das geht – bereit, Ausnahmen zu machen, und zwar ganz problemlos. Das Gesetz Gottes hingegen, das sei hier nochmals gesagt, kennt keine Ausnahmen.
Frage: Betrifft die Frage der Zulassung von „wiederverheirateten“ Geschiedenen zur Kommunion nun das Gesetz Gottes oder das Gesetz der Kirche?
Weihbischof Bernard Fellay: Eindeutig das Gesetz Gottes. Der Herr hat ausdrücklich über genau diesen Fall getrennter Eheleute gesprochen. Der hl. Paulus hat es klar gesagt – und wenn man „der hl. Paulus“ sagt, dann muß man aufpassen: er ist einer von denen, die Gottes Werkzeug sind, die das Wort Gottes weitergeben, es ist also nicht der hl. Paulus als Mensch, sondern es ist Gott, der durch den Mund des hl. Paulus spricht, es ist die Heilige Schrift. Es gibt keinen Zweifel, daß es Gott ist, der durch die Evangelien, durch die Briefe spricht. Gott spricht durch den hl. Paulus. Dieses Gesetz ist ganz klar und eindeutig, da gibt es keine Grauzone: Derjenige oder diejenige, der oder die sich von seinem Ehepartner oder von seiner Ehepartnerin trennt und der mit jemand anderem in ehelicher Weise zusammenlebt, begeht laut den Worten unseres Herrn Ehebruch (vgl. Mt 19,9). Das ist ein Vertrauensbruch, ein gebrochenes Versprechen, das man seinem Partner gegeben hat, man tut diesem Versprechen mit jemand anderem Gewalt an. Diese Sünde ist eine öffentliche Sünde, weil diese Ehe ja eine gesellschaftliche Angelegenheit ist. Selbst wenn es so ist, daß nicht viele Menschen betroffen sind, gehört es zum Bereich des Öffentlichen. Es ist also eine Sünde, die wegen des schlechten Beispiels um so schwerer wiegt, wegen des Ärgernisses, das den anderen gegeben wird. Deshalb hat der liebe Gott, deshalb hat aber auch die Kirche strenge Vorkehrungen getroffen: der öffentliche Sünder darf zum Beispiel nicht kirchlich beerdigt werden. Die Kirche ist da sehr streng. Das ist normal, denn es geht darum, die Seelen zu schützen, die sich richtig verhalten.
Tatsächlich ist unser heutiges Problem dieses, daß eine gewisse Anzahl von Bischöfen und Priestern schon seit Jahren, schon seit Jahrzehnten selbst solche falschen Verbindungen gesegnet haben. In Frankreich mußte sogar der Vatikan eingreifen, um solche Rituale zu unterbinden ... die trotzdem weiterhin durchgeführt werden. Das hat man mir in Rom gesagt. Und bis Rom eingreift, da muß etwas schon recht weit verbreitet sein. Es sind Priester, es sind Bischöfe, die Menschen gesegnet haben, welche in Sünde lebten, und dann sollte man ihnen die Kommunion verweigern ... Das hat doch keinen Sinn!
Es ist logisch, aber es ist eine Logik in der Sünde. Und das ist schwerwiegend. Das ist äußerst schwerwiegend.
Die beiden Texte selbst sind nicht ausdrücklich für diese Möglichkeit offen. Im Text von „Amoris laetitia“ wird nicht ausdrücklich gesagt: jetzt kann ihnen die Kommunion gereicht werden. Das geschieht viel geschickter. Man öffnet die Türen, ohne sie zu durchschreiten, das Durchschreiten überläßt man anderen. Das ist das Schlimme daran, also daß man dort, wo es eine eindeutige Unterscheidung zwischen schwarz und weiß gab, eine Grauzone öffnet, die es nicht gibt.
Hinterher wird man sagen: in dieser Grauzone überlassen wir jeden seinem Gewissen oder irgendwem sonst. Das ist falsch! Ganz einfach. Die vier Kardinäle, die eingeschritten sind, haben ein äußerst wichtiges Werk für das öffentliche Wohl getan, das kann man sagen. Schade, daß es nur so wenige sind, ich denke aber, daß sie eigentlich viel zahlreicher sind, aber die Mutigen drängen sich nicht gerade in die erste Reihe.
Das II. Vatikanum und „Amoris laetitia“ stellen uns vor dasselbe Problem
Frage: Kardinal Burke hat gesagt, man könne eine Art brüderlicher Zurechtweisung des Heiligen Vaters durch die vier Kardinäle vorsehen, Kardinal Müller jedoch, der Präfekt der Glaubenskongregation, hat kürzlich gesagt, daß der Glaube durch „Amoris laetitia“ nicht in Frage gestellt würde und daß man das nicht öffentlich verhandeln sollte. Was halten Sie davon?
Weihbischof Bernard Fellay: Das ist, so glaube ich, ein sehr gutes Bild für das Problem, das wir haben. Wir, die Bruderschaft, hinsichtlich unserer Einwände gegen das Konzil. Ich glaube, man stößt hier auf dasselbe Problem. Es gibt verschiedene Ebenen. Da gibt es die Ebene des Wettstreites der Ideen, und es gibt eine zweite Ebene, nämlich die Ebene derjenigen, welche diese Ideen weitertragen, die Personen also. Und es gibt eine Form des Austauschs zwischen diesen beiden Ebenen. Es gibt Leute, welche das Problem durchaus sehen, aber es nicht wagen, darüber zu reden, oder es nicht wagen, es anzugehen, und zwar aus mehreren Gründen. An dieser Stelle muß man die Dinge ein wenig differenzierter sehen: sie werden sich nicht trauen, es anzugehen, denn es gibt dieses berühmte Prinzip des Beistandes des Heiligen Geistes für das Haupt der Kirche. Der Heilige Geist regiert die Kirche durch ihr Haupt. Der Heilige Geist kann sich nicht irren, und also bezieht man die Irrtumslosigkeit des Heiligen Geistes auf den Statthalter Christi. Aus Mangel an Unterscheidung, an Tiefe, vielleicht aus Oberflächlichkeit oder weil es einfacher ist, sagt man dann: „Alles, was der Papst tut, ist richtig. Was er tut, kann nicht schlecht sein. Es muß gut sein. Was er sagt, kann nicht falsch sein, es muß wahr sein.“ Das sind die Antworten, die man uns mit Bezug auf das Konzil gegeben hat. Heute noch werfen gewisse Leute uns das vor, sie sagen, man könne nicht gegen das Konzil sein, das sei nicht möglich, es sei ein Konzil der Kirche, es gab dort den Heiligen Geist, es ist gut, und Punkt und Schluß! Und wir sagen, daß es trotzdem Probleme gibt. Und man antwortet uns: „Ja, tatsächlich, gewisse Leute haben das Konzil auf irrige Weise interpretiert. Aber das ist nicht das Konzil!“ Darauf geben wir zurück: „Sicher. Aber sie haben es so verstanden, sie haben sich auf die Texte gestützt, und diese Texte waren mehrdeutig!“
Unsere römischen Gesprächspartner haben es sogar zugegeben: „Ja, das stimmt, gewisse Texte sind mehrdeutig.“ Selbst Benedikt XVI. hat in seiner berühmten Ansprache an die römische Kurie vor Weihnachten 2005 anerkannt: „Man hat mehrdeutige Texte verfaßt, um eine breite Mehrheit zu erreichen, einen großen Konsens“. Nun wird man uns aber sagen, daß ein Katholik kein Recht hat, diese Texte anders zu lesen als auf katholische Weise. Er muß also selbst alle Interpretationsmöglichkeiten ausschließen, die dem entgegenstehen, was die Kirche bereits gelehrt hat, die also im Widerspruch zum Glauben stehen. In der Theorie stimmt das, es stimmt ganz und gar, und wir sagen das auch. Genau das ist das Kriterium, das Erzbischof Lefebvre uns hinsichtlich des Konzils gegeben hat: wir akzeptieren alles, was am Konzil der Tradition treu ist. Was aber zweifelhaft, mehrdeutig ist, das nehmen wir in dem Maße an, wie man es in dem Sinne verstehen kann, den die Kirche immer gelehrt hat. Weiter sagte der Erzbischof: es gibt trotzdem eine dritte Kategorie von Dokumenten, die nicht nur mehrdeutig sind, sondern ganz einfach falsch. Und da diese Kategorie von Texten dem widerspricht, was die Kirche immer gelehrt hat – und dabei geht es nicht um unser unbedeutendes persönliches Urteil, wir sind ja keine Protestanten; die Kirche hat darüber verlautet und sogar eine gewisse Anzahl Irrtümer verurteilt –, deshalb werden wir diese Kategorie von Texten weiterhin verurteilen, weil die Kirche das ja bereits getan hat.
Das ist unsere Position. Wir sagen: „Die einzig katholische Art, die Texte des Konzils zu lesen, ist in der Theorie eben die, sie im Licht der Tradition zu lesen, ja, genau, das ist es“. Aber das Problem ist folgendes: Wenn man diesen Grundsatz einmal aufgestellt hat, dann antwortet man uns: „So ist es, und also liest sie jeder auf katholische Weise“. Aber wir reagieren dann: „Öffnen Sie doch die Augen! Schauen Sie, was um Sie herum los ist! In Wirklichkeit ist es doch nicht so. In der Theorie sollte es so sein, aber tatsächlich gibt es da ein Riesenproblem. Die Wirklichkeit ist nicht so“. Das sieht man sehr gut am Beispiel von „Amoris laetitia“. Da gibt es Kardinal Müller, der sagt: „Dieser Text steht mit dem Glauben nicht im Widerspruch“. Das soll heißen: man kann ihn auf katholische Weise lesen. Man kann ihn nicht nur, sondern man muß ihn auf katholische Weise lesen. Wer ihn nicht auf katholische Weise liest, der befindet sich im Irrtum. So klar sagt er das nicht, denn wenn er es so sagen würde, dann hätte er seinen Chef im Blick. Da wird etwas ganz Wichtiges nicht ausgesprochen ... Und die vier Kardinäle, die ihrerseits völlig zu Recht auf diese offene Wunde in der Lehre hingewiesen haben, die bis dahin eindeutig war, tatsächlich, sehr eindeutig und klar. Denn man hat hier eine Öffnung mit Blick auf die wiederverheirateten Geschiedenen geschaffen, dazu hatte man kein Recht. Ganz einfach. Auch, wenn Kardinal Müller sagt: „Wir haben die Tür nicht durchschritten, wir haben das Gesetz Gottes nicht verlassen“... Offiziell stimmt das, abgesehen davon, daß eine gewisse Anzahl von Bischofskonferenzen den Ausgang schon angezeigt haben.
Frage: Und das in einem laxistischen Sinne?
Weihbischof Bernard Fellay: Natürlich. Und andere, glücklicherweise, zum Beispiel die polnischen Bischöfe, im katholischen Sinne. Und was geschieht nun? Und das ist die aktuelle, die wirkliche Lage. Glaube und Moral stehen für einen Katholiken auf derselben Ebene. Es gibt bei diesen Fragen eine Unfehlbarkeit der Kirche und des Papstes, wenn er sie denn in Anspruch nehmen will. So hat die Kirche immer gelehrt: man kann niemandem die Kommunion reichen, der im Stande der Sünde ist. Das ist ganz einfach. Daraus folgt ganz klar, daß man jemandem, der im Konkubinat lebt, in einem eheähnlichen Verhältnis, also zwangsläufig im Stande der Sünde, die Kommunion nicht reichen darf.
Die einzige Grauzone, die in Wirklichkeit gar nicht grau ist, wäre: wenn diese Menschen nicht mehr ehelich zusammenleben, also wenn sie wie Geschwister zusammenleben – und heute kann es sehr komplizierte Situationen geben mit all den neu zusammengesetzten Familien, den Kindern beider Partner usw. – um des Wohles z. B. der Kinder willen, dann kann man möglicherweise gezwungen sein, das Zusammenleben zweier Menschen unter einem Dach zu tolerieren. Diese wird man allerdings ermahnen: „Wenn ihr in den Himmel kommen wollt, dann gibt es nur ein Mittel, und das ist das Vermeiden der Sünde. Ihr müßt wie Bruder und Schwester zusammenleben“. Also: kein gemeinsames Bett, kein gemeinsames Schlafzimmer, das wird kompliziert, schwierig, aber in diesem Fall meidet ihr die Sünde. Und dann kann man euch diskret und nicht öffentlich die Kommunion reichen. Es muß aber sichergestellt sein, daß es ein geschwisterliches Zusammenleben ist, und da muß man ehrlich sein. Schließlich geht es um den lieben Gott, und der liebe Gott sieht alles. Menschen kann man täuschen, den lieben Gott nicht. Wenn man die Kommunion empfängt, dann bedeutet das, daß man mit Gott vereint und mit ihm in Frieden ist. Man muß gebeichtet haben, bevor man den Herrn empfangen kann. Nun – wenn man mit dem lieben Gott im reinen ist, dann kann man die Kommunion empfangen. Aber wie viele von diesen Leuten, welche im Stand der sogenannten wiederverheirateten Geschiedenen leben, wie viele von denen leben wie Bruder und Schwester? Es gibt welche, aber es das sind sicher nicht viele.
Wenn man nun anfängt, Gesetze für Fälle dieser Art zu machen und diese zu einer allgemeinen Norm zu machen, dann wirft man die Dinge durcheinander. Das ist so, wie wenn im Straßenverkehr nicht die Fahrzeuge zählen würden, die korrekt fahren, sondern diejenigen, die Unfälle haben. Nein, Gesetze werden gemacht, damit die Autos korrekt fahren, und nicht, damit sie zusammenstoßen. Alle Gesetze werden dazu gemacht, daß man nicht zusammenstößt. Und hier wird nun ein Gesetz gemacht, um sich um die zu kümmern, die zusammenstoßen. Das ist eine Verdrehung der Dinge, damit macht man aus dem Sonderfall einen allgemeingültigen Fall. Das ist eine Verdrehung, und im Kampf der Ideen ist das äußerst schwerwiegend.
Sind doktrinale Gespräche mit Rom heutzutage überhaupt noch nützlich?
Frage: Zu Beginn sagten Sie, daß der Kampf der Ideen immer derselbe ist, und zum Abschluß Ihres Treffens mit Papst Franziskus im vergangenen Jahr haben Sie erklärt, daß die doktrinalen Gespräche fortgesetzt würden, daß Bischöfe unsere Seminare visitieren und über Fragen wie die Religionsfreiheit, den Ökumenismus, die neue Messe diskutieren würden. Gehen diese Gespräche wirklich weiter? Und, im Lichte alles dessen, was Sie uns soeben gesagt haben, meinen Sie, daß diese Gespräche zu etwas dienlich sind?
Weihbischof Bernard Fellay: Zur ersten Frage, ob es weitergehe: die Antwort ist: ja, es geht weiter. Es gab eine Unterbrechung, das war aber in der Ordnung der Dinge, und diese Gespräche werden wiederaufgenommen und fortgesetzt. Das Interessante daran ist, daß wir beide, Rom und wir, das so wollen. Wir wollen diese Gespräche. Vielleicht haben wir nicht exakt dasselbe Ziel, aber ich denke, daß wir uns am Ende trotzdem zusammenfinden. Warum? Weil das für uns sehr wichtig ist, und das haben wir von Anfang an zu verstehen gegeben, indem wir gesagt haben, daß wir Probleme mit gewissen Aussagen des Konzils haben, nicht persönlich, sondern weil diese Aussagen im Widerspruch stehen zu dem, was die Kirche gesagt und getan hat, zur Lehre und zur Praxis der Kirche. Darin liegt unser Problem. Wenn man einerseits darauf besteht, daß die Kirche unfehlbar ist, dann muß man sich mit diesem Problem auseinandersetzen. Wenn sie unfehlbar ist, wieso könnte sie sich dann plötzlich widersprechen? Es gibt also schwerwiegende Probleme, die nicht einfach so im Namen der Autorität gelöst werden können. Man kann sich nicht einfach damit zufriedengeben, daß die Autorität gesprochen hat, und also: Amen. „Roma locuta causa finita“. Nein ... Natürlich kann diese Autorität, und das erkennen wir an, im Besitz der Unfehlbarkeit sein, welche ein ganz außerordentliches Privileg des lieben Gottes ist, aber es gibt da eine Bedingung! Und diese Bedingung ist die Bindung der Autorität an ein Glaubensgut, an eine Gesamtheit von Wahrheiten, die ihr vom lieben Gott anvertraut worden ist. Und diese Autorität hat die Aufgabe, sie weiterzugeben. Bewahren und weitergeben. Dieses Glaubensgut rein bewahren und getreu weitergeben. Es gibt also etwas absolut Objektives, das diese Autorität übersteigt und sie dominiert. Sie kann nicht willkürlich entscheiden, was ihr an diesem Glaubensgut gefällt oder mißfällt. Nein, das geht nicht! Das ist das große Problem, das wir in Rom bezüglich dieser Fragen zum Konzil vorbringen.
Frage: Aus dem, was Sie gesagt haben, ersieht man Ihre grundsätzliche Opposition gegen „Amoris laetitia“, welche Unruhe in das hineinträgt, was zuvor klar und eindeutig war. Haben die doktrinalen Gespräche in diesem Zusammenhang irgendeinen Nutzen?
Weihbischof Bernard Fellay: Ja, den haben sie. Vielleicht nicht sofort. Auf lange Sicht hingegen sind es aber doch die Ideen, welche die Menschen leiten und führen. Im Leben der Menschen hat ein Irrtum tragische Folgen, vor allem ein Irrtum in der Lehre. Bei einem moralischen Irrtum sieht man die Folgen sofort. Einen rein lehrmäßigen Irrtum ersieht man an den Folgen. Wenn jemand die Dreifaltigkeit leugnet, dann sieht man nicht sofort die praktischen Konsequenzen, in welchem praktischen Bereich daraus ein moralischer Fehler erwächst, aber er wird kommen. Es ist schon beeindruckend, zu sehen, wie alles zusammenhängt. Der Glaube ist wie ein Pullover, alle Maschen müssen zusammenhängen. Wenn man eine Masche löst, dann fällt das ganze Gewebe auseinander, und am Ende bleibt nichts übrig. In der augenblicklichen Verwirrung diese großen Prinzipien aufrechtzuerhalten, an sie zu erinnern, ganz einfach zu erinnern, das ist schon eine wichtige Angelegenheit. Den unmittelbaren Effekt sieht man nicht sofort. Aber auf lange Sicht wird sich das festigen, es wird sich durchsetzen. Das setzt aber voraus, daß man im Kampf nicht nachläßt.
In diesem Sinne meine ich, daß es höchst wichtig ist, daß Rom mit Gesprächen einverstanden ist. Sie sind nicht nur einverstanden, sondern sie sagen uns: wir müssen reden. Und auch da gibt es etwas Neues seit nunmehr anderthalb, zwei Jahren. Es verfestigt sich eine Situation: In diesen Gesprächen versucht Rom nicht oder nicht mehr, uns diese moderne Richtung über den Ökumenismus, die Religionsfreiheit, „Nostra aetate“ und sogar die Liturgiereform aufzuzwingen. Diese vier Punkte waren für uns immer die großen Streitpunkte, seit 40 bis 50 Jahren, seit dem Beginn. Und nun, auf einmal sagt man uns: „Ja, darüber müssen wir wirklich diskutieren“. Einerseits erkennt man an, daß es Irrtümer gegeben hat, Mißbräuche, Exzesse, man geht nicht so weit, uns zu sagen, daß der Konzilstext falsch ist, aber man erkennt an, daß da etwas falsch ist. Man erkennt an, daß es Mehrdeutigkeiten gibt, die aus dem Weg geräumt werden müssen. Und Rom sagt uns ausdrücklich: „Diese Diskussionen werden uns dabei hilfreich sein“. Wir sind ein wenig so etwas wie ein Katalysator, der versucht, dieses Gebräu aus eigenartigen, seltsamen, falschen, durcheinandergehenden und wirren Gedanken zu reinigen. Und das ist schon sehr gut so.
Es gibt da aber noch etwas anderes, das mich sehr erstaunt und das mich zugleich sehr glücklich macht, und ich sähe gerne – ich hoffe, daß sich das eines Tages offen zeigen wird –, ja, ich sähe gerne, daß das, was ich Ihnen jetzt sagen möchte, wirklich nicht nur das Denken zweier oder dreier Personen wäre, sondern etwas, das genau die Linie der Kirche ist. Ein kleiner Satz faßt diese Neuigkeit zusammen, ein kurzer Satz von Mgr. Pozzo, dem Sekretär der Kommission Ecclesia Dei, der unser Gesprächspartner in Rom ist und der uns sagt, daß diese Fragen wie der Ökumenismus, die Religionsfreiheit, sogar die Liturgiereform und „Nostra Aetate“ keine „Kriterien für die Katholizität“ sind. Was nun bedeutet das, „Kriterien für Katholizität“? Das sind Elemente, denen man unbedingt zustimmen muß, um katholisch zu sein. Anders gesagt, wenn dies keine Kriterien für die Katholizität sind, dann hat man das Recht, etwas anderes zu denken und zu sagen, ohne daß man dadurch nicht mehr katholisch ist. Und das hat Mgr. Pozzo öffentlich gesagt. Das ist sehr wichtig.
Meiner Meinung nach wird es nun für einige Zeit eine Debatte um uns geben. Wird sie öffentlich sein oder eher hinter den Kulissen stattfinden? Sie ist aber bereits da. Eine Debatte mit den Super-Progressisten, mit jenen, denen Papst Benedikt XVI. vorwarf, das II. Vatikanum zum „Super-Dogma“ erheben zu wollen, und die tatsächlich der Kirche aufdrücken wollen, daß diese Punkte absolut verpflichtend seien. Das ist wirklich die Kirche von heute, das ist ihre Grundlage für die Kirche von heute. Und auf einmal sagt man: „Aber nein, dem muß man nicht zustimmen, um katholisch zu sein“. Das ist natürlich höchst bedeutungsvoll, das ist ein großer Kampf. Wenn man diesen Kampf der Ideen betrachtet, dann kommt man an dieser Stelle zu etwas sehr Bedeutendem. Und da haben Sie nun Stimmen, die man langsam immer häufiger vernehmen kann und die sagen, daß man die Bruderschaft mit solchen Kriterien nicht durchkommen lassen kann, das sei nicht zuzulassen. Wir werden sehen.
Das Problem ist nicht die kanonische Struktur, sondern die reale Freiheit, „das Experiment der Tradition zu machen“.
Frage: Apropos „die Bruderschaft durchkommen lassen“ ... Es gibt einen kirchenrechtlichen Vorschlag von Rom, es wurde von einer Personalprälatur gesprochen, und kürzlich hat Bischof Schneider erklärt, er habe Sie aufgefordert, diesen kirchenrechtlichen Vorschlag recht schnell anzunehmen, auch wenn dieser nicht perfekt sei. Haben Sie eine solche Aufforderung erhalten? Und wenn ja: wäre dann die lehrmäßige Einigung auf eine niedrigere Ebene verschoben? Wie steht die Bruderschaft genau zu diesem Punkt?
Weihbischof Bernard Fellay: Bischof Schneider hat mir geschrieben, das ist allerdings bereits etwa ein Jahr her. Ich habe also nichts Aktuelleres von ihm. Jedenfalls habe ich es nicht bekommen. Das Problem ist aber nicht die kanonische Struktur. Diese Struktur ist, wie ich meine, recht gut eingerichtet. Es gibt da noch Punkte, die, sagen wir, im Detail vervollkommnet werden sollten. Die Idee als solche ist passend und angemessen: sie entspricht unseren Bedürfnissen. So gesehen bin ich zufrieden. Nochmals: es gibt Punkte, die zu verbessern sind, Punkte, die diskutiert werden. Das Problem liegt nicht in dieser Struktur, die uns angeboten wird. Wenn es nur diese Frage gäbe, würden wir sofort „ja“ sagen. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist der Kampf der Ideen. Eine Kirche, die seit 40 Jahren eine Ausrichtung durchsetzt, die eben diese moderne Ausrichtung ist, eine Ausrichtung, gegen die wir kämpfen, wegen der wir zu Schismatikern erklärt wurden, für außerhalb der Kirche stehend und was alles noch – ist diese Kirche bereit, uns unseren Weg gehen zu lassen, ja oder nein? Erzbischof Lefebvre sprach davon, uns „das Experiment der Tradition machen zu lassen“. Wird man uns machen lassen, ja oder nein, oder wird man es uns bei nächster Gelegenheit heimzahlen und morgen von uns verlangen, daß wir uns an das anpassen, wogegen wir seit 40 Jahren kämpfen, und das aufzugeben, was aufzugeben wir nicht bereit sind? Daran liegt alles, daran liegt wirklich alles.
Mit all diesen neuen Öffnungen, bei denen man sagt, dieses seien keine Kriterien für die Katholizität, scheint sich ein Weg zu zeigen. Ist es nur eine Tür, oder ist es ein wirklicher Weg? Ist es ein sicherer Weg? Wird man wirklich so weitermachen können, wie man es bisher getan hat. Und für uns ist es offensichtlich, daß das nicht das Ende allen Kampfes sein wird: Irrtum bleibt Irrtum. Heute wie gestern bleiben wir also gleichermaßen überzeugt, daß es Irrtümer gibt, die in der Kirche verbreitet worden sind und die dabei sind, die Kirche sterben zu lassen. Natürlich verstehen wir, daß es eine Zeit der Reinigung braucht, um die Irrtümer zu beseitigen. Das verstehen wir. Man kann den Menschen nicht so einfach ändern. Viele schlechte Gewohnheiten sind angenommen worden. Selbst die Rückkehr zu einer heiligen Liturgie, zu der heiligen Liturgie, lässt sich, das verstehen wir, nicht in einer Woche bewerkstelligen.
Aber ist denn der Wille vorhanden, aus dieser Ausrichtung auszuscheren, die auf dem Konzil eingeführt wurde? Und da stellt man fest, daß die autorisierten, die führenden Stimmen uns sagen: „Nein, wir machen weiter“. Und wir bleiben dann Gesetzlose? Tolerierte Gesetzlose? Man kann sagen, mit Papst Franziskus auf eine absolut erstaunliche Art mehr als toleriert. Trotzdem aber am Rand. Bleiben wir also dort, geht das noch weiter, oder will man uns morgen in jener großen Bewegung aufgehen lassen, an der die Kirche stirbt? Das ist die Frage. Und solange das nicht ausreichend geregelt ist, können wir keine weiteren Schritte machen.
„Es sind viele Bischöfe, die so denken wie wir“
Frage: Zu Beginn unseres Gesprächs sagten Sie, die Dinge hätten sich unmerklich ein wenig geändert. Zu diesen Änderungen könnte man die Haltung Kardinal Burkes zählen, die Haltung Bischof Schneiders oder die der polnischen Bischöfe, die gegen eine laxistische Auslegung von „Amoris laetitia“ kämpfen. Haben Sie persönlichen Kontakt zu Bischöfen, die Ihnen sagen: „Obwohl Sie ‚Gesetzlose‘ sind, ‚am Rande stehen‘, erfüllen Sie in unseren Augen eine wichtige Aufgabe, denn auch wir wollen nicht mehr zum Selbstmord der Kirche beitragen“? Ist das Traum oder Wirklichkeit?
Weihbischof Bernard Fellay: Doch, wir haben Kontakte. Und es werden sogar immer mehr. Natürlich sind es nicht massenweise Kontakte. Aber es gibt sie. Und das ist ein ganz wichtiges Element in diesem Kampf, es kann aber sein, daß die Wahrnehmung dieser Tatsache in der Tradition nicht ganz ausreicht, weil sie eben sehr diskret ist. Die Leute sehen, daß die Dinge schlecht laufen, und das ist es dann schon fast. Sie haben große Mühe, etwas anderes wahrzunehmen, das es wirklich gibt und das sich in meinen Augen jeden Tag mehr verfestigt, und das ist – bei mehr oder weniger vielen – ein Wille zur Erneuerung, und zwar ein Wille zur Rückkehr zur Tradition. Und deshalb protestiert auch eine gewisse Zahl von Klerikern, nicht so laut wie wir, nicht so öffentlich wie wir, aber ebenso stark wie wir, was das Denken anbetrifft, protestiert gegen die Neuerungen. Das gibt es.
Vor ganz kurzer Zeit habe ich einen Bischof getroffen, der ganz von allein, denn er hatte nie die alte Messe gelesen – er hat sie anläßlich des Motuproprio Papst Benedikts XVI. entdeckt, er hat sich dafür interessiert, er hat sie studiert – ganz von selbst sagte er mir, daß man mit der neuen Messe „an die Substanz des Ritus“ gerührt habe. Er ist also ganz von allein zu diesem Schluß gekommen, der doch unser ganz großer Einwand gegen die neue Messe ist. Nun denn! Da ist ein Bischof, der zu diesem Schluß gelangt, ganz einfach ein ehrlicher Bischof. Natürlich zieht er die Konsequenzen für sich und für seine Diözese daraus, und er ist nicht der einzige. Da bekomme ich einen Brief von einem anderen Bischof, der mir sagt: „Halten Sie durch!“ In allen Punkten: Religionsfreiheit, Ökumenismus, „Nostra aetate“, die Beziehungen zu den anderen Religionen ... Wenn Sie „Nostra aetate“ sagen, dann sind das nicht nur die Juden, das sind die Moslems, die Buddhisten, die Hindus ... also alle nichtchristlichen Religionen. Das geht alles viel weiter. Und dieser Bischof fügt hinzu: „Wir sind zahlreich in der Hierarchie, wir sind viele Bischöfe, die so denken wie Sie.“ Natürlich sagen sie das nicht öffentlich, sie würde ja ihren Kopf riskieren. Aber sie denken nach, sie sehen die Situation. Und diese Leute zählen auf uns, sie zählen auf uns als – das ist ein moderner Ausdruck, aber wir wollen versuchen, ihn korrekt zu gebrauchen – als ein Zeugnis, als Leute, die Flagge zeigen. Um einen vielleicht etwas traditionelleren Ausdruck zu gebrauchen, als einen Leuchtturm, auch wenn wir uns da nicht überbewerten wollen. Sie erwarten von uns, daß wir ganz einfach jenes Licht darstellen, welches das Licht der Kirche war. Bei uns leuchtet dieses Licht weiterhin, sie zählen darauf. Sie sagen: „Man schlägt auf euch ein, aber wir sind mit euch. Wir stützen euch.“
Frage: Sind unter den Bischöfen, die Ihnen sagen: „Geben Sie beim Ökumenismus, bei der Liturgie und der Religionsfreiheit nicht nach“, auch französische Bischöfe?
Weihbischof Bernard Fellay: Die gibt es, selbst wenn sie nicht so klar und eindeutig sind. Aber doch, es gibt sie! Es ist interessant, das zu sehen. Auch das ist ein universales Phänomen, das es in allen Ländern gibt, natürlich in unterschiedlichem Maß. Es gibt einen bestimmten, nicht sehr großen Anteil von Bischöfen, die heute über eine ganze Menge Dinge neu nachdenken. Selbst wenn sie noch in einem System stecken, das sie festhält, das eine Reaktion erschwert, weil dann sofort explosive Lagen entstehen, die schwer zu kontrollieren sind. Wie man richtig reagieren soll, wie man eine Situation wiederherstellen soll, das stellt einen vor viele Probleme. Ganz offensichtlich muß das in einem bestimmten Moment vom Kopf ausgehen. Und wenn der Kopf sich nicht daranmacht, wenn er es nicht tut, dann wird jede Reaktion eine Konfliktursache sein. Wir kennen das seit 50 Jahren, aber zum gegebenen Zeitpunkt wird der liebe Gott es so richten, daß die höchste Autorität sich an die Spitze dieser Bewegung stellt. Bis dahin müssen wir durchhalten. Das ist ganz sicher eine Frage der Klugheit, so, daß unsere Position so viel Frucht wie möglich bringt. Und das bedeutet nicht notwendigerweise, so viel Lärm wie möglich zu machen. Auch das muß man begreifen, und das ist sehr wichtig.
Den Triumph des Unbefleckten Herzens durch unsere Gebete und unsere Buße beschleunigen
Frage: Sie sagen, daß man durchhalten muß, und Sie haben die Priester und die Gläubigen gebeten, sich in diesem Jahr 2017 wahrhaft der Mutter Gottes zu überantworten. Anläßlich des hundertsten Jahrestages der Erscheinungen von Fatima haben Sie einen Rosenkranzkreuzzug ins Leben gerufen. Ist diese Bitte um noch inbrünstigere Gebete ein Teil des Kampfes, den Sie uns in großen Zügen in diesem Gespräch geschildert haben?
Weihbischof Bernard Fellay: Ganz sicher ist das ein Teil dieses Kampfes. Und das schließt eine Tatsache ein, die man niemals vergessen darf, daß nämlich die Kirche nicht menschlich ist. Sie hat einen menschlichen Anteil, denn sie besteht ja aus Menschen, aber im Wesentlichen, von ihrem Wesen her, von ihrer Natur her ist sie übernatürlich. Sie hat Elemente, ja sogar grundlegende Elemente, die über die Menschen hinausgehen, über die Fähigkeiten des Menschen, die Vorstellungen und Überlegungen des Menschen und die Möglichkeiten des Menschen hinausgehen. Für das Wohl der Kirche und für unser Wohl als Glieder der Kirche: wenn wir das Wohl der Kirche wollen, müssen wir uns notwendigerweise dieser übernatürlichen Mittel bedienen. Das ist das einzige Mittel, diesen Kampf auf die richtige Weise zu führen. Und es ist unbedingt nötig, in diesem Kampf den lieben Gott selbst und seine Heiligen anzurufen. Die Heilige Jungfrau Maria hat so sehr und, wie ich meine, so eindeutig gezeigt, daß dieses nach dem ausdrücklichen Willen Gottes ihr Zeitalter ist. Zu ihr müssen wir unsere Zuflucht nehmen, auf sie müssen wir hören und das in die Praxis umsetzen, was sie uns sagt. Sie sagt uns: „Betet und tut Buße, betet täglich den Rosenkranz“. Das ist heute aktueller denn je. Meiner Ansicht nach trifft Fatima heute ein. Es gibt Dinge, die man uns nicht gesagt hat, aber am Ende werden wir den Triumph Marias sehen. Gott weiß, wie. Den Triumph des unbefleckten Herzens Marias, durch einen päpstlichen Akt, einen Akt der Autorität. Wir wissen nicht, wie das geschehen wird, aber das ist nicht unser Problem. An uns ist es, diesen Triumph zu erbeten, ihn zu erflehen beim lieben Gott, ja, das genau ist unsere Sache!
Um dieser Unterhaltung den ihr eigenen Charakter zu bewahren, wurde der Stil der gesprochenen Sprache beibehalten.
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